Die Mannequins der Meinungsmache

Meinungen müssen wie Kleider verkauft werden. Denn für die meisten Menschen ist das entscheidende Aneignungskriterium, ob man darin schick, modisch und sexy genug aussieht, um weiterhin zum In-Crowd zu gehören. Meinungen sind fast immer strategischer Natur.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Man hef­tet sie sich an wie Orden, als Ein­tritts­kar­te, Intel­li­genz­be­schei­ni­gung, “Good-Guy-Badge”, Durch­bli­cker-But­ton oder Club­aus­weis für garan­tiert oben­auf schwim­men­de Nudelsuppenfettaugen.

Ana­log dazu ist es eine belieb­te und effek­ti­ve Stra­te­gie, kon­kur­rie­ren­de Mei­nun­gen mög­lichst dumm, schlecht, alt­ba­cken, über­holt, häß­lich, bla­ma­bel und hans­wurs­tig hin­zu­stel­len, damit sie sich nie­mand mehr anzie­hen will. Die mei­nungs­bil­den­den Intel­lek­tu­el­len posie­ren dabei als die Man­ne­quins ihrer Welt­an­schau­ung, mit der Mis­si­on, die Welt dahin­ge­hend zu mani­pu­lie­ren, sich doch so schick und schnei­dig zu klei­den wie sie sel­ber. Intel­lek­tu­el­le sind meis­tens nar­ziß­ti­sche Per­sön­lich­kei­ten, und als sol­che ver­siert im Betrei­ben von Statusspielchen.

Kaum war Sar­ra­zins neu­es Buch erschie­nen, wur­de es auch schon als schlecht­sit­zen­der Nar­ren­an­zug mit klei­nen brau­nen Karos prä­sen­tiert: der Stern etwa stell­te Sar­ra­zin als Schwät­zer, Geschäf­te­ma­cher, Fet­zen­schä­del und Maschen­stri­cker hin, der sich mit “schril­len” The­sen wich­tig mache, Rein­hold Rob­be (SPD) nann­te ihn “schwach­sin­nig” , Trit­tin (Grü­ne) “uner­träg­lich”, Schäub­le (CDU) sprach von “him­mel­schrei­en­dem Blöd­sinn” und “ver­ach­tens­wer­tem Kal­kül”, David Hugen­dick (Zeit) von “Res­sen­ti­ments”, Mely Kiyak bedien­te sich gar der Unter­men­schen-Ter­mi­no­lo­gie und natür­lich ist über­haupt die gan­ze Sache “popu­lis­tisch”, “kru­de” und “umstrit­ten”, man kön­ne sich also damit kei­nes­falls in der Öffent­lich­keit bli­cken lassen.

Nils Mink­mar bedien­te sich der Metho­de in einer Fern­seh­kri­tik der FAZ, in der er den “coo­len”, nüch­ter­nen, logi­schen, unauf­ge­reg­ten, tak­tisch über­leg­ten, auf­ge­klär­ten, sach­kun­di­gen Peer Stein­brück gegen das mul­ti-igno­ran­te, schwamm­ge­füh­li­ge “Vor­ur­teils”-, Res­sen­ti­ments- und Ner­ven­bün­del Sar­ra­zin ausspielte.

Hier war es ganz gut, dass sowohl Stein­brück wie Jauch jede Schnapp­at­mung unter­drückt haben und cool geblie­ben sind in ihren Fra­gen, Sar­ra­zin wur­de umso fah­ri­ger. Man muss das aber bespre­chen, auf die­sem Gebiet hilft nur Prä­zi­si­on. Am Ende der Sen­dung stand der nach eige­ner Selbst­dar­stell­lung so ratio­na­le, auf Fak­ten und Daten bezo­ge­ne Fach­mann als der eigent­lich Sen­ti­men­ta­le da, der sei­nen Vor­ur­tei­len und Emo­tio­nen frei­en Lauf lässt, wenn ein war­mer Süd­wind weht. (…)

In Wahr­heit wird auch die­ses Buch von Sar­ra­zin als eine ver­steck­te Auto­bio­gra­phie zu lesen sein: Was wäre gewe­sen, wenn man mehr auf mich gehört hät­te, wie leuch­tend hell war es damals, als ich jung war und sofort. Vie­le sind in sei­nem Alter, tei­len sei­ne Nost­al­gie. Peer Stein­brück kommt das Ver­dienst zu, den Autor – sine ira et stu­dio – wie­der ins das rich­ti­ge Bücher­re­gal sor­tiert zu haben, denn kei­ne poli­ti­sche Dia­gnos­tik hat er geschrie­ben, son­dern melan­cho­li­sche Memoiren.

Ich habe “Euro­pa braucht den Euro nicht” noch nicht gele­sen, aber es reicht schon aus, sich die frag­li­che Gün­ter-Jauch-Sen­dung anzu­gu­cken, um die gan­ze Skru­pel­lo­sig­keit die­ser Schrei­be zu offen­ba­ren. Die Show soll “fair” gewe­sen sein, so Mink­mar, sei­ne Bericht­erstat­tung ist dies aber kaum – er hebt die “Fair­ness” vor allem des­we­gen her­vor, um den Vor­wurf zu ent­kräf­ten, Sar­ra­zin set­ze sich (inner­halb der ton­an­ge­ben­den Klas­se und unter “Exper­ten”) nicht durch, weil sei­ne Mei­nung unter­drückt und aus­ge­grenzt wür­de. Dazu gehört kom­ple­men­tär die Unter­stel­lung, der fleisch­ge­wor­de­ne Sci­roc­co aus der Bun­des­bank set­ze sich ansons­ten (unter sei­nen Mil­lio­nen von Lesern und sons­ti­gem Fuß­volk) des­halb durch, weil er an nie­de­re Instink­te wie “Emo­tio­nen” und “Vor­ur­tei­le” appelliere.

Schwer zu sagen, ob Mink­mar hier bei völ­li­gem Bewußt­sein ein der­art ver­zer­ren­des Bild malt, als schrie­be er für die Sowjet-Praw­da (also: lügt), oder ob sich da ein Film aus Wunsch­den­ken zwi­schen sein Gehirn und die Fern­seh­röh­re gescho­ben hat. Die erstaun­li­che lin­ke Befä­hi­gung zur Auto­hyp­no­se beden­kend tip­pe ich sogar eher auf letz­te­res. So wan­deln sich jeden­falls die Dis­kre­di­tie­rungs­stra­te­gien: vor einem Jahr noch war Sar­ra­zin der kal­te, zyni­sche, fies sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Tech­no­krat, der uns die sozia­le Wär­me und bun­te Gemein­schaft rau­ben will, heu­te ist er weich, alt, emo­tio­nal, sen­ti­men­tal, nost­al­gisch, melan­cho­lisch, regres­siv und so weiter.

War­um eigent­lich, und in Bezug auf was? Dar­über gibt Mink­mar kei­ne kla­re Aus­kunft. Er behaup­tet ein­fach. Aus einer Kri­tik an den Grund­ver­feh­lun­gen der Euro-Poli­tik wird dann ein pri­va­tes Pro­blem eines müden, alten Sar­ra­zin und ein Bekla­gen der guten, alten Zeit, als noch die har­te D‑Mark über den Tisch rubel­roll­te. Oder das sen­ti­men­ta­le, pen­ner­haf­te, ver­schnarch­te, ewig­gest­ri­ge Kle­ben am angeb­lich guten, alten, demo­kra­ti­schen Natio­nal­staat, wäh­rend die Zukunft doch einer moder­nen, welt­of­fe­nen, fle­xi­blen, unsen­ti­men­ta­len, vom natio­na­len Bal­last befrei­ten, euro­päi­schen Geld­trans­fer­uni­on gehört.

Das erin­nert alles ver­däch­tig an den alten Vor­wurf des “Jam­merns” an die Kon­ser­va­ti­ven, der eben­falls aus dem Arse­nal des “Shaming, Bla­ming, Naming” stammt, und kri­ti­sche Äuße­run­gen als lächer­lich und schwäch­lich hin­stel­len soll. Indes­se bekom­me ich bei der Lek­tü­re Mink­mars Lust, ein­mal eine Art Apo­lo­gie des “Jam­merns”, der Nost­al­gie, der “Vor­ur­tei­le” und der Sen­ti­men­ta­li­tät zu schrei­ben, und eine scham­los-unkri­ti­sche Hym­ne dar­auf, daß “frü­her alles bes­ser war”. Eine Ver­tei­di­gung “miß­ach­te­ter Din­ge” à la Gil­bert Keith Chesterton:

Es heißt immer, man kön­ne die Uhren nicht zurück­dre­hen. Aber wenn sie falsch gehen, kann man genau das machen: sie zurückdrehen.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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