ist. In der Praxis klärt jeder tagtäglich sein Verhältnis zum Volk – ob als Vater unter Eltern, ob als Nachbar am Zaun, ob als Besucher eines Ausflugsziels unter all den anderen, die an diesem Tag dasselbe Ziel hatten.
Es gibt viele, die sich innerhalb der theoretischen Auseinandersetzung mit dem massenhaften Volk verbrüdern und von seiner Mündigkeit und seinem Wert sprechen, und die in der praktischen Alltagsbegegnung mit dem Einzel-Gesicht aus dieser Masse nicht zurecht kommen und auch gar keine Begegnung oder Gemeinsamkeit wünschen, weil sie sich für etwas Besseres halten.
Es gibt daneben jene, die an der Masse verzweifeln (ebenfalls genährt aus dem Bewußtsein, etliches besser zu wissen), jedoch im täglichen Umgang ein gutes, manchmal sogar förderndes Auskommen mit dem Nachbarn im Haus, an der Supermarkt-Kasse und auf dem Fest-Platz finden.
Ich gestehe: Ich gehöre zur zweiten Sorte, und ich kann aus meiner geballten Erfahrung noch immer und gegen jede Theorie nicht begreifen, warum man Quantitäten über Qualitäten entscheiden läßt, kurz: warum man diejenigen über staatspolitische Fragen mitentscheiden läßt, die über ihr Dorf und ihre Region hinaus nicht viel mehr zu begreifen willens und in der Lage sind.
Ein Beispiel: Auch im Gemeindeverbund des Dorfes Schnellroda gibt es HartzIV-Dynastien, gibt es also Familien, denen das Leben auf Kosten der Allgemeinheit so gut gefällt, daß sie ihren Kinder denselben Lebensweg nahelegen. Wer nun mit den Trägern der dörflichen Ordnung über solche Existenzen ins Gespräch kommt, erlebt konkrete Gewaltphantasien: “diese Leute hochtreiben”, “kein Geld mehr, harte Arbeit”, “Hunger kennenlernen, schau Dir an, wie fett die sind”, “Gesindel”!
Aber: Dieselben Leute, die eben im Angesicht des konkreten Falls zur sozialen Kontrolle rieten und vom Parasiten sprachen, wählen morgen jene Parteien, die den HartzIV-Satz erhöhen und den Fleiß bestrafen wollen. Und jene, die ungläubig durch Offenbach gehen und nach der deutschen Stadt suchen, wählen morgen den, der ihnen erzählt, daß sie ihren Augen nicht trauen sollen und daß in Offenbach eigentlich alles so ist wie vor vierzig Jahren – nur ein bißchen spannender.
Wie nun? Wer ist mündig? Und wann ist er es? Ziemlich unisono waren sich die Kommentatoren nach der Europawahl einig, daß der “Rechtsruck” unter Wilders oder Strache ein Zeugnis für Unreife, für die falsche Wahl sei. Gibt es plötzlich doch einen Maßstab für Mündigkeit? Er kann mit dem erreichten Lebensalter nichts zu tun haben, nach diesem wiederum quantitativen Parameter (über 18) wird ja die Wahl-Mündigkeit erteilt. Wer “rechts” wählte, bewies dadurch also plötzlich, daß es doch so etwas wie eine qualitative Reife gebe: eine Einsicht in die Gefährlichkeit der Abweichung in der Wahlkabine. Der Waldgang dämmert herauf …
Wenn die Masse im qualitativen Sinne nicht reif ist: Kommt es dann innerhalb unseres politischen Systems nicht doch darauf an, daß man Massenpolitik treibt? Ich behaupte, daß die Massenpolitik unserer Zeit echte Mimikry ist, eine durch zuckersüße Worte verdeckte Verachtung der Masse, gespeist aus der Genugtuung, diese Masse als Karriere-Sprungbrett genutzt zu haben, kurz: die Ochlokratie verstanden und persönlich genutzt zu haben. Ich hörte nie verächtlicher über die Masse des Volkes sprechen als in den Gängen des Stuttgarter Landtags. Und ich vernehme in meinem Schädel auch Verächtliches, weil doch der große Teil der Masse (also: des ziemlich zur Masse verkommenen Volkes) mit dem Strom schwimmt und noch nicht einmal auf dem Stimmzettel widerständig ist.
Herrscht, wer am geschicktesten steuert, am suggstivsten Bilder aufbaut? Wie sähe sie aus, eine konservative, rechte Massenpolitik? Sie muß ja, das ist doch die Voraussetzung, von Zuneigung zum eigenen Volk genährt sein, sonst bricht jede Theorie zusammen, die das Nationale, also: den politisch eigen-artigen Ausdruck des Volkes betont und ihn – je nach Radikalität – verteidigen oder erst zur Geltung bringen will. Und diese Zuneigung: Sie vertrüge sich nicht mit Mimikry, mit der Vorspiegelung einer Augenhöhe mit der Masse also, von der ja im Ernst keine Rede sein kann.
Ich halte diese Frage also tatsächlich für nicht gelöst in unseren Reihen, und empfehle zur Beschäftigung mit dieser Frage aus dem Masse-Heft der Sezession den Beitrag von Karlheinz Weißmann zur Massenpolitik, den von Daniel Bigalke über Masse und Mündigkeit und den von Felix Menzel über den Kampf um Aufmerksamkeit.
Sugus
Die Sezession täte gut daran, von der Elitenhuberei runterzukommen. Der HartzIV-Empfänger ist nicht das Problem, auch nicht die "Masse"; die "Eliten" selbst sind es (denen man doch so gerne angehören möchte oder als deren Teil man sich auch sieht), die die Dinge sich zum heutigen Stand haben entwickeln lassen.
Weiter: runterkommen vom Ethos der Askese. Massen wie Eliten lockt man nur mit Pfründen. Das ist nicht verwerflich; Frage ist nur, wem man warum wieviel gibt.