Das Ammerländer Gespräch sollte einer Klärung der eigenen Stellung im Grundsätzlichen dienen. Sie fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. In seinem Vortrag über »Die politische Rechte in der industriellen Gesellschaft« sagte Mohler: »Für mich gibt es durchaus noch die Scheidung in ›rechts‹ und ›links‹. Daß es eine solche Scheidung nicht mehr gebe, ist eine optische Täuschung bei Leuten, welche die mit diesen Wörtern bezeichneten Grundhaltungen mit deren vorübergehenden sozialen oder ideologischen Fixierungen verwechseln. Statt ›rechts‹ könnte man auch ›konservativ‹ sagen. Dieses Wort ist aber wohl auf lange hinaus nicht mehr verwendungsfähig. Das zeigt sich an zweierlei. Erstens weckt es keinen Haß mehr. Zweitens ist es von der Linken mit Erfolg zur Etikette jener Mehrheit verfälscht worden, die allein von der Schwerkraft bestimmt wird. Die Rechte und die Linke sind aktive Minderheiten.« Die Linke sei fixiert auf das »Abstraktum«, die Rechte auf die Wirklichkeit, wissend, daß die sich ändert, aber »daß die Wirklichkeit – im Menschen wie außerhalb des Menschen – unveränderlichen Grundgesetzen unterworfen ist«. Dazu gehörte nach Mohler das Vorhandensein eines Ordnungssystems und die Zurückweisung jener liberalen oder linken Illusionen, die an die Verheißungen der natürlichen Güte und Gleichheit des Menschen Glauben machten. Gerade in der technischen Gesellschaft seien Hierarchie, Institution und Elite unverzichtbar.
Mit solchen Vorstellungen stand Mohler jenen Etatisten nahe, die sich am Ende der Ära Adenauer neu zu sammeln begannen. Es handelte sich vor allem um Universitätslehrer wie Arnold Gehlen und seinen Schüler Hanno Kesting, und dann um Carl Schmitt und dessen Anhänger, die sich gerade in der Zeitschrift Der Staat ein renommiertes Organ geschaffen hatten, und mit Ernst Forsthoff oder Werner Weber über einflußreiche akademische Sprecher, mit Roman Schnur oder Helmut Quaritsch über Begabungen im Nachwuchs verfügten. Allerdings war man hier an praktisch-politischer Wirksamkeit weniger interessiert und auch nicht an der Frage, wie unter den Bedingungen der Bundesrepublik eine Umsetzung der eigenen Ideen zu denken sei. Auf diese Frage konzentrierte sich die Aufmerksamkeit Mohlers und Schrenck-Notzings. Von letzterem stammt die Feststellung, daß man dem wachsenden Einfluß der Linken entgegentreten und den Kulturkampf aufnehmen müsse: Der »Prozeß der zunehmenden Manipulierbarkeit der politischen Sphäre ist irreversibel«. Man könne darüber klagen und von einer organischen Gesellschaft träumen, aber das führe zu nichts, die Konservativen müßten ihrerseits lernen, das »psycho-technische Schaltbrett« zu bedienen.
Schrenck-Notzing und Mohler sahen im Gaullismus ein denkbares Modell, um diese Aufgabe zu bewältigen. Man muß sich allerdings darüber klar sein, daß ein »deutscher Gaullismus« nicht einfach als Kopie des französischen gedacht war – schon deshalb nicht, weil Mohler, der damals als einer der führenden Frankreichexperten galt, eine durchaus kritische Haltung zur Person des General-Präsidenten einnahm. Die hatte auch mit dessen Politik bei Kriegsende zu tun, der Deckung, die er den Kommunisten und den Massakern der épuration geboten hatte, seiner verfehlten Wirtschaftspolitik; kaum eine Rolle spielte dagegen die Doppelzüngigkeit im Fall der Algerien-Franzosen, aber die Verfassung der Fünften Republik erschien Mohler in fataler Weise zugeschnitten auf die Person des ersten Mannes, nur an einem technokratischen Staatsverständnis ausgerichtet, ohne Rücksicht auf die Kollektivseele der Nation. Wie die anzusprechen und anzuregen sei, interessierte Mohler außerordentlich, und bei seiner Rückkehr aus Paris, im Sommer 1960, war für ihn noch nicht abgemacht, daß de Gaulle es tatsächlich verstehen würde, die Franzosen aus ihrer Lethargie und Nostalgie zu reißen und jenes »nationaljakobinische« Erbe wiederzubeleben, das Frankreich in den Krisen des 19. und 20. Jahrhunderts gerettet hatte.
Jedenfalls blieb ein Ungenügen grundsätzlicher Art. Ein Ungenügen, das auch erklärt, warum Mohler dem zeitgleich entwickelten Projekt einer »Formierten Gesellschaft« so skeptisch gegenüberstand. Er glaubte eben nicht, daß es möglich sei, eine Retortenidee, auch wenn sie von spin doctors aus den Reihen der »Schmittisten« erdacht war und unter dem Schutz eines Wirtschaftsfachmanns – Ludwig Erhard – stand, als politische Leitlinie durchzusetzen und in den Massen zu verankern. Es mag diese Feststellung überraschen, aber Mohler teilte mit Schrenck-Notzing im Kern den demokratischen Vorbehalt gegenüber einer Elitenherrschaft. Die Entwicklung der beiden Nachkriegsjahrzehnte hatte ihrer Meinung nach deutlich werden lassen, wie wenig Vertrauen man in die bessere Einsicht der tonangebenden Kreise setzen durfte, und die Entwicklungen, die sich seit dem Mauerbau und dem Aufstieg der »Neuen Linken« anbahnten, ließen Übles ahnen, während der »einfache Mann« mindestens gesunde Skepsis gegenüber vollmundigen Versprechungen und utopischen Entwürfen an den Tag legte. Dementsprechend hielt Schrenck-Notzing 1965 fest: »In einem Briefe bemerkt der amerikanische Präsident Jefferson (1743–1826) einmal, daß die Menschen von Natur aus in zwei Parteien zerfielen, in 1. diejenige, die dem Volke mißtraue und es fürchte, die alle Gewalt aus seinen Händen nehmen und sie den höheren Klassen anvertrauen wolle; und in 2. diejenige, die sich mit dem Volke identifiziere, die in das Volk Vertrauen setze und es als den redlichsten und sichersten, wenn auch nicht gerade klügsten Verwalter des Gemeinwohls betrachte. Bis vor wenigen Jahren noch griff man im allgemeinen nicht fehl, wenn man die erstere Partei als die konservative, die letztere (je nach dem lokalen Sprachgebrauch) als die liberale, demokratische oder radikale bezeichnete. Hin und wieder kann man bei uns Meinungen begegnen, die davon ausgehen, daß das liberale Denken freiheitlich und volkstümlich, das konservative hingegen obrigkeitlichreglementierend und elitär sei. Das Gegenteil trifft auf den heutigen Tatbestand zu, und das hat seine Gründe.«
Wenn hier in erster Linie der innenpolitische Aspekt des gaullistischen Konzepts betont wird, mag das jeden irritieren, der sich unter einem »deutschen Gaullismus« eine Tendenz vorstellt, die gegen die außenpolitische Linie der »Atlantiker« opponierte, weil sie in größerer Distanz zu den USA und engerer Kooperation mit Frankreich die Möglichkeit sah, die von Kennedy gewollte détente zu unterlaufen (Konrad Adenauer, Karl Theodor zu Guttenberg) oder ein »karolingisches«, also katholisches Europa durchzusetzen (Paul Wilhelm Wenger, Otto B. Roegele). Diesbezüglich interessierte Mohler und Schrenck-Notzing überhaupt nur die erste Option und die auch nur, wenn man sie dahingehend umdeutete, daß es möglich sein müsse, das Ende der harten Blockkonfrontation dazu zu nutzen, das (west)deutsche Gewicht wieder ins weltpolitische Spiel zu bringen. Mohler äußerte deshalb, daß man de Gaulle entgegenkommen sollte, wenn der der Bundesrepublik ein über den Elysée-Vertrag hinausgehendes Angebot machte; er vertrat dies durchaus in dem Wissen, daß der General ein doppeltes Spiel treibe und das ökonomische Potential des Nachbarn nutzen wollte, um die force de frappe zu finanzieren, aber mit dem langen Atem desjenigen, der seine eigenen Absichten letztlich zur Wirkung bringen kann.
Vor allem in seinen tagespolitischen Stellungnahmen kam Mohler immer wieder auf diesen Aspekt zu sprechen, etwa wenn es um die Frage ging, ob man die »chinesische Karte« spielen – also mit Rotchina gegen die Sowjetunion zusammengehen – oder die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags durch die Bundesrepublik verhindern sollte. Das eine wie das andere Thema war Mitte der sechziger Jahre ausgesprochen virulent, und es deutete sich eine gewisse Auflockerung der sonst fest gefügten Meinungslager an, deren Positionen noch nachhaltig durch den Kalten Krieg bestimmt waren. Es bedurfte nach Mohlers Meinung aber eines charismatischen politischen Führers – also eines deutschen de Gaulle –, der in der veränderten Situation die Chance zu einer Kurskorrektur ergreifen und gegen die Kräfte der Beharrung durchsetzen konnte.
Der einzige, der nach Lage der Dinge dafür in Frage kam, war der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß. Beide kannten sich persönlich, seitdem Mohler während der »Spiegel-Affäre« für Strauß Partei ergriffen hatte. Die Zusammenarbeit gestaltete sich besonders eng in der Phase des Rückzugs, zu dem Strauß in den Folgejahren gezwungen gewesen war. Mohler arbeitete als ghost writer für ihn, entwarf vor allem Reden, beriet ihn aber auch in grundsätzlichen Fragen.
Mohler vertraute nicht nur auf die Intelligenz und rhetorische Begabung von Strauß, er glaubte auch, daß er über den notwendigen Machtwillen verfügte, um die Selbstblockade der westdeutschen Politik durch die Fixierung auf die Niederlage einerseits, die Blocklogik andererseits zu überwinden. Durch das Näheverhältnis zu Strauß stand ihm eine Einflußmöglichkeit zur Verfügung, die keinem anderen Rechtsintellektuellen nach 1945 geboten wurde. Hinzu kamen noch die Perspektiven, die sich durch die Mitarbeit in den Blättern des Springer-Verlages eröffneten. Nach seinem Weggang von Christ und Welt (wobei seine gaullistischen Neigungen eine Rolle gespielt hatten) erhielt Mohler zuerst durch Hans Zehrer die Möglichkeit, regelmäßig für Welt und Welt am Sonntag zu schreiben. Sein Ehrgeiz ging allerdings darüber hinaus. In Abstimmung mit Paul Schmidt-Carell, der damals zu den engsten Beratern Axel Springers gehörte, entwickelte er nach dem unerwarteten Tod Zehrers im Oktober 1966 den Plan zu einem neuartigen politischen Magazin, das als »Tribüne des Nonkonformismus « einerseits dazu dienen sollte, der rechten Intelligenz einen »Kristallisationskern« zu verschaffen, andererseits eine stärkere Einwirkung auf die öffentliche Meinung zu erzielen. Als mögliche Mitarbeiter waren Konservative jeder Färbung ins Auge gefaßt – von Wissenschaftlern wie Hans Sedlmayr und Forsthoff oder Weber, über Autoren wie Rudolf Krämer-Badoni, bis zu Journalisten wie Hans-Georg von Studnitz, Hans-Dietrich Sander und Günter Zehm – woran sich schon zeigt, daß Mohler keineswegs an ein Parteiblatt seiner Richtung dachte.
Trotzdem scheiterte der Plan für das »Deutsche Magazin«, was vor allem an der Unentschlossenheit Springers lag – ein Problem, das sich im Hinblick auf Strauß wiederholen sollte. Zwar gelang es Mohler, seinen Schüler Marcel Hepp im engsten Umkreis von Strauß, als Generalsekretär der CSU und Herausgeber des Bayernkuriers, unterzubringen und ihn dazu zu bewegen, die schärfste Polemik gegen den Atomsperrvertrag aus »gaullistischer« Perspektive zu schreiben, aber vor die Alternative gestellt, ob er seine politische Stellung auf Bundesebene durch einen Konfrontationskurs (der sich nach Lage der Dinge auch gegen die CDU und Teile der CSU-Führung richten mußte) riskieren wollte, entschloß sich Strauß zu moderater Anpassung. Bezeichnend ist, daß er Mohler im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs 1969 noch bei der Veröffentlichung seines Buches zur Vergangenheitsbewältigung unterstützte, aber das Thema selbst nicht offensiv aufgreifen wollte. Am 8. Mai 1969 hatte Mohler an Strauß geschrieben: »In der heutigen Situation gibt es vier Wahlkampfthemata, die über Schulhausbausubventionen und ähnliches hinausgehen:
1. Gegen den Atomsperrvertrag
2. Gegen die ›Vergangenheitsbewältigung‹ (Verjährungs-Frage)
3. Gegen die ›Mitbestimmung‹, aber für Vermögensbildung des kleinen Mannes
4. Gegen die Aufweichung der Bundeswehr
Wenn sich die CDU/CSU klar dieser vier Probleme energisch annimmt, gewinnt sie die absolute Mehrheit. Wenn sie’s bloß in schwäbische Tröpfle, partiell und lau tut, bleibt’s bei der Grossen Koalition. Dann ade Bundesrepublik, ade Deutschland …« Die Antwort ließ beinahe vier Wochen auf sich warten und fiel taktierend aus. Faktisch setzte Strauß auf eine Fortsetzung der Großen Koalition und darauf, wieder Minister in einem von SPD und Union gestellten Kabinett zu werden.
Wie man weiß, ging dieses Kalkül nicht auf. Es kam der »Machtwechsel«, es kamen die »Neue Ostpolitik« und die »sozial-liberale Reformära «, Strauß zog sich nach Bayern zurück und sein Kontakt zu Mohler versandete. Es kam noch nicht zum offenen Zerwürfnis, aber trotz Mohlers höflichem Ton wußte Strauß um dessen Vorwurf im Grundsätzlichen und er war nicht der Mann, der eine dauernde Kränkung seiner Eitelkeit verzieh. Im Gefolge von ’68 etablierte sich endgültig die Vorherrschaft eines linksintellektuellen Milieus, gegen das nur noch Einzelgänger Widerstand leisteten. Zu denen gehörten Mohler wie Schrenck-Notzing, ohne aber auf stärkere Resonanz hoffen zu dürfen. An Breitenwirkung – die Entstehung einer konservativen Basisbewegung wie sie sie in den sechziger Jahren erhofft hatten – war nicht mehr zu denken. Die Geschichte dieses deutschen Gaullismus ist insofern eine Geschichte des Scheiterns, man könnte auch sagen: der vergebenen Möglichkeiten.