auf die kein Verlaß mehr ist, Gegenöffentlichkeiten aufgebaut werden könnten.
Der Anspruch dieser alternativen Strukturen muß es sein, das Volk besser zu repräsentieren als die Regierung. Worauf es dabei ankommt, hat Eric Voegelin in seiner Neuen Wissenschaft der Politik auf den Punkt gebracht:
Um repräsentativ zu sein, genügt es nicht, wenn eine Regierung im konstitutionellen Sinn repräsentativ ist; […] sie muß auch im existenziellen Sinne repräsentativ sein, indem sie die Idee der Institution verwirklicht. […] Wenn eine Regierung lediglich im konstitutionellen Sinne repräsentativ ist, wird ihr früher oder später durch einen repräsentativen Herrscher im existenziellen Sinn ein Ende bereitet; und sehr wahrscheinlich wird der neue Herrscher nicht allzu repräsentativ im konstitutionellen Sinne sein.
Unter dem Volk, das repräsentiert werden will und muß, verstand Voegelin „nicht rein äußerlich eine Menge von Menschen, sondern die mystische Substanz, von der her die Eruption zur Artikulierung erfolgt“. Sollte es tatsächlich einen solchen „Trieb dieser Substanz“ geben, sich „als ein Seiendes zu behaupten“, müßte uns um Deutschland nicht bange sein. Es würde dann genügen, auf die Widerstandskraft des Volkes in der größten Not zu vertrauen.
Daß es sich nicht ganz so einfach verhält, wußte allerdings auch Voegelin, der insbesondere aufgrund seiner Analysen zu „politischen Religionen“ und „gnostischen Bewegungen“ eine größere Bekanntheit erlangte. Bei der Repräsentation des Volkes gibt es schließlich zwei Hauptprobleme, die bis heute sichtbar sind: Zum einen neigen die Repräsentanten dazu, sich nach anfänglichem Idealismus nur noch auf den Machterhalt und die Machtsicherung zu fokussieren. Zum anderen besteht die Gefahr, daß aus dem Idealismus eine weltfremde Ideologie erwächst.
Zur Lösung dieser zwei Hauptprobleme der Repräsentation haben die Intellektuellen bisher übrigens bemerkenswert wenig beigetragen. Die einen schlossen sich als pseudowissenschaftliche Diener den gnostischen Aktivisten an, die anderen, die sich einer ergebnisoffenen Wahrheitssuche verschrieben hatten, blieben politisch wirkungslos.
Der tschechische Dichterpräsident Václav Havel (1936–2011) verkörpert hier vielleicht eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Seine „Parallel-Polis“ sollte eine Ansammlung von unbürokratischen Gemeinschaften sein, die sich jenseits von Parteien auf konkrete Aufgaben stürzen, die für die gesamte Ordnung von Relevanz sind. Dies läuft auf einen Pragmatismus der Tat hinaus, der das Volk dazu motivieren will, sich wieder im existenziellen Sinne zu artikulieren.
Nach meiner festen Überzeugung läßt sich dieses Ziel der Sinngebung für parallele Institutionen des Volkes nur realisieren, wenn sich die Mitglieder dieser Gemeinschaften persönlich kennen und auf kommunaler Ebene damit beginnen, die öffentlichen Angelegenheiten neu zu ordnen und selbst zu verwalten. Dennoch bietet das Internet natürlich die Möglichkeit, diesen Plan gleich viel umfassender anzugehen. Dies zeigen Onlinepetitionsplattformen wie change.org.
In Wirklichkeit wird hier allerdings nur darum gebettelt, von der Politik gehört zu werden. Aber ginge es nicht auch anders? Würden sich fünf, zehn oder 20 Millionen Deutsche auf einer Plattform zu digitalen Volksabstimmungen verabreden und dort über alle relevanten politischen Fragen parallel zum Bundestag entscheiden, könnten die staatlichen Institutionen diese Meinungskundgebungen nicht mehr ignorieren, wenn die Abstimmenden so konsequent wären, möglichst gemäß ihrer eigenen Entscheidungen auch zu handeln.
Bestes Beispiel hierfür ist die Abschaffung des Rundfunkbeitrags: Wir sollten nicht abwarten, bis irgendwann auf Bundesebene Volksentscheide erlaubt werden, sondern die Beantwortung dieser Frage einfach selbst in die Hand nehmen und Fakten schaffen. Fünf Millionen Zahlungsverweigerer, die sich auf eine Online-Abstimmung berufen, dürften ausreichen, damit dieses ganze kaputte, verkrustete System reformiert werden muß.
Die dafür benötigte Plattform für digitale Volksabstimmungen zu errichten, dürfte einige Millionen Euro kosten. Es muß schließlich sichergestellt werden, daß sich jeder Bürger mit seinem Personalausweis registriert, um Manipulationen ausschließen zu können. Außerdem dürfte der Organisations- und Moderationsaufwand für die Abstimmungen riesig sein, was wiederum enorme Kosten verursacht.
In meinem letzten Beitrag über Crowdfinanzierungen habe ich jedoch dargelegt, daß allein der harte Kern der patriotischen Opposition 50 Millionen Euro herumliegen haben dürfte. Der Aufbau einer digitalen Demokratie in der Parallel-Polis sollte also am Geld nicht scheitern.
Weil mich der Gedanke an eine solche Plattform als Korrektiv zum Parteiengezänk fasziniert, habe ich übrigens auf blauenarzisse.de ein kleines Experiment mit dem Projektnamen „Die Polis“ angeschoben. In regelmäßigen Abständen werden wir dieses Jahr digitale Volksabstimmungen durchführen. In einminütigen Kurzvideos sollen Bürger, Publizisten und Politiker aller Parteien ihre Anliegen vortragen, über die dann die Leser entscheiden können.
In Runde eins stellt der sächsische CDU-Landtagsabgeordnete Sebastian Fischer seine Idee der „sozialen Dienstpflicht“ vor. Ich halte dagegen und erkläre in meinem Video, warum wir die Wehrpflicht und mehr Vereinsengagement brauchen. In den kommenden Monaten sollen über dieses Format viele weitere „Volksabstimmungen“ zu brisanten Themen stattfinden. Geplant sind unter anderem Kontroversen zum Grundeinkommen für Selbstversorger, Bau von Moscheen in Deutschland und zur Frage, ob das Kindergeld komplett zur Geburt ausgezahlt werden sollte.
Haben Sie weitere Ideen? Dann beteiligen Sie sich einfach. Im Großen wie im Kleinen wird die Parallel-Polis nur funktionieren, wenn der Drang zur Artikulierung für das eigene Wohlergehen, von dem Voegelin sprach, ausreichend vorhanden ist.
Stil-Blüte
Die Idee der Parallel-Polis gefällt mir sehr.
Doch bereits bei der ersten Pro- und Contra-Frage weiß ich mich nicht zu entscheiden, denn ich würde beide Vorschläge 'soziales Dienstjahr' und 'Wehrpflicht' unterstützen, weil die Pflicht gerechterweise alle erfassen würde und ich von der Wehrpflicht für Frauen, jedenfalls in der bisherigen Form, wenig halte.