Jede neue Wahrnehmung, also ein neuer Duft, eine neue Berührung, ein neues Geräusch oder ein neuer Sinneseindruck erzeugt im Gehirn ein entsprechendes Aktivierungsmuster, ein „Wahrnehmungsbild”. Im Gehirn wird nun versucht, ein bereits vorhandenes Nervenzell-Verschaltungsmuster zu aktivieren (ein „Erinnerungsbild”), das irgendwie zu dem durch die neue sinnliche Wahrnehmung entstandenen Aktivierungsmuster paßt. Stimmen beide Bilder (das vorhandene Erinnerungsbild und das neue Wahrnehmungsbild) völlig überein, so wird der neue Eindruck als bekannt abgetan und entsprechend (routinemäßig) beantwortet. Kann keinerlei Überlappung zwischen dem Neuen und irgendeinem bereits vorhandenen Bild hergestellt werden, so passiert gar nichts. Das neue Wahrnehmungsbild wird gewissermaßen als ein nicht zu den bisherigen Erfahrungen passendes Trugbild verworfen.
Interessant wird es immer dann, wenn das aus dem Gedächtnis abgerufene Erinnerungsbild zumindest teilweise zu dem neuen Wahrnehmungsbild paßt. Dann wird das alte Muster so lange geöffnet, erweitert und umgestaltet, bis das durch die neue Wahrnehmung entstandene Aktivierungsmuster in das nun modifizierte Erinnerungsbild integriert werden kann. Das wird dann als erweitertes inneres Muster festgehalten und für künftige Wahrnehmungen zum Abgleich erneut abgerufen. Dieses Muster bestimmt nun auch die künftigen Erwartungen. Ein Mensch nimmt also nie alles wahr, was ihm angeboten wird, sondern nur das, was irgendwie zu seinen Vorstellungen und Erwartungen (also zu seinen bisher gemachten Erfahrungen) paßt, also bereits partiell sinnvoll ist.
Zug um Zug werden auf diese Weise die komplizierten Nervenzellverschaltungen in den verschiedenen Regionen aufgebaut. Die von den Sinnesorganen ankommenden Erregungsmuster werden dabei benutzt, um immer stabilere und zunehmend komplexer werdende „innere Bilder” in Form bestimmter Verschaltungsmuster in den verschiedenen Hirnregionen zu verankern. Das gilt nicht nur für das Sehen und die Verankerung innerer „Sehbilder”, sondern ebenso für das Tasten und die Herausbildung innerer „Tast- und Körperbilder”, für das Hören und die Entstehung entsprechender „Hörbilder” und das damit einhergehende Verstehen und Verankern von Sprache, letztlich auch für das Interesse am Zuhören. Auf gleiche Weise entwickelt sich die Fähigkeit, aus Gerochenem innere „Geruchsbilder” anzulegen und mit anderen Sinneswahrnehmungen und den dadurch erzeugten inneren Bildern zu verbinden. Ja, sogar die von den Muskeln bei Veränderungen ihres Tonus zum Gehirn weitergeleiteten Signale werden benutzt, um innere Repräsentanzen von komplexen Bewegungsabläufen, gewissermaßen innere „Bewegungs- und Handlungsbilder” in bestimmten Bereichen des Gehirns anzulegen und bei Bedarf abzurufen.
Diejenige Hirnregion, in der all diese komplexen, nutzungsabhängigen neuronalen Verschaltungen letztendlich zusammenlaufen, ist eine Region, die sich beim Menschen zuletzt und am langsamsten entwickelt, und die auch bei unseren nächsten tierischen Verwandten weitaus kümmerlicher ausgebildet ist. Anatomisch heißt sie Frontal- oder Stirnlappen. Sie ist in besonderer Weise daran beteiligt, aus anderen Bereichen des Gehirns eintreffende Erregungsmuster zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und auf diese Weise von „unten”, aus tieferliegenden und früher ausgereiften Hirnregionen eintreffende Erregungen und Impulse zu hemmen und zu steuern. Ohne Frontalhirn kann man keine zukunftsorientierten Handlungskonzepte und inneren Orientierungen entwickeln, kann man nichts planen, kann man die Folgen von Handlungen nicht abschätzen, kann man sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und deren Gefühle teilen, auch kein Verantwortungsgefühl empfinden. Unser Frontalhirn ist die Hirnregion, in der wir uns am deutlichsten von allen Tieren unterscheiden. Und es ist die Hirnregion, die in besonderer Weise durch den Prozeß strukturiert wird, den wir Erziehung und Sozialisation nennen.
Auf die Frage, wovon dieses Sinn-Stiftende, für die Handlungsplanung verantwortliche Bewertungs- und Entscheidungssystem im frontalen Kortex gesteuert wird, gibt es eine überraschende Antwort: durch die im Verlauf von Erziehung und Sozialisation in der jeweiligen Herkunftsfamilie und der jeweiligen Herkunftskultur gemachten Erfahrungen. Die hier im Verlauf von Erziehung und Sozialisation erfahrungsabhängig herausgebildeten Netzwerkstrukturen bilden die Grundlage all jener Metakonzepte und Metakompetenzen, mit deren Hilfe jeder Mensch seine Erfahrungen bewertet, seine Entscheidungen trifft und seine Ziele festlegt. Sie sind also entscheidend dafür, wie und wofür ein Mensch sein Gehirn nutzt – und damit auch weiter strukturiert. Dabei muß jeder Mensch versuchen, immer wieder eine Kohärenz zwischen seinen bisher gemachten Erfahrungen und den Erfordernissen seiner sich ständig wandelnden Lebenswelt herzustellen – indem er in sich und in seiner Welt nach Sinn, also nach Stabilität sucht.
Ein sehr entscheidender Auslöser für die fortwährende Anpassung der handlungsleitenden Muster an die in der jeweiligen Familie, der Sippe oder der jeweiligen Gemeinschaft herrschenden Strukturen ist die Angst – entweder die Angst vor (für ein Kind real lebensbedrohender) Ausgrenzung durch Verlassenwerden oder die Angst vor einer angedrohten Strafe oder die Angst vor der Verweigerung einer Belohnung in Form von Zuwendung und Wertschätzung, die das betreffende Kind erfährt. In allen diesen Fällen kommt es zur Aktivierung der sogenannten emotionalen Zentren im Gehirn (limbisches System). Mit dieser Aktivierung geht eine vermehrte Produktion und Ausschüttung von solchen Botenstoffen einher, die im normalen Routinebetrieb des Gehirns nie in diesen Mengen freigesetzt werden (Dopamin, Neuropeptide, Enkephaline). Durch die Wirkung dieser sogenannten neuroplastischen Botenstoffe werden nachgeschaltete Nervenzellen in den höheren assoziativen Bereichen des Gehirns dazu veranlaßt, vermehrt Fortsätze auszubilden, neue synaptische Verbindungen herzustellen bzw. bestehende Kontakte enger zu knüpfen. Auf diese Weise kommt es zu einer außerordentlich effektiven Stabilisierung und Bahnung der zur Lösung eines bestimmten Problems (zur Vermeidung der angedrohten Bestrafung oder zur Erlangung der in Aussicht gestellten Belohnung) aktivierten neuronalen Verknüpfungen und synaptischen Verschaltungen. So lernt jedes Kind bereits sehr früh und auch entsprechend nachhaltig all das, worauf es für ein möglichst ungestörtes Zusammenleben in seiner jeweiligen Gemeinschaft ankommt.
Ebenso wirksam, aber wesentlich subtiler – und im Gegensatz zu diesem „Dressurlernen” von allen Beteiligten weitgehend unbemerkt – erfolgt das sogenannte Resonanz- oder Imitationslernen. Durch solche Spiegelungen des Verhaltens von Vorbildern, meist noch verstärkt durch entsprechende Hinweise und Maßregelungen, lernen Kinder sehr schnell und außerordentlich effizient, wie sie sich verhalten müssen, um in die Gemeinschaft zu passen, in die sie hineinwachsen. Am deutlichsten zutage treten solche durch Spiegelung und Imitation erlernten Verhaltensweisen immer dann, wenn man Gelegenheit bekommt, ein Kind in Gegenwart eines besonders prägenden Vorbildes zu beobachten. Besonders bei kleinen Kindern wird dann sichtbar, wie sehr sie sich bemühen, die Körperhaltung, die Mimik und Gestik des bewunderten Vorbildes nachzuahmen. Das können Vater oder Mutter sein, häufig aber auch ein etwas älteres Geschwister oder Spielkameraden und nicht selten auch irgendein „Idol” aus Kino oder Fernsehen.
Weniger deutlich sichtbar, aber aus den verbalen Äußerungen und Kommentaren zumindest anfänglich noch erkennbar, eignen sich Kinder auch bestimmte geistige Haltungen und Vorstellungen von Vorbildern an. Dabei werden diese Ideen im Lauf ihrer weiteren Entwicklung im eigenen Denken immer wieder „durchgespielt” und so oft wiederholt, bis die dabei aktivierten neuronalen Erregungsmuster so gebahnt und stabilisiert worden sind, daß sie dem Kind auch weiterhin als strukturell verankerte Korrelate, als internalisierte Vorstellungen zur Verfügung stehen, um daraus Orientierungen und geistige Grundhaltungen abzuleiten und subjektive Bewertungen neuer Eindrücke und Erfahrungen vorzunehmen. Etwa ab dem vierten Lebensjahr läßt sich beobachten, daß Kinder nun auch all jene Strategien ihrer Vorbilder übernehmen, die diese zur Regulation ihrer eigenen emotionalen Befindlichkeit einsetzen. Dazu zählen sowohl das „Verstecken” von Gefühlen wie auch das übertriebene Zurschaustellen von emotionalen Gesten und mimischen Ausdrucksformen. Anhand seiner Vorbilder lernt das Kind nun zunehmend besser, seine Gefühle zu beherrschen oder zum Erreichen bestimmter Ziele bestimmte emotionale Ausdrucksformen einzusetzen. Die ursprüngliche Offenheit des kindlichen emotionalen Ausdrucks wird nun immer stärker in eine private Gefühlswelt internalisiert. Vor allem in den westlichen Kulturen führt das zu einer zunehmenden Entkopplung der durch Mimik und Gestik zum Ausdruck gebrachten und der tatsächlich subjektiv empfundenen Gefühle. Die eigenen Gefühle werden so immer stärker kontrolliert und vom Körperempfinden abgetrennt.
Die wichtigste, für unsere eigene Orientierung und unser Selbstverständnis aus den Ergebnissen der modernen Hirnforschung ableitbare Erkenntnis lautet: Ein zeitlebens lernfähiges Gehirn ist auch zeitlebens programmierbar. Aber wenn erst einmal durch eine bestimmte Art der Nutzung bestimmte Bahnungen entstanden sind, wir also durch uns selbst und durch Anpassungsleistungen programmiert sind, wird es schwierig, diese Programmierungen später wieder aufzulösen. Und dies wiederum ist gefährlich, weil aus der Stabilität eine enges Korsett, aus einer gedeihlichen Anpassungsleistung eine dem sich stets verändernden Leben abträgliche Starrheit werden kann.
„Nicht alle, die etwas zu sehen glauben, haben die Augen offen; und nicht alle, die um sich blicken, erkennen auch, was um sie herum und mit ihnen geschieht. Einige fangen erst an zu sehen, wenn nichts mehr zu sehen da ist. Erst wenn sie Haus und Hof zugrunde gerichtet haben, beginnen sie, umsichtige Menschen zu werden. Zu spät hinter die Dinge zu kommen, dient nicht zur Abhilfe, wohl aber zur Betrübnis.” Balthasar Gracián, 1647
Um derartige Fehlentwicklungen zu vermeiden – auch das ist eine neue Erkenntnis der modernen Hirnforschung, die lediglich das bestätigt, was viele Menschen seit langem bereits vermutet hatten -, können wir zwei unterschiedliche Wege einschlagen: einen bequemen und einen unbequemen.
Der bequeme Weg ist der, den wir schon kennen und auf dem wir im Verlauf unserer bisherigen Entwicklung bereits reichlich Erfahrung zu sammeln Gelegenheit hatten. Es ist der Weg, auf dem man mit all seinen Fehlern und Beschränktheiten einfach immer so weiterzugehen versucht wie bisher. Dieser Weg wird dann mit der Zeit immer beschwerlicher, bis man irgendwann sich selbst und seine bisherige Art zu denken und Probleme zu lösen vollkommen in Frage stellen muß. Vermutlich ist dies genau der Moment, in dem man anfällig wird für die simplen Strickmuster radikaler Alternativen.
Der zweite Weg ist der sanftere: Die Benutzung des eigenen Gehirnes wird auch ohne Not immer wieder in Frage gestellt, die Anpassungslei stung wird ständig vollbracht. Diesen anderen, mühsamen Weg geht niemand freiwillig, der sich nicht dazu verpflichtet fühlt. Er läßt sich auch nur beschreiten, indem man seine Haltungen und seine Einstellungen gegenüber sich selbst und all dem, was einen umgibt, immer wieder überprüft. Unsere einmal entstandenen Haltungen und Einstellungen sind uns meist ebensowenig bewußt wie die Macht, mit der sie uns zu einer ganz bestimmten Art der Benutzung unseres Gehirns zwingen. Unachtsamkeit beispielsweise ist eine Haltung, die nicht viel Hirn beansprucht. Wem es gelingt, künftig etwas achtsamer zu sein, der wird automatisch bei allem, was er fortan wahrnimmt, was er in seinem Gehirn mit diesen Wahrnehmungen verbindet (aktiviert) und was er bei seinen Entscheidungen berücksichtigt, mehr „Hirn” benutzen als jemand, der weiterhin oberflächlich oder unachtsam mit sich selbst und mit all dem, was ihn umgibt, umgeht. Achtsamkeit ist daher eine ganz wesentliche Voraussetzung für eine andere, vorausschauende Art der Benutzung des Gehirns.
Was sich durch Achtsamkeit auf der Ebene der Wahrnehmung und Verarbeitung an grundsätzlichen Erweiterungen der Nutzung des Gehirns erreichen läßt, kann auf der Ebene der für unsere Entscheidungen und für unser Handeln verantwortlichen neuronalen Verschaltungen wiederum durch eine bestimmte Haltung erreicht werden: durch Behutsamkeit. Mit mangelnder Behutsamkeit, also mit Rücksichtslosigkeit, läßt sich ein bestimmtes Ziel vielleicht besonders rasch erreichen. Komplexe Verschaltungen braucht man, benutzt man und festigt man mit dieser Haltung jedoch nicht.
Aus sich selbst heraus kann ein Mensch diese Haltungen ebensowenig entwickeln wie die Fähigkeit, sich in einer bestimmten Sprache auszudrücken. Er braucht dazu andere Menschen, die diese Haltungen zum Ausdruck bringen. Und, was noch viel wichtiger ist, er muß mit diesen Menschen in einer engen emotionalen Beziehung stehen. Sie müssen ihm wichtig sein, und zwar so, wie sie sind, mit allem, was sie können und wissen, auch mit dem, was sie nicht wissen und nicht können. Er muß sie mögen, nicht weil sie besonders hübsch, besonders schlau oder besonders reich sind, sondern weil sie so sind, wie sie sind. Kinder können einen anderen Menschen so offen, so vorbehaltlos und so um seiner selbst willen lieben. Sie übernehmen deshalb auch die Haltungen und die Sprache der Menschen, die sie lieben, am leichtesten.
Liebe erzeugt ein Gefühl von Verbundenheit, das über denjenigen hinausreicht, den man liebt. Es ist ein Gefühl, das sich immer weiter ausbreitet, bis es schließlich alles umfaßt, was einen selbst und vor allem diejenigen Menschen, die man liebt, in die Welt gebracht hat und in dieser Welt hält. Wer so vorbehaltlos liebt, fühlt sich mit allem verbunden, und dem ist alles wichtig, was ihn umgibt. Er liebt das Leben und freut sich an der Vielfalt und Buntheit dieser Welt. Er genießt die Schönheit einer Wiese im Morgentau ebenso wie ein Gedicht, in dem sie beschrieben, oder ein Lied, in dem sie besungen wird. Er empfindet eine tiefe Ehrfurcht vor allem, was lebt und Leben hervorbringt, und er ist betroffen, wenn es zugrunde geht. Er ist neugierig auf das, was es in dieser Welt zu entdecken gibt, aber er käme nie auf die Idee, sie aus reiner Wißbegierde zu zerlegen. Er ist dankbar für das, was ihm von der Natur geschenkt wird. Er kann es annehmen, aber er will es nicht besitzen. Das einzige, was er braucht, sind andere Menschen, mit denen er seine Wahrnehmungen, seine Empfindungen, seine Erfahrungen und sein Wissen teilen kann. Wer sein Gehirn als ein zeitlebens lernfähiges, für neue Erfahrungen offenes, in freier Selbstbestimmung nutzbares, weder programmier- noch manipulierbares Organ entwickeln und erhalten will, der müßte also eigentlich lieben lernen.
Man kann es auch anders sagen: Er müßte wie ein Kind bleiben und sich die liebende Zuneigung, die Achtsamkeit und Behutsamkeit impliziert, bewahren. Aber der Anpassungsprozeß an die Vorstellungswelt und die Verhaltensweisen der Erwachsenen fordert etwas anderes. Ohne es selbst zu bemerken, entfernt sich der Mensch im Verlauf seines notwendigen Anpassungsprozesses immer weiter von dem, was sein Denken, Fühlen und Handeln ursprünglich, als er noch ein kleines Kind war, primär geprägt hatte: Die eigene Körpererfahrung und die eigene Sinneserfahrung. Indem er all das zu unterdrücken beginnt, was bisher der selbstverständlichste und ureigenste Teil seines Selbst war, wird er sich selbst zunehmend fremd. Sein Körper und die aus seiner Körperlichkeit erwachsenden Bedürfnisse werden – weil sie dem starken Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung, nach Identitätsentwicklung und Selbstentfaltung im Wege stehen – als Hindernis betrachtet und deshalb unterdrückt und abgetrennt.
Das haben wir alle als Kinder und Jugendliche so oder so ähnlich auf mehr oder weniger intensive Art am eigenen Leibe erfahren. In manchen Kulturen ist der Druck zu solcher Entfremdung und Instrumentalisierung des Körpers stärker, in anderen vielleicht auch geringer als bei uns. Aber gänzlich entgehen kann ihm kein Kind, das in einer Gemeinschaft von Menschen aufwächst, die bestimmte Vorstellungen davon haben, wie man als Mensch zu sein hat, um als Mitglied in dieser Gemeinschaft akzeptiert zu werden. Genau das, nämlich das Bedürfnis, irgendwie dazugehören zu wollen, ist der Schlüssel zum Verständnis dieses sonderbaren Anpassungsprozesses, der Menschen dazu bringt, ihr Gefühl von ihrem Verstand und ihren Körper von ihrem Gehirn abzutrennen.
Weil wir Menschen, vor allem als Kinder, allein überhaupt nicht überlebensfähig sind, bleibt einem Kind gar keine andere Möglichkeit, als sich an die Denk- und Verhaltensmuster der Familie, der Sippe, der Gemeinschaft anzupassen, von der sein Überleben abhängt. Glücklicherweise bleibt den Kindern die bewußte Entscheidung zwischen dem eigenen Tod und der Instrumentalisierung, Abtrennung oder Verleugnung des eigenen Körpers erspart. Bevor sie zu begreifen imstande sind, was da von ihnen verlangt wird, ist es bereits geschehen.
Aus „neurobiologischer” Perspektive macht die Unterdrückung von Gefühlen, die Trennung zwischen Denken und Fühlen und die Abspaltung des Körpers vom Gehirn keinen Sinn. Besser verständlich und leichter erklärbar werden all diese Trennungen aber dann, wenn man sie aus „soziologischer” Perspektive betrachtet, wenn man also danach fragt, welchen Sinn sie für den Zusammenhalt von und für das überleben des einzelnen in einer Gemeinschaft haben. Diese Frage ist oben schon beantwortet worden: Nur über die Institutionalisierung des Verhaltens, nur durch die Entlastung des einzelnen durch gemeinschaftlich anerkannte Maßstäbe im Sprechen, Tun, Reagieren kann eine Gemeinschaft als Gemeinschaft leben und ihre einzelnen Mitglieder „stabilisieren”, ihrem Leben einen „Sinn” geben. Auch von der Kehrseite dieser Medaille war die Rede: Starrheit und dumpfe Übernahme des Hergebrachten führen zum Verlust der Offenheit und der Kreativität, zu allgemeiner Verunsicherung und Angst, zum Zerfall sozialer Bindungen und zur Unterbrechung der transgenerationalen Weitergabe von Erfahrungen.
Das menschliche Gehirn ist auf Offenheit und das Knüpfen von Verbindungen, auf „Konnektivität” angelegt, und alles, was die Beziehungsfähigkeit von Menschen – zu sich selbst, zwischen ihrem Denken und Fühlen, zwischen Gehirn und Körper, aber auch zu anderen Menschen, zur eigenen Geschichte, zur Kultur und zur Natur – verbessert und stärkt, führt zwangsläufig zur Ausbildung einer größeren Konnektivität, zu einer intensiveren Vernetzung neuronaler Verschaltungen und damit auch zu einem komplexer ausgeformten Gehirn. Wie lange eine Gesellschaft Bestand haben kann, die gegen das eine oder das andere Prinzip der inneren Strukturierung des menschlichen Gehirns verstößt, bleibt abzuwarten.