Die Soldaten wurden dafür von den Briten in einem Sonderlager untergebracht und mittels Spitzeln zu Gesprächen ermuntert. Dabei fällt auf, daß Groß ohne Begründung davon ausgeht, daß diese Spitzel unerkannt blieben und die Soldaten nicht merkten, daß man sie aushorchen wollte. Das erscheint seltsam, denn die Memoirenliteratur ist voll von Schilderungen über die Kriegsgefangenschaft und dem Spitzelunwesen in den Lagern. Diese wurden relativ schnell erkannt. Warum sollte es hier nicht der Fall gewesen sein?
Die Art und Weise der Gefangenschaft – komfortable Unterbringung, üppige Verpflegung, keine Zwangsarbeit, Zeit für Muße und Gespräche – muß die Gefangenen mit der Nase darauf gestoßen haben: Hier wollte man ihnen militärische Interna und allgemeinpolitische Einstellungen entlocken. Diese Umstände sollten keinen Einfluß auf ihre Aussagen gehabt haben? Die Äußerungen der Soldaten werden nicht kritisch hinterfragt. Ob Selbsterlebtes oder Hörensagen – sind die geschilderten Ereignisse verifizierbar? Ein Offizier will 1943 in Simferopol eine Massenexekution von 40000 Juden gesehen haben, dabei waren die Mordaktionen der Einsatzgruppe D bereits im Frühjahr 1942 mit der Meldung »Krim judenrein« beendet worden. In bezug auf »irreguläre Gewalt« gegen Partisanen vermeidet es Groß, die damalige Rechtslage darzulegen, so daß der Leser den Eindruck gewinnen muß, die standrechtliche Erschießung von zweifelsfrei als Freischärler erkannten Kämpfern sei per se nicht rechtmäßig gewesen. Ähnliches gilt für die Geiselproblematik.
Auch macht der Autor keinen Unterschied zwischen Requirierung, Diebstahl oder Plünderung. Einen wesentlichen Punkt hat Groß völlig unbeachtet gelassen: Menschen sagen aus unterschiedlichen Gründen die Unwahrheit, etwa um sich wichtig oder sympathisch zu machen oder um Anerkennung zu finden. Sie passen sich in ihren Aussagen ihrer Umwelt an. Groß’ mangelnde Kenntnis militärischer Terminologie fällt auf: Der Erste Generalstabsoffizier heißt nicht »1A«, sondern »Ia«, Armeen werden mit arabischen und nicht mit römischen Ziffern numeriert. Hier liegt der Grund für Groß’ fehlende Quellenkritik: Er ist kein Militärhistoriker und nicht kompetent genug, die Aussagen der Abgehörten sachgerecht zu bewerten.
Sebastian Groß: Gefangen im Krieg: Frontsoldaten der Wehrmacht und ihre Weltsicht, Berlin: bebra Verlag 2012. 335 S., 36 €