Zunächst drängt sich allerdings der Eindruck auf, daß es sich um eine höhere Form des Selbstbetrugs handelt, wie man ihn aus der Hochphase der new economy kennt: Ein Haufen Kreative bastelt ein Werbekonzept, nennt es Arbeit und verdient einen Haufen Geld damit. Im Hintergrund steht der Gedanke, daß man die Geisteswissenschaften toll und wichtig nennen muß, weil sie es auch sind. Noch ein bißchen weiter im Hintergrund steht aber das Gesetz, daß ein Gegenstand, für den ein „Jahr” ausgerufen werden muß, nicht toll und wichtig ist, sondern gestützt werden muß. Und in der Tat geht es beim „Jahr der Geisteswissenschaft” nicht um eine der Leistungsschauen, die zum Prädikat „Eliteuniversität” führen sollen. Schon eher geht es um das Zurschaustellen von Mängeln mit dem Ziel, Hilfe von außen zu erhalten.
Es gab bereits vor dem „Jahr der Geisteswissenschaften” Versuche, Mißstände zu benennen und Maßnahmen zu entwickeln, um die „Krise” zu beenden. Allerdings standen bei dem Manifest Geisteswissenschaften, das unter anderem von den Philosophen Carl Friedrich Gethmann und Jürgen Mittelstraß an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erarbeitet und am 25. November 2005, dem Tag der Geisteswissenschaften (den es seit 2002 gibt), vorgestellt wurde, eher strukturelle Probleme im Vordergrund. Darin heißt es: „Sorge um die Geisteswissenschaften ist begründet. Sorge darum, was mit ihnen geschieht, und Sorge darum, was sie sich antun. Die Sorge ist auch nicht neu.”
Die Autoren gehen davon aus, daß die Geisteswissenschaften im wesentlichen zwei Probleme haben: ein theoretisches und ein institutionelles. Von ihrem Ursprung, den die Geisteswissenschaften ja in der Philosophie haben, sei nicht viel geblieben. Ob nun Wahrheitsfunktion (Kant) oder Bildungsprogramm (Humboldt) – beides habe sich insofern erledigt, als ein systematischer Charakter neben der reinen Ausbildungsfunktion nicht mehr zu erkennen sei. Es herrsche kein zweckfreies Wissenwollen mehr, was natürlich den allgemeinen Umständen geschuldet sei. Und selbst aus der Philosophie sei, da nur noch Philosophiegeschichte, eine Geisteswissenschaft geworden.
Die Autoren weisen die Lehre von den „zwei Kulturen” und der „Kompensation” als gutgemeint (was ja bekanntlich das Gegenteil von gut ist) zurück: Da die moderne Welt kein Bewußtsein von sich selbst habe und der technische Verstand als das Maß aller Dinge gelte, sollen die Geisteswissenschaften die daraus resultierenden Orientierungsprobleme beheben helfen.
Damit stellt sich die Frage nach dem Forschungsbegriff der Geisteswissenschaften im Unterschied zu dem der Naturwissenschaften. Derzeit ist eine Reformulierung der „Aufgabenstellung der Geisteswissenschaften” auf neurowissenschaftlicher Basis im Gange, die deren autonomes Forschungsverständnis aufzulösen droht. Die Gegenstände der Geisteswissenschaften sind jedoch Produkte menschlicher Handlungen und müssen durch Rekurs auf Handlungszwecke erklärt werden. Hier setzt der Philosoph Michael Pauen mit seinem neuen Buch Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes (München: DVA 2007, 270 S., br, 19.95 €) an und erklärt, daß es kein Dilemma zwischen Naturalismus und Menschenbild gebe. In seinem erstaunlich unterhaltsam geschriebenen und klar gegliederten Buch widerlegt er auf breiter historischer und systematischer Basis die Annahme, daß die Hirnforschung unser Menschenbild dramatisch, etwa in Fragen der Freiheit unseres Handelns, verändern würde.
Pauens historisches Argument bezieht sich auf den Erfolg der Naturwissenschaften, die die Phänomene besser erklären konnten als metaphysische Annahmen. Damit ist zunächst nicht mehr als ein Hinweis auf die Lösung gegeben, da sich in Zukunft die Sachlage anders darstellen könnte. Sein systematisches Argument lautet deshalb, daß es keine prinzipiellen Schwierigkeiten gebe, zentrale geistige Eigenschaften auf natürliche Prozesse zurückzuführen. Auf das Beispiel der Willensfreiheit bezogen heißt das, daß Determination nicht zur Unfreiheit führt. Im Gegenteil: Der Zufall würde Unfreiheit zur Folge haben. Die Frage ist also nur, wie eine Handlung determiniert ist. Ob der Handelnde dies selbst tut oder nicht. Nun ist festzuhalten, daß eine solch extreme Ansicht über die Unvereinbarkeit der Willensfreiheit mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen eine Minderheitenmeinung darstellt, die durch Pauen nicht letztgültig entkräftet wird, so daß er auf empirische Untersuchungen, die Gegenteiliges nahelegen, zurückgreifen muß. Pauens Buch führt damit auf ein zentrales Thema des Jahres der Geisteswissenschaften: die Frage, ob die Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften systematisch überzeugend ist.
Das Dilemma, das entsteht, wenn man versucht diese Einteilung streng durchzuhalten, zeigt Volker Gerhardt im Merkur 696 unter der Überschrift „Im Jahr des Geistes” auf. Davon unberührt ist aber der Begriff des Geistes selbst. Wenn die Geisteswissenschaften in Deutschland im Gegenwind des Zeitgeistes stehen, so tun sie dies vor allem, weil sie vergessen haben, was der Geist ist. Davon zeugt der Tagungsband eines bereits im Juli 2005 anläßlich des Erscheinens des letzten Bandes des Historischen Wörterbuchs der Philosophie in Berlin abgehaltenen Symposiums, der jetzt erschienen ist: Geisteswissenschaften – im Gegenwind des Zeitgeistes? (Stuttgart: Franz Steiner 2007, 75 S., br, 16 €) Die Vermutung des Herausgebers Klaus-Michael Kodalle, daß, was den Rechtfertigungsdruck der Geisteswissenschaften betrifft, etwas „durchgeamtet” werden darf, widerlegt er gleich selbst: „Jene zieloffene Selbstentfaltung aber wird von starken Kräften wohl deshalb für obsolet gehalten, weil in ihr ein Restbestand älterer Elitevorrechte wahrgenommen wird.” Dem hält unter anderem Hermann Lübbe entgegen, daß das geisteswissenschaftliche Studium zunehmend praktisch nutzbar sei: Die Geschichtswissenschaft soll ein 1984 verhindern, die Philosophie Orientierungswissen vor allem in ethischer Hinsicht erzeugen und Politikwissenschaft die Ideengeschichte als Zeughaus (Kreativitätsreserve) nutzen (Münkler). All das klingt wenig überzeugend. Interessant ist der amerikanische Blick auf die geisteswissenschaftliche Selbstbespiegelung in Europa. Die Rawls-Schülerin Susan Neiman führt aus, daß sich ausgerechnet im pragmatischen Amerika die Geisteswissenschaften nicht rechtfertigen müssen. Die Unterschiede seien fundamental. Das Verhältnis zur eigenen Fachgeschichte, das Verhältnis von Fortschritt und Originalität, die Bedeutung von Beweis und Rhetorik, kurz die Rolle des Individuums in der Wissenschaft, wird in den Vereinigten Staaten anders gewichtet. Es komme dort vor allem darauf an, daß Inhalt und Ausdruck in der Persönlichkeit des Geisteswissenschaftlers eine Verbindung eingehen. Hier ist die Unterscheidung aufgenommen, die auf der Unterscheidung Kants zwischen Verstand und Vernunft basiert. Allerdings verschwimmen bei Neimann die Grenzen zwischen Philosophie und Geisteswissenschaft, denn nicht jede Geisteswissenschaft hat es mit der Vernunft zu tun, sondern hin und wieder schlicht mit Faktensammeln oder der Edition von Texten. Neben diesen grundsätzlichen Fragen sollte das Jahr der Geisteswissenschaften, von dem bereits mehr als die Hälfte folgenlos verstrichen ist, die Auswüchse thematisieren, die an deutschen Universitäten Alltag sind. Die Einführung der BA/MA-Studiengänge sollte beispielsweise Abhilfe bei den langen Studienzeiten schaffen und ist doch nur Ausdruck der Flucht vor der Wirklichkeit. Anstatt die Studenten zum zügigen Abschluß zu zwingen, wird ein neues System eingeführt. Einfacher und konsequenter wäre der andere Weg gewesen. Doch unverhüllt Disziplin zu verlangen, erfordert Sicherheit und Kompetenz. Die werden wir in Zukunft immer weniger haben. Bereits heute ist die geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung von Unsicherheit geprägt: Man ist nett zueinander. Verrisse sucht man in den geisteswissenschaftlichen Fachorganen vergeblich: Man könnte ja falsch liegen, also lieber verhaltenes Lob anbringen. Das kostet nichts und ist genauso billig zu haben, wie der korrekt erlegte Thunfisch.