Sarrazins Impuls und die “Tabus bis zur Verlogenheit”

pdf der Druckfassung aus Sezession 41 / April 2011

ein Gespräch mit dem Kommunikationswissenschaftler
Hans Mathias Kepplinger

SEZESSION: Sehr geehrter Herr Prof. Kepplinger, wie hat sich das Meinungsklima in Deutschland durch den Fall Sarrazin verändert?
KEPPLINGER: Die Meinungen selber haben sich wahrscheinlich nicht verändert. Aber die Bereitschaft, die eigene Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern, hat massiv zugenommen. Vor Sarrazin gab es offensichtlich schon sehr viele Menschen in Deutschland, die die Auffassungen Sarrazins teilten und natürlich weiterhin teilen. Bei diesen Menschen hat es sich nicht nur um Unbekannte gehandelt, sondern durchaus auch um Angehörige der Eliten, die normalerweise in den Medien vertreten sind. Aber ein Großteil dieser Menschen hatte nicht den Mut, ihre Meinung öffentlich zu äußern. Das hat sich durch Sarrazin erheblich verändert.

SEZESSION: Jür­gen Haber­mas spricht in sei­nem Buch Struk­tur­wan­del der Öffent­lich­keit von der »qua­si-öffent­li­chen Mei­nung« als einer Auf­fas­sung, die von einer medi­al domi­nie­ren­den Min­der­heit als eigent­li­che öffent­li­che Mei­nung dar­ge­stellt und durch­ge­drückt wer­de. Hat sich in die­sem medi­al-poli­ti­schen Kom­plex etwas getan?
KEPPLINGER: Bei die­ser »qua­si-öffent­li­chen Mei­nung« hat es sich, wenn man der Begriff­lich­keit von Haber­mas folgt, um die Mei­nun­gen gehan­delt, die vor Sar­ra­zin domi­niert haben. Sie waren, wie man heu­te sieht, medi­al gemacht und kamen auch noch in den ritu­el­len Stel­lung­nah­men zu Sar­ra­zin von Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel und Bun­des­prä­si­dent Wulff zum Aus­druck. Im Lau­fe der Wochen hat sich dann für vie­le über­ra­schend her­aus­ge­stellt, daß ein Groß­teil der in der Öffent­lich­keit bedeut­sa­men Per­so­nen die Mei­nung von Sar­ra­zin teilt und sich nicht mehr mund­tot machen lässt. Als Kon­se­quenz dar­aus hat ein erheb­li­cher Wan­del des Mei­nungs­kli­mas statt­ge­fun­den, der auch brei­te­re Schich­ten erreicht hat.

SEZESSION: Ganz beson­ders kann man dies an der Per­son Frank Schirr­ma­chers nach­voll­zie­hen. Er hat ja zunächst in einer sehr staats­tra­gen­den Art ver­sucht, mit sei­nem Arti­kel über »Sar­ra­zins drit­tes Buch« einen media­len Todes­stoß zu set­zen. Drei Wochen spä­ter ist er dann umge­schwenkt und hat sich an die Spit­ze der Befür­wor­ter von Sar­ra­zin gestellt. Wie bewer­ten Sie die­ses Verhalten?
KEPPLINGER: Das war schon außer­or­dent­lich geschickt. Es war nicht unbe­dingt mora­lisch, aber es war klug. Schirr­ma­cher hat höchst­wahr­schein­lich auf die aus­ge­spro­chen kri­ti­schen Stel­lung­nah­men zu sei­ner ursprüng­li­chen Äuße­rung aus dem eige­nen Haus reagiert. Es gab ja meh­re­re pro­mi­nen­te Autoren der FAZ, die sich ganz deut­lich für Sar­ra­zin bzw. gegen sei­ne Anpran­ge­rung aus­ge­spro­chen haben. Dies rich­te­te sich unaus­ge­spro­chen aber erkenn­bar auch gegen Schirr­ma­chers Ver­ur­tei­lung Sar­ra­zins mit zum Teil frag­wür­di­gen Argu­men­ten. Die­ser Kri­tik hat er sich geschickt angepaßt.

SEZESSION: Das bedeu­tet doch nichts ande­res, als daß Mei­nungs­frei­heit im Fall Sar­ra­zins auch etwas mit Markt­macht – in die­sem Fall 1,3 Mil­lio­nen ver­kauf­te Bücher – zu tun hat und dass dem Schirr­ma­cher­schen Todes­stoß aus­ge­lie­fert bleibt, wer über die­se Power nicht verfügt.
KEPPLINGER: Der Ver­kauf von 1,3 Mil­lio­nen Büchern ist vor allem ein Indi­ka­tor für die Mei­nung im poli­tisch inter­es­sier­ten Bür­ger­tum. Es geht also nicht um Markt­macht, son­dern um Mei­nungs­macht, und dabei spielt es kei­ne Rol­le, ob alle Käu­fer das Buch gele­sen haben. Die meis­ten haben es ver­mut­lich nicht gekauft, um sich über­zeu­gen zu las­sen, son­dern weil sie über­zeugt waren. Mit einem sol­chen Buch ändert man kei­ne Mei­nun­gen, man ver­schafft ihnen öffent­li­che Gel­tung, und wer nicht mit einer schwei­gen­den Mehr­heit rech­nen kann, hat in der Tat kei­ne Chan­ce gegen einen ein­fluß­rei­chen Publi­zis­ten, der für zahl­rei­che Kol­le­gen spricht.

SEZESSION: Sehen Sie Ein­schrän­kun­gen der Mei­nungs­frei­heit in Deutsch­land, die am Fall Sar­ra­zin deut­lich werden?
KEPPLINGER: Man muß zwei Arten von Mei­nungs­frei­heit unter­schei­den. Das eine ist die juris­ti­sche ver­brief­te Mei­nungs­frei­heit, und juris­tisch gese­hen hat es kei­ne Ein­schrän­kung gege­ben – auch im Fall Sar­ra­zin nicht. Auf der ande­ren Sei­te steht die sozi­al-psy­cho­lo­gi­sche Mei­nungs­frei­heit, die Frei­heit, die eige­ne Mei­nung zu äußern, ohne das Risi­ko ein­zu­ge­hen, dass man mund­tot gemacht oder mora­lisch dis­kre­di­tiert und gesell­schaft­lich iso­liert wird. In die­sem zwei­ten Sinn war die Mei­nungs­frei­heit ein­deu­tig ein­ge­schränkt. Die­sen Sach­ver­halt muß man aber in einem brei­te­ren Kon­text sehen. Es gibt zum Glück immer Din­ge, die man nicht-öffent­lich sagen kann. Wenn alle alles sagen dürf­ten, was sie den­ken, wäre die Gesell­schaft uner­freu­li­cher, als sie ist. Die ent­schei­den­de Fra­ge lau­tet, wo ist die Gren­ze zur Into­le­ranz gegen Ein­zel­ne auf der einen und zur Beschä­di­gung der Gesell­schaft auf der ande­ren Sei­te? Das gilt auch für die­sen Kon­flikt. Zwar gehen sowohl die Anhän­ger als auch die Geg­ner von Sar­ra­zin noch immer ein gewis­ses per­sön­li­ches Risi­ko ein, wenn sie sich für oder gegen ihn und sei­ne The­sen aus­spre­chen. Ganz risi­ko­los ist das auch heu­te nicht. Aller­dings hat sich die Dis­kus­si­on deut­lich in den Frei­raum zwi­schen den erwähn­ten Extre­men verlagert.

SEZESSION: Wel­che Kon­flik­te und Sach­de­bat­ten soll­ten mit der Skan­da­li­sie­rung von Sar­ra­zin unter­drückt werden?
KEPPLINGER: Im Hin­ter­grund steht seit mehr als 20 Jah­ren die Fra­ge: Wie sol­len wir Deut­schen mit Aus­län­dern umge­hen? Dabei geht es vor allem um das grü­ne Pro­jekt einer mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft. Im Lau­fe der Jahr­zehn­te hat sich her­aus­ge­stellt, daß die­ses Pro­jekt – zumin­dest in der Wei­se, wie es von den Grü­nen gedacht wur­de – nicht rea­li­sier­bar ist. Es hat schon ein­mal einen Ver­such gege­ben, eine Gegen­po­si­ti­on dazu auf­zu­bau­en: Das war die posi­ti­ve Idee der deut­schen Leit­kul­tur, die damals noch in einem Sturm der Ent­rüs­tung unter­ge­gan­gen ist. Nach­dem Sar­ra­zin die nega­ti­ve Idee des Ver­schwin­dens die­ser Kul­tur for­mu­lier­te, hat sich das Blatt gewen­det. Im Hin­ter­grund steht also die Fra­ge, ob die Deut­schen eine Nati­on mit einer eigen­stän­di­gen Kul­tur sind und blei­ben sol­len, oder ob sie bes­ser in irgend­ei­ner Welt- oder Euro­pa­kul­tur auf­ge­hen soll­ten. Damit ver­bun­den ist natür­lich das Selbst­wert­ge­fühl derer, die die Idee der mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft ver­tre­ten und kri­ti­siert haben. Nicht zuletzt um das geht es und dies erklärt einen Teil der Lei­den­schaft, mit der die The­ma­tik dis­ku­tiert wird.

SEZESSION: Hat Sar­ra­zin Tabus gebro­chen, die sinn­voll waren?
KEPPLINGER: Ich kann das nicht erken­nen. Es hat gra­vie­ren­de Tabus bis zur Ver­lo­gen­heit gege­ben. Fast jeder hat Freun­de und Bekann­te, die man als Geg­ner der The­sen von Sar­ra­zin betrach­ten kann, die aber ihre Kin­der nicht in öffent­li­chen Schu­len geschickt haben, damit sie nicht in Klas­sen mit einem hohen Aus­län­der­an­teil gehen müs­sen. Die­se Art von Ver­lo­gen­heit ist inzwi­schen nicht mehr so ohne Wei­te­res in der Öffent­lich­keit zu ver­mit­teln. Das hal­te ich für einen Fortschritt.

SEZESSION: Das heißt, Sar­ra­zin hat kei­ne Tabus gebro­chen? Er hat bei­spiels­wei­se nicht irgend­wel­che Migran­ten­grup­pen diffamiert?
KEPPLINGER: Er hat Tabus gebro­chen, aber er hat kei­ne gebro­chen, die es wert gewe­sen wären, daß man sie bewahrt hät­te. Er hat das Tabu gebro­chen, daß man über bestimm­te Miß­stän­de, die es beim Blick auf die Aus­län­der gibt, ein­fach nicht gespro­chen hat. Die­ses Tabu hat er gebro­chen und das ist sein Verdienst.

SEZESSION: Sie sind also der Mei­nung, daß dies vor Sar­ra­zin noch nicht sag­bar war und die­je­ni­gen, die es gesagt haben, gegen eine »Mau­er aus Kau­tschuk« gerannt sind. Ist Sar­ra­zin inso­fern der ers­te, der die­se Mau­er über­sprun­gen hat?
KEPPLINGER: Es war schon eher eine Mau­er aus Beton als aus Kau­tschuk. Der bereits erwähn­te Fried­rich Merz, der den Begriff der Leit­kul­tur in die Öffent­lich­keit gebracht hat, wur­de auch aus dem eige­nen Lager schroff zurück­ge­wie­sen. Das geschah unter ande­rem mit der rhe­to­ri­schen Fra­ge, was denn das sei, die deut­sche Leit­kul­tur, und mit höh­ni­schen Hin­wei­sen auf alber­ne Test­fra­gen. Sar­ra­zin ist es gelun­gen, die­se Abwehr­hal­tung zu durch­bre­chen. War­um? Dafür gibt es vor allem zwei Grün­de. Der eine lau­tet: Es ist in der Öffent­lich­keit ein­fa­cher, mit nega­ti­ven Stel­lung­nah­men Reso­nanz zu erzeu­gen als mit posi­ti­ven. Sar­ra­zin hat es nega­tiv for­mu­liert, Merz hat es posi­tiv for­mu­liert. Der ande­re Grund ist: Seit Merz sind die Fehl­schlä­ge der ursprüng­li­chen Idee einer mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft noch offen­sicht­li­cher gewor­den als sie es damals schon waren. Es gab meh­re­re ande­re Autoren und Autorin­nen, die das vor Sar­ra­zin doku­men­tiert und dadurch sei­nem Buch den Weg berei­tet haben. Sein Buch hat dann den letz­ten Impuls gegeben.

SEZESSION: Sie beto­nen, Sar­ra­zin habe sei­ne Aus­sa­gen nega­tiv for­mu­liert. Ist er denn nicht sogar einen Schritt wei­ter gegan­gen und hat selbst einen Skan­dal pro­vo­ziert, etwa mit sei­nen Äuße­run­gen zu »Kopf­tuch­mäd­chen« im Inter­view mit Lett­re Inter­na­tio­nal?
KEPPLINGER: Das hat er wohl getan. Ich ver­mu­te auch, daß das sei­ne Absicht war. Es war aber sicher nicht sei­ne Absicht, einen der­ar­tig mas­si­ven Kon­flikt zu pro­du­zie­ren, dem er dann aus­ge­setzt wur­de, denn eine sol­che Aus­ein­an­der­set­zung hin­ter­läßt per­sön­li­che Ver­let­zun­gen, die sich Außen­ste­hen­de kaum vor­stel­len kön­nen. Aber er hat die Pro­vo­ka­ti­on gesucht.

SEZESSION: In einem Auf­satz schrei­ben Sie, aus dem Skan­dal um Sar­ra­zin habe sich ein publi­zis­ti­scher Kon­flikt ent­wi­ckelt, weil es genug Befür­wor­ter sei­ner The­sen gege­ben habe. Ich möch­te die­sen publi­zis­ti­schen Kon­flikt in Fra­ge stel­len, da der Druck auf die Sar­ra­zins – jetzt ja auch auf sei­ne Frau – trotz der geschei­ter­ten Ver­ban­nung anschei­nend uner­träg­lich hoch ist.
KEPPLINGER: Ich den­ke schon, daß es sich im enge­ren, also im sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Sinn, nicht um einen Skan­dal han­del­te. Bei einem Skan­dal gibt es immer nur eine Front, wie etwa bei der Skan­da­li­sie­rung der Spen­den an die CDU. Bei sol­chen Skan­da­len exis­tiert nahe­zu nie­mand, der die Gegen­po­si­ti­on ver­tritt, also den Ange­pran­ger­ten ent­schlos­sen ver­tei­digt. Bei Sar­ra­zin exis­tie­ren auch heu­te noch zwei etwa gleich star­ke Lager. Natür­lich kämp­fen bei­de nicht immer mit fei­nen und fai­ren Mit­teln. Die­se Aus­ein­an­der­set­zung ist auch noch lan­ge nicht zu Ende. Ich ver­mu­te, sie wird min­des­tens ein bis zwei Jah­re wei­ter­ge­hen, wobei nicht immer der Name Sar­ra­zin fal­len muss. Aber über den Kern, um den es geht, wird man auch aus per­sön­li­chen und poli­ti­schen Moti­ven noch jah­re­lang streiten.

SEZESSION: Wo sehen Sie unter­drück­tes Poten­ti­al, das sich in den nächs­ten Jah­ren arti­ku­lie­ren könnte?
KEPPLINGER: Typisch für sol­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen ist fol­gen­des: Auf bei­den Sei­ten eines Kon­flik­tes in der Gesell­schaft pas­sie­ren in der Regel Din­ge, die man nicht bil­li­gen kann. Des­halb ver­su­chen bei­de Sei­ten sol­che Sach­ver­hal­te zu instru­men­ta­li­sie­ren, um den Geg­ner ins Unrecht set­zen. Das wird auch in der Sar­ra­zin-Debat­te in Zukunft so sein. Es wird Leu­te geben, die ver­su­chen, Sar­ra­zin ins Unrecht zu set­zen, indem man z. B. sei­ner Frau vor­wirft, sie sei eine schlech­te Leh­re­rin. Und es wird Leu­te geben, die die Angrei­fer ins Unrecht set­zen, indem sie ihnen unwah­re Behaup­tun­gen oder eige­ne Ver­feh­lun­gen nachweisen.

SEZESSION: Wir bewe­gen uns also nicht auf der Ebe­ne einer ratio­na­len Argu­men­ta­ti­on.
KEPPLINGER: Es geht nicht vor­ran­gig um eine ratio­na­le, son­dern um eine rhe­to­ri­sche Argu­men­ta­ti­on. Es geht hier nicht um die – im wis­sen­schaft­li­chen Sinn – Erkennt­nis von Rea­li­tät. Es geht im poli­ti­schen Sin­ne um die Inter­pre­ta­ti­on von Rea­li­tät im Inter­es­se der eige­nen Ziel­set­zun­gen. Dazu wird, weni­ger mit dem Ziel der Erkennt­nis als der Macht­ge­win­nung, alles instru­men­ta­li­siert, was den eige­nen Zie­len dient.

SEZESSION: Ist es in die­ser poli­ti­schen Öffent­lich­keit heut­zu­ta­ge über­haupt noch mög­lich, außer­halb des Modus des Skan­dals noch etwas Neu­es zu sagen?
KEPPLINGER: Das ist mög­lich. Sie kön­nen belie­big viel Neu­es sagen, aber Sie wer­den kei­ne Reso­nanz fin­den, und dar­auf kommt es an. Nur der­je­ni­ge, der in der Lage ist, etwas Neu­es so zu sagen, dass es auch die Emo­tio­nen bewegt, hat eine Chan­ce auf bemer­kens­wer­te Reso­nanz in der Öffent­lich­keit. Eine rein ratio­na­le Aus­ein­an­der­set­zung ist in der Öffent­lich­keit nicht anschluss­fä­hig. Das hängt damit zusam­men, dass das Inter­es­se der Mas­se des Publi­kums an den öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten viel zu gering ist – und ich spre­che da von etwa 80 Pro­zent der Bevöl­ke­rung. Es kommt also dar­auf an, einen emo­tio­na­len Kern zu schaf­fen, der die Auf­merk­sam­keit auch der an sich Des­in­ter­es­sier­ten eini­ge Zeit wach­hält. Das kann man bedau­ern, es ist aber so.

SEZESSION: Also braucht es schon den Skan­dal, um mas­sen­wirk­sam neue The­men anzusprechen.
KEPPLINGER: Es muß nicht immer ein Skan­dal sein. Es kann natür­lich auch ein über­ra­gen­der Erfolg sein. Neh­men wir an, es gebe einen groß­ar­ti­gen Durch­bruch bei der Krebs­be­kämp­fung. Das wäre ein sehr emo­ti­ons­träch­ti­ger Hoff­nungs­trä­ger und wür­de ver­mut­lich in der Öffent­lich­keit auch über län­ge­re Zeit Auf­merk­sam­keit fin­den – eben weil es emo­tio­nal besetzt ist. Es kön­nen nega­ti­ve oder posi­ti­ve Emo­tio­nen sein. Wir leben aber in einer Gesell­schaft, in der nega­ti­ve Emo­tio­nen häu­fi­ger sind.

SEZESSION: Was sagt dies über die Ord­nung des Dis­kur­ses in Deutsch­land aus?
KEPPLINGER: Man muß sich von der Idee lösen, daß es in der brei­te­ren Öffent­lich­keit einen rein ratio­na­len Dis­kurs über wich­ti­ge Fra­gen der Gesell­schaft gibt. Die­sen Dis­kurs hat es nie gege­ben und wird es nie geben. Die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung lässt sich nur geis­tig mobi­li­sie­ren, indem man star­ke emo­tio­na­le Anrei­ze setzt. Dies kann man empi­risch klar bele­gen: Der Anteil der Bevöl­ke­rung, der sich regel­mä­ßig und eini­ger­ma­ßen umfang­reich über die öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten infor­miert, liegt etwa zwi­schen fünf und 20 Pro­zent. Wer die gro­ße Men­ge errei­chen will, muß emo­tio­na­les Poten­ti­al schaffen.

SEZESSION: Wie schät­zen Sie dann die Auf­ga­be der Intel­lek­tu­el­len ein?
KEPPLINGER: Gele­gent­lich gera­ten Wis­sen­schaft­ler in das Zen­trum sol­cher Kon­flik­te und Skan­da­le, ohne daß sie das eigent­lich beab­sich­tigt haben. Dage­gen kann man nichts machen. Der­je­ni­ge, der das erlebt hat, wird sich nicht danach drän­gen, weil die Erfah­run­gen, die man dann macht, sehr uner­freu­lich sind. Auf der ande­ren Sei­te kön­nen und müs­sen Wis­sen­schaft­ler ihre Ergeb­nis­se so prä­sen­tie­ren, daß sie von ande­ren Akteu­ren in der Öffent­lich­keit, etwa Jour­na­lis­ten oder Poli­ti­kern, auf­ge­grif­fen wer­den kön­nen. Denen steht es natür­lich frei, die Ergeb­nis­se so zuzu­spit­zen, daß sie damit die Öffent­lich­keit errei­chen. Ich möch­te schon tren­nen zwi­schen der Rol­le der Wis­sen­schaft­ler, denen das nicht zusteht, und der Rol­le der Intel­lek­tu­el­len im wei­tes­ten Sin­ne, zu denen ich auch vie­le Jour­na­lis­ten und Poli­ti­ker rech­ne. Ihnen ist die emo­tio­na­le Zuspit­zung natür­lich frei­ge­stellt und sie sind gut bera­ten sind, wenn sie so vorgehen.

Herr Prof. Kepp­lin­ger, vie­len Dank für das Gespräch!
Hans Mathi­as Kepp­lin­ger, gebo­ren 1943, ist seit 1982 Pro­fes­sor für Empi­ri­sche Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft an der Johan­nes-Guten­berg-Uni­ver­si­tät Mainz.

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