Das Buch mit dem kalauernden Titel erfuhr freundliche, gar hymnische Besprechungen. Ins Portfolio seines Verlags paßt es hervorragend: Klett-Cotta hat mit Sabine Bodes Büchern über Kriegskinder und ‑enkel (Sezession 31/2009) langlebige Verkaufsschlager im Programm.
Leos Buch will man kaum Roman nennen, es ist ein (auto)biographischer Lang-Essay. Dem Autor, Jahrgang 1972, wurde von seinem Vater »ein Stapel altersschwaches Durchschlagpapier« geschenkt. Es sind Notizen seines Großonkels Martin. Der Vater vermutete zu Recht, daß das Material den Sohn interessieren würde. Der ist Historiker wie sein Urgroßvater Heinrich (siehe S. 32 dieser Sezession!), er hat sich mit einer Arbeit über »Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft 1890–1940« promoviert. Warum dieses Studium?
»Grundlagenvertiefung für Nazienkel«, analysiert Leo seine Motivation. Als Angelfigur nennt er Professor Ulrich Herbert. Der habe mit »männlicher Strenge unser kirchentagsmäßiges Bild vom Holocaust, das eine Schlüsselstellung in unserem Gefühlsleben eingenommen hatte«, reformiert. Herbert erschloß seinen Studenten die Lebenswelt der Konservativen Revolution, den »Ethos des Endlich-machen-statt-Laberns«, der Bürgersöhne zu Nazis gemacht habe. »Wir wollten Herbert gefallen, so wie die jungen SS-Offiziere Werner Best und die jungen Bests Ernst Jünger gefallen wollten.«
Martin, den der Großneffe kaum kannte, erweist sich als einzelgängerischer Goetheaner, anthroposophisch angehaucht. Sein jüngerer Bruder Friedrich, Pers Großvater, war Nationalsozialist. Der Enkel verfolgt die Spuren beider Männer. Wie wurden sie zu dem, was sie waren? Friedrich hatte seinen Enkeln stets Butterkuchen spendiert, wenn sie die einsachtzig erreicht hatten. Leo erkennt verspätet den Grund: Friedrich war amtlich bestellter Rasseprüfer gewesen. Per ist also ein waschechter Nazienkel. Was das bedeutet, wird ihm klar, als er wegen depressiver Verstimmungen einen psychologischen Dienst aufsucht. Die Psychodame wischt seine Beschwerden beiseite und bittet den Hilfesuchenden gelangweilt, von seiner familiären Situation zu erzählen. Als er bei »Chef im Rasseamt« ankommt, läßt die Seelenpflegerin den Stift sinken. Sie lauscht beeindruckt, »dankbar«.
Und Leo fühlt sich wieder »party-tauglich«: »Niemand hätte sich angezogen gefühlt, wenn ich als Erbe Mengeles dahergekommen wäre. Aber die wohlverpackte Mischung aus alter Familie und blondem SS-Offizier schien ohne Umweg über die Hirnrinde eine kräftige Leitbahn des vegetativen Nervensystems zu elektrisieren. Kategorie rassiger Gentlemanverbrecher oder so. … Ganze Batterien höherer Töchter hätte man mit dieser Edelnazimasche ins Bett kriegen können.« Ist das so?
Per Leo beschreibt die Werdegänge von Martin und Friedrich nahezu minutiös, er breitet die verschachtelte Familiengeschichte aus. Das ist mitunter langwierig und sprachlich nicht immer schön. Wer will von Schlägen »in die Fresse«, von »Schnitzelfürzen« philosophieren hören? Als Zeitkolorit halten Szenen aus der Bundesliga her: ein beliebter, abgeschmackter Retro-Griff, der unwillkürlich auf die Banalität einer bundesrepublikanischen Nachkriegsexistenz verweist. Von Friedrich ist eine »Bekenntnisschrift« überliefert (»Lebe bewußt! Habe Mut zur Wahrheit! Sei hilfsbereit und gerecht!«), die der Enkel als »hirnverbrannten« Sound brandmarkt. Martin war definitiv der weisere Bruder.
Schöne Szenen hält das Buch im hinteren Drittel parat. Dort geht es erstens um eine Reise in die DDR (Martin lebt dort) und um das Nichtgenugkriegen des Autors »vom sogenannten Grau«, das »in Wirklichkeit ein unermeßlicher Reichtum an unreinen Farben« war. Die sinnliche Qualität des Unrechtsstaates wird hier maßgeblich erfaßt. Zweitens nähert sich Leo hier auf zwar abwehrende, doch eindrucksvolle Weise seinem einstigen wissenschaftlichen Sujet, der Graphologie Ludwig Klages’. Wie geht es einem Jugendlichen, »der erleben muß, daß der Anblick einer blumigen Mädchenschrift den Zauber eines zweisamen Gesprächs für immer vertreiben kann?« Per Leos skrupulöser Familienroman: teils-teils (Gottfried Benn).
Per Leo: Flut und Boden. Roman einer Familie, Stuttgart: Klett-Cotta 2014. 348 S., 21.95 €