Die damit verbundene asymmetrische Kriegführung zeigt dem Staat jedoch die Grenzen militärischer Interventionen auf. Am Fall Afghanistan wird der illusionäre Charakter von Auslandseinsätzen deutlich: Dort kann der Westen nicht gewinnen, weil er drei Irrtümern aufsitzt: Erstens, Afghanistan wird als kulturelles und historisches Isolat betrachtet. Man glaubt, dort nation-building als Teil des weltweiten Kampfes gegen den Terrorismus durchexerzieren zu können. Nation-building ist aber die zivile Kehrseite der bewaffneten Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency) und provoziert Widerstand. Zweitens, Stammesstrukturen werden als zu überwindende »mittelalterliche« Relikte abgetan. Damit unterläuft dem Westen eine fatale Fehleinschätzung. Drittens, man unterschätzt die identitätsbildende Kraft des Islam.
Afghanistan im regionalen Zusammenhang
Das von einer Vielzahl kleinerer und größerer ethnischer Gruppen besiedelte Territorium namens Afghanistan ist Teil einer großen Fließzone kultureller, ethnischer, sprachlicher und religiöser Gemengelagen ohne deutliche Abgrenzungen voneinander. Dieses Kontinuum setzt sich nach Westen im Iran, nach Norden in den zentralasiatischen Staaten und im Westen und Südwesten auf dem indischen Subkontinent fort. Die einzigen Grenzen, die in der Vergangenheit eine Bedeutung hatten, waren die sich ständig wandelnden Grenzen wechselnder dynastischer Herrschaften.
Afghanistan war seit jeher ein Durchgangsraum zwischen Ost und West, Nord und Süd mit fließenden ethnischen und kulturellen Übergangszonen. Immer wieder fielen unterschiedliche Völker aus Zentralasien hier ein und drängten weiter in Richtung Indien, oder wurden von nachrückenden Völkern dorthin abgedrängt. Im Zuge der arabischen Eroberungen seit dem 7. Jahrhundert verbreiteten sich mit dem Islam arabische Sprache und Schrift in der gesamten Region. Muslimische Invasionen bedrohten seither immer wieder auch den indischen Subkontinent.
Afghanistan war bis 1747 Teil umfassenderer Herrschaftsgebiete unter wechselnden, mal afghanischen, mal nichtafghanischen Dynastien. Diese Konstellation zog sich bis zu dem Great Game genannten machtpolitischen »Spiel« um die Vormachtstellung in Asien im 19. Jahrhundert, das zwischen Großbritannien, dem Zarenreich und Persien ausgetragen wurde. Auch in der Gegenwart suggerieren die Grenzen auf der Landkarte eine kulturelle und staatliche Einheit und Souveränität, die so nicht besteht. Interveniert man dort, sind auch andere Länder betroffen, insbesondere Pakistan.
Das Zeitgemäße der Stammesstruktur
In einem Land wie Afghanistan nation-building betreiben zu wollen, nach Maßgabe moderner europäischer Staats- und Rechtsordnungen mit ihren Korrelaten Zivilgesellschaft, Parteienpluralismus, Säkularisierung, Individualismus und Menschenrechten, kommt dem Versuch gleich, den sprichwörtlichen Pudding an die Wand zu nageln. Dergleichen setzt eine spezifisch europäische Entwicklung voraus, die im Lehnswesen und seiner Auflösung ihren Ausdruck fand, wodurch die aus den alten Bindungen »freigesetzten« Individuen sich unter kapitalistischem Vorzeichen in Bürgertum und Arbeiterschaft neu formierten. Der säkulare, laizistische moderne Rechtsstaat trat an die Stelle der religiös legitimierten alten Feudalordnung und lieferte als Nationalstaat auf der Grundlage einer als je eigenständig wahrgenommenen und geförderten Kultur eine neue ideelle Klammer für die – unterschiedlichen Interessen verpflichteten – Bürger.
Keine dieser Bedingungen liegt in Afghanistan vor, in dem grenzüberschreitende, auf Verwandtschafts- und Clanstrukturen basierende Stammeskonföderationen das Sagen haben, wie sie im zentralasiatischen Raum seit jeher geschichtsbestimmend waren. Dabei handelt es sich nicht um feudale Gebilde, sondern um durch Religion und Brauchtum integrierte Rechts- und Loyalitätsgemeinschaften. Die einzelnen Segmente dieser Stämme schließen sich aufgrund von Stammbaumbeziehungen bei gegebener Interessenlage zeitweilig gegen ungefähr gleich große Gruppen innerhalb des Stammes zu größeren Verbänden zusammen, zerfallen aber ebenso schnell wieder in ihre Komponenten. Diese »komplementäre Opposition« manifestiert sich in erster Linie bei Rechtsstreitigkeiten und den häufig damit zusammenhängenden kriegerischen Konflikten, aber auch in anderen politischen Situationen wie bei der Besetzung vakanter Führungsämter. Dadurch wird ein gruppenweise organisiertes Aufgebot möglich. Gruppenziele lassen sich auf Kosten anderer Gruppen durchsetzen, mit denen man aber bei geänderten Verhältnissen wieder zusammengeht. Man könnte solchen Gruppen das Motto unterstellen: »Der Feind meines Feindes ist auch mein Feind.«
Die heute etwa 40 Millionen Paschtunen besitzen solch eine segmentäre Organisation. Sie gelten als größte Stammesgesellschaft der Welt. Sie führen sich auf einen gemeinsamen Stammvater zurück, Qais Abdur Raschid. Exakte Zahlen sind schwer zu bekommen, aber als Faustregel kann man von zwölf Millionen in Afghanistan (40 Prozent der Gesamtbevölkerung) und 25 bis 27 Millionen in Pakistan (ca. 15 Prozent der Gesamtbevölkerung) ausgehen. Die beiden großen paschtunischen Stammeskonföderationen der Ghilzai und Abdali spielen bis heute eine überragende Rolle. Mal gingen sie gegen einen gemeinsamen Gegner vor, um dann wieder gegeneinanderzustehen.
Der bewaffnete Widerstand gegen die Versuche Großbritanniens, Afghanistan im 19. Jahrhundert im Zuge des Great Game unter direkte Kontrolle zu bringen, wurde maßgeblich von den Ghilzai getragen. Das Muster ständig wechselnder Allianzen sogar innerhalb eines Stammes nach dem Prinzip der komplementären Opposition liegt auch gegenwärtigen Konfliktlagen zugrunde. Drei der prokommunistischen Präsidenten Afghanistans waren Ghilzai-Paschtunen (Muhammad Taraki, Hafizullah Amin, Muhammad Nadschibullah), aber auch die Taliban rekrutierten sich vornehmlich aus den Reihen der Ghilzai. Der heutige Präsident Afghanistans, Hamid Karzai, gehört dagegen dem Durrani-Unterclan der Popalzai an und ist ein Nachfahre von Achmad Schah Durrani.
Es wäre ein fataler Irrtum, solche Stammesstrukturen als »mittelalterlich« abzutun, denn damit ist ja die Vorstellung der Rückständigkeit verbunden und die Überzeugung, diese Strukturen im Zuge der »Modernisierung« durch nation-building überwinden zu können. Stammesstrukturen sind vielmehr in der Moderne angekommen. In Karatschi leben heute rund eineinhalb Millionen Paschtunen, die das private Transportwesen beherrschen. Paschtunen sind weltweit online vernetzt (www.pashtunforums.com).
Die transnationalen Stammesnetzwerke geben den Stammesgenossen Vorteile, die keine nationale Zugehörigkeit bieten könnte. Daher resümiert der Orientalist Olivier Roy: »Die Stämme sind zur Welt hin offen. Das Stammessystem verschwindet nicht, es paßt sich der Globalisierung und den supranationalen Ideologien an. Der Stamm existiert weiter und greift auf die ganze Welt über, was oft mit wirtschaftlicher Globalisierung einhergeht (Beteiligung am Drogenhandel, an Schmuggel, an Arbeitsmigration)«. Die Taliban nutzen jedenfalls die Vernetzung der Stammesstrukturen gewinnbringend zur Erhebung von Zöllen bei Drogenanbau und Schmuggel.
Islamische Solidarität
Der Islam stiftete bereits in der Zeit vor den europäischen Interventionen den Zusammenhalt verfeindeter paschtunischer Stämme beim Widerstand gegen die Herrschaft der Moguln in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Der Mechanismus der komplementären Opposition, durch das einigende Band des Islam verstärkt, könnte eine grenzübergreifende Solidarisierung der Völker Afghanistans und teilweise Pakistans gegen den Westen zustande bringen. Die schwer zu überwachende afghanisch-pakistanische Staatengrenze (Durand-Linie) geht mitten durch das Gebiet der Paschtunen, von denen sie nicht anerkannt wird. Ghilzai-Nomaden können sie ungehindert überqueren. Sie wurde 1893 auf britischen Druck hin gezogen, um die Paschtunen zu schwächen und Britisch-Indien besser zu schützen. Das Prinzip der Staatsgrenze wird durch die Stammesstrukturen auf beiden Seiten und die gemeinsame islamische Basis ausgehöhlt. Es ist nicht verwunderlich, daß beispielsweise der pakistanische Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) im Machtpoker zwischen Pakistan und Indien um regionalen Einfluß und Zugriff auf die Rohstoffvorkommen Zentralasiens eine Doppelrolle spielt – einerseits werden die Taliban verdeckt unterstützt, andererseits stellt sich Pakistan an die Seite der USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Verwunderlich ist vielmehr, daß sich Politiker und Journalisten darüber immer noch wundern.
Wem nützt der Einsatz in Afghanistan?
Wahrend der Zeit des Great Game fürchtete Großbritannien um seine Herrschaft in Britisch-Indien. Mit dem anglo-russischen Abkommen von 1907 wurde ein Interessenabgleich in Zentralasien vereinbart, der aber schon 1918 mit Lenins Aufruf an die Massen Asiens, dem bolschewistischen Beispiel zu folgen, wieder aufgekündigt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg schied Großbritannien endgültig als »Spieler« aus. Die Neuauflage des Great Game seit der Zeit um die Jahrtausendwende steht im Zeichen der Brzezinski-Doktrin, der Sicherung der weltpolitischen Vormachtstellung der USA auch durch Kontrolle der politischen Lage in Zentralasien. China, Indien und Rußland sind die Gegenspieler der USA und ihrer Verbündeten.
Die wahre Aufgabe der von der politischen Klasse zweckentfremdeten Bundeswehr in Afghanistan ist es, dort den Interessen der USA zu dienen. Den Kollateralnutzen haben ferner die Staaten der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (China, Rußland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan), die die Gefahr islamistischer Aufstände in ihren Territorien fürchten. Peter Scholl-Latour hat auf diesen, in den Medien kaum beachteten Aspekt hingewiesen: »Durch die Präsenz der Bundeswehr in Afghanistan wird nicht Deutschland am Hindukusch verteidigt, sondern die Russische Föderation und ihre Klienten … ein Versacken der NATO in Afghanistan entspricht den objektiven Interessen Moskaus. An die Adresse der unbelehrbaren Strategen des Westens richtete ein enger Berater Putins die grobe Aufforderung: ›You’ll have to eat your own shit‹«.