Diese These soll die folgenden, knappen Bemerkungen über Bernhard Buebs Streitschrift Lob der Disziplin grundieren. Sie ist eben im List-Verlag erschienen (176 Seiten, gebunden, 18.00 €) und schickt sich an, die 874. Bildungsdebatte nach Hitler auszulösen. Bernhard Bueb leitete von 1974 bis 2005 die Internatsschule Schloß Salem in Oberschwaben. Wenn man das Büchlein liest, das Bueb jetzt gegen die ganzen GEW-Lehrer verteidigen muß, erkennt man, daß sich da einer von seinem Selbstverständnis her gegen die Abschaffung des Erziehens und der als konservativ bezeichneten Erziehungsmittel durch die Generation der Achtundsechziger wendet und dies vielleicht schon seit dreißig Jahren tut. Die Kapitel seiner „Streitschrift” (so der Untertitel) lauten etwa: „Mut zur Erziehung”, „Disziplin wirkt heilend”, „Man muss nicht immer über alles diskutieren” und „Unordnung bringt frühes Leid”. Und Theodor Fontane, Preuße par excellence, steuert das Motto bei: „Freiheit freilich. Aber zum Schlimmen / Führt der Masse sich selbst Bestimmen. / Und das Klügste, das Beste, Bequemste / Das auch freien Seelen weitaus Genehmste / Heißt doch schließlich, ich hab’s nicht Hehl: / Festes Gesetz und fester Befehl.”
Alles, was Bueb im Kielwasser dieses Vorspruchs ausführt und mit reichlich Beispielen aus dem Salemer Schulalltag veranschaulicht, muß selbst in den Ohren eines harmoniesüchtigen Beschwichtigungskonservativen aus den Reihen der Oettinger-Rüttgers-Beust-CDU wie die Zusammenfassung von Selbstverständlichkeiten klingen. Von Ordnungsrahmen, Führung und einer „Unschuld im Verhältnis zur Macht” ist da die Rede, von Gehorsam und Strafe und einem Ende der Diskussionen mit denen, die ganz naturgegeben unfertig vor den Erwachsenen stehen und der liebenden Strenge dort zu folgen gerne bereit sind, wo sich natürliche Autorität mit Fachkompetenz paart. Bueb zieht gegen den Fernseher als dem größten Feind der Kreativität, des Spiels und der Selbstüberwindung zu Felde. Es ist fein, daß das mal einer sagt, der breites Gehör finden wird – weil er eine Eliteschule leitete und weil die Zeit danach ist: Eine Menge Leute, die um die Zukunftschancen ihres Nachwuchses bangen, werden vom Schulleiter Bueb und seinem durch seine Führung geeichten Kollegium begierig hören wollen, wie man mit Kindern vom Zuschnitt „Ich.Alles.Sofort” fertig werden kann.
Bereits auf dem Schutzumschlag von Buebs Streitschrift steht also der Begriff, der für den Erziehungserfolg von zentraler Bedeutung ist: Disziplin. Das ist nun ein Wort, das mächtig nach Militär klingt und in der Nähe des Dienens steht: Disziplin bedeutet, den Auftrag oder eine grundsätzliche Haltung über die Bedürfnisse der eigenen Person zu stellen. Ein disziplinierter Mensch hört nicht auf innere Stimmen, die ihm sagen, er solle sich gehen und eine Aufgabe eine Aufgabe sein lassen. Nur ein disziplinierter Mensch erledigt unabhängig von irgendwelchen Stimmungen das, was er tun soll, und zwar auf gleichbleibend hohem Niveau. Tagesformen machen sich dann nur innerhalb einer tragbaren Bandbreite bemerkbar, und vor allem hängt die Leistung nicht davon ab, ob ständig einer bettelnd oder mit der Knute hinter dem Schüler steht.
Konsequent steht deshalb neben Buebs Lob der Disziplin eine Beschreibung des Begriffs „Freiheit”, die wie selbstverständlich an die Formel von der „Freiheit in Bindung” erinnert. „Wir sind der verführerischen Meinung erlegen, daß Jugendliche Freiheit erwerben, wenn man ihnen früh Freiheit gewährt. Freiheit ist aber die späte Frucht von langwierigen Perioden der Selbstüberwindung, der mühsamen Umwandlung von Disziplin in Selbstdisziplin. Freiheit ist kein Zustand, den man gewährt.” Und weiter: „Auch ich habe lange an eine Erziehung zur Demokratie durch frühe Demokratisierung der Schüler geglaubt. Inzwischen vertrete ich die Auffassung, daß Internate wie Salem mit einer demokratischen Schülermitverwaltung unregierbar sind.”
Solche Sätze nähern sich der oben angesprochenen These. Sie sagen ja nichts anderes aus, als daß der kind- und jugendgemäße Erziehungsraum kein Abbild der deutschen Besiegten-Wirklichkeit (FDGO) sein darf, wenn die Erziehung erfolgreich sein soll. Nach Bueb liegt der zentrale Auftrag aller Erziehung darin, den Glauben junger Menschen an sich selbst zu stärken, keinesfalls aber darin, so etwas wie eine Schweinchen-Schlau-Mentalität zu fördern. Das in Deutschland übliche System der frühen Demokratisierung mittels gewählter Schülermitverwaltung bewirke aber genau dies: Es „produziert eine Gewerkschaftsmentalität, es fördert Egoismus und Spaßhaltung. Die Schüler lernen Politik als die Kunst, ihre Rechte, ihre Vorteile, ihre Freiheiten und ihre Bequemlichkeiten durchzusetzen.”
Bueb wuchert mit dem Pfund seiner jahrzehntelangen pädagogischen Alltagserfahrung, wenn er den demokratischen Elementen der Schülerbeteiligung an der Schulorganisation ihre Zweckdienlichkeit abspricht. Er verweist geradezu neidisch auf angelsächsische Internatsgewohnheiten, bei denen durch Ernennung und Auszeichnung von oben eine sinnvolle Hierarchisierung der Schülerschaft erreicht, ein Ordnungsrahmen gesetzt wird: Es gibt dann privilegierte Schüler, die eine qua Leistung und Charakter legitimierte Position zwischen den Lehrern und ihren Mitschülern einnehmen dürfen, die dabei aber bestimmte Gemeinschaftsaufgaben übernehmen und die relative Distanz zu ihren Altersgenossen ertragen müssen. Wie gesagt: Diese Schüler werden nicht gewählt, sondern eingesetzt und durch diesen Akt mit einer bestimmten Würde versehen. Vor allem aber sind sie nicht denen verpflichtet, die sie wählten, sondern der Idee eines Amtes, das ihnen verliehen wurde.
Der Schutzraum, den Bueb in der Tradition vieler erfahrener Pädagogen über seinen Zöglingen aufspannen möchte, geht vom Unfertigen, Unmündigen des Kindes und des Jugendlichen aus. Die Streitschrift wird dort gesellschaftspolitisch, wo Bueb der heutigen Restfamilie (Einzelkind oder alleinerziehend) die Fähigkeit abspricht, einen solchen Schutzraum überhaupt noch gewähren zu können. Bueb fordert dort die Ganztagsschule, wo keine Internatserziehung möglich ist. Solche Überlegungen haben ihren Grund in der Überzeugung, daß die meisten Eltern (also vermeintlich mündige Bürger) ihre Kinder vor den schädlichen Einflüssen unserer Lebenswirklichkeit nicht mehr schützen können: aggressive Werbung, radikaler Konsumkapitalismus, sozialtherapeutische Atmosphäre bei gleichzeitiger innerer Verwahrlosung, Wertnihilismus, Egoismus. Bueb argumentiert also aus blanker pädagogischer Not, weil er es mit einer selbst bereits unerzogenen Elternschaft zu tun hat, die nun ihrerseits vollends außerstande ist, den jetzt schon wiederholt erwähnten erzieherischen Schutzraum für ihre Kinder zu errichten.
In der Konsequenz heißt das: Bueb möchte eine ganze Generation überspringen, er möchte ihr die Kinder nehmen, weil er ihr in Sachen Erziehung nichts zutraut. Woher möchte er aber die Lehrer für einen solchen Neuanfang nehmen? Auch sie sind Kinder einer Gesellschaftsordnung, die „von einer Substanz an Sinn, Legitimität und Ethos zehrt, die von ihr nicht hervorgebracht wurde und die sie auch nicht bewahren kann, sondern vielmehr im Zuge ihrer eigenen Entfaltung sukzessive dem Abbau und Verschleiß überantwortet.” So drückte das 1974 Gerd-Klaus Kaltenbrunner aus, der in dem Band Klassenkampf und Bildungsreform in der von ihm herausgegebenen Herderbücherei INITIATIVE überhaupt bereits alles versammelte, was es zu diesem Thema zu sagen gibt. Viel deutlicher als Bueb gibt Kaltenbrunner der Achtundsechziger-Generation nicht die Schuld am Erziehungs- und Bildungsdebakel, das damals schon durchbrach: „Sie ist nicht das Werk kommunistischer Verschwörer, sondern eine Konsequenz jahrzehntelangen bürgerlich-liberalen Sturmlaufs gegen Autorität, Geschichte und Disziplin, eines im Grunde sowohl transzendenz- als auch politikfeindlichen Individualismus, der aus der Deckung des Grundgesetzes die Deutschen von ihrer vielgeschmähten Untertanenmentalität zu kurieren unternahm.”
Damit ist die These vom Anfang wieder eingeholt und die Frage zwar noch nicht beantwortet, aber dringlicher gestellt. Jedoch liegt eine Antwort nahe: Deutschland wird einen großen Teil seines ohnehin spärlichen Nachwuchses im Stich lassen. Wer Geld und Überzeugungen oder bloß letzteres hat, wird Internate und Privatschulen für seine Kinder wählen und dort den notwendigen demokratiefreien Raum aufspannen lassen.