Das liegt an Horst Seehofer und Sahra Wagenknecht, vor allem aber an einem großen Erfolg der meta- wie auch realpolitisch ausgerichteten Rechten: Die »soziale Frage«, derzeit verkörpert durch Verteilungsgerechtigkeit und Fragen nach der Zukunft des Sozialstaats, wurde als genuin rechtes Thema entdeckt und bisweilen skandalisiert, und die »nationale Frage« feiert ein Revival, derzeit mittels der neuerlichen Migrationsdebatte, deren Ende bereits 2017 von Liberalen und Linken aller Couleur inständig herbeigesehnt wurde.
Zu all den wahlstrategischen und ‑arithmetischen Überlegungen, die derzeit insbesondere angesichts der anstehenden bayrischen Landtagswahl kursieren, soll sich an dieser Stelle nicht ausführlich geäußert werden:
Die bisweilen zirkulierende Mär von einer rechtsgewendeten Union-Minus-Merkel wird ja selbst vielen Liberalkonservativen allmählich peinlich, und der Traum einer bundesweiten CSU als Korrektiv zur Bundespolitik ist spätestens seit Armin Mohlers Zeiten ausgeträumt; ihr eventuelles Wiederaufgreifen würde sich lediglich als ein Schachzug all derer entpuppen, die im Kern daran interessiert sind, das Bestehende ohne wirkliche (politische, wirtschaftliche) Kehrtwenden in die Zukunft zu hieven.
Auf der linken Seite sind aufschlußreiche Bewegungen rund um Wagenknecht, Wagner, Stegemann et al. zu beobachten, die Kubitschek bereits wesentlich eingeordnet hat, auch und vor allem hinsichtlich der nötigen Reaktionsbereitschaft seitens der AfD.
Ergänzt werden kann diesbezüglich, daß dem »Team Sahra« jedwede aktivistische Basis fehlt – so klug seine einzelnen Akteure auch sind, so viel Wachstum der gleichnamige Newsletter auch verzeichnen dürfte und so bereitwillig viele auflagenstarke Medien mit kritischer Neugier das Experiment auch beobachten und ihre Standpunkte reproduzieren mögen.
Von altkommunistischen und antikapitalistischen Zirkeln in der Linkspartei bis zu jungen außerparlamentarischen Bündnissen wie der »Interventionistischen Linken«, von den verschiedensten Antifa-Gruppierungen ganz zu schweigen – die radikale Linke in all ihren Verästelungen lehnt Wagenknechts Kurs ab; der parteieigene Jugendverband verließ beim jüngsten Bundesparteitag einmal mehr protestierend den Saal, als Wagenknecht zu ihrer – von der Parteispitze wohl bewußt TV-unfreundlich plazierten – Rede ansetzte.
Das Konzept einer bundesdeutschen linken Sammlungsbewegung, das derzeit heranreift, ist also – ganz anders als das jugendvirale Phänomen um Bernie Sanders in den USA oder Jeremy Corbins Massensupport in Großbritannien – noch mehr ein Kopfprojekt als das mit dem Wagenknecht-Lafontaine-Konstrukt vergleichbare »linkspopulistische« Projekt um die Linksfront Jean-Luc Mélenchons in Frankreich, die zumindest Wagenknecht durchaus als direktes Vorbild begreift (dazu in einem separaten Beitrag mehr).
Rein wahlpolitisch gilt es also für die AfD (als der Partei im Rahmen der Mosaik-Rechten), sich weder für Panik (Hilfe, die Linken kapern einzelne Programmpunkte!) noch für demonstratives Desinteresse (Was interessieren uns die Linken!) zu entscheiden.
Wichtig ist vielmehr, die Herausforderung von links einerseits als Ansporn zu begreifen, die Entwicklung einer umfassenden sozialpatriotischen Programmatik weiter zu forcieren, um keinerlei offene Flanken für die Klügeren unter den linken Akteuren zu gewähren.
Andererseits gilt es zu bedenken, daß die aufgebrochenen Richtungskämpfe innerhalb des linken Milieus als eine direkte Bestätigung für den eigenen Erfolg im Bereich einer sozialen Neujustierung innerhalb der Rechten gedeutet werden müssen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger ist aus der andauernden Genese der neuen linken Formation zu schließen.
Daß insbesondere Sahra Wagenknecht – und sie interessiert uns besonders als das Gesicht des linken Sammlungsprojekts – in den letzten Jahren eine Entwicklung genommen hat, in Zuge derer sich Positionen aus ihrem Umfeld und dem unsrigen annähern, habe ich Anfang 2017 in meinem kaplaken-Band Querfront beschrieben.
Es geht nun aber gerade nicht darum, wie teilweise in der Kommentarspalte von Sezession im Netz angenommen, Wagenknecht und Co. um eine Kooperation, eine Zusammenarbeit, eine »Querfront« also, zu bitten.
Im gleichnamigen Büchlein rede ich – und das vermerkten interessanterweise eher linke Rezensenten als liberale und libertäre – gerade keiner solchen quer zu den bisherigen Lagern stehenden Option das Wort.
Ich verwies vielmehr darauf, daß eine soziale Neue Rechte, die als »links« wahrgenommene Themenfelder für sich (neu) entdeckt und zeitgemäß-progressiv in ihre Weltanschauung einarbeitet, aufgrund des spezifisch rechten, skeptisch-realistischen Menschenbilds inhaltlich stärker als jeder theoretisch mögliche linke Akteur wäre (was, vom metapolitischen Feld ins parteipolitische transferiert, ebenso für die Situation der AfD gilt).
Explizit forderte ich
eine Neue Rechte, die die soziale Frage wieder als ureigenes Sujet entdeckt; eine Neue Rechte, […] die die Idee des einigen Europas neu und innovativ, aber rückgebunden auch an Tradition und Herkunft betrachtet; eine Neue Rechte schließlich, die in der Lage ist, die größeren politökonomischen Zusammenhänge beim Großen Austausch und der aktuellen Lage des Finanzmarktkapitalismus zu analysieren und Gegenentwürfe zu entwickeln.
Eine »solche Neue Rechte«, schlußfolgerte ich,
hätte es nicht nötig, auf der linken Seite nach Partnern für eine Querfront zu suchen. Sie genügte sich selbst und verkörperte aus eigener Kraft und eigenem Ideenreichtum eine intellektuelle Alternative, die dann wiederum jene minoritäre Kräfte der Linken anziehen könnte, die in ihrem Lager an der konzeptlosen Verengung des ideenpolitisch Sag- und Tragbaren leiden, die aufgrund ihrer bloßen analytischen Auffassungsgabe – “Demokratie lebt nur in Räumen, die für Menschen überschaubar sind”, “Nicht Bindungslosigkeit, sondern Bindung macht frei, weil nur sie Halt gewährt” u. dgl. m. – im eigenen Lager angefeindet und als rechtsabweichende “Querfrontler” diffamiert werden.
Die Zitate im Zitat stammen von Sahra Wagenknecht (Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten, Frankfurt/Main 2016), und sie lesen sich, wie antifaschistische Kritiker Wagenknechts zurecht postulierten, wie (ganz selbstverständliche) Grundsätze des Konservatismus.
Aber mit Anhängern desselbigen will Wagenknecht, so ihre Aussage im NZZ-Gespräch, nichts zu tun haben. Marc Felix Serrao bemerkt indes die großen Übereinstimmungen zwischen ihr und einigen Neuen Rechten (auch wenn er, jedenfalls aus meiner persönlichen Sicht, eine falsche Querfront-Schlußfolgerung zieht). Serrao fragt:
Es gibt in rechtsintellektuellen Kreisen eine Reihe Leute, die Sie schätzen. Die verstehen sich selbst als linke Nationalisten und träumen von einer «Querfront».
Wagenknecht kontert kurz angebunden:
Wer Nationalismus predigt, mit dem will ich nichts zu tun haben.
Ihre apodiktische Aussage wird verständlicher, wenn man sich vor Augen hält, was sie unter »Nationalismus« zu verstehen meint. Sie nennt es ebenfalls im höchst lesenswerten Interview:
Nationalismus bedeutet, dass sich Menschen einbilden, sie seien aufgrund ihrer Nationalität etwas Besseres, dass andere Kulturen abgewertet werden.
Dieser »Nationalismus«, der letztlich nichts anderes als Chauvinismus oder Nationalchauvinismus meint, wird aber freilich auch rechts, jedenfalls im Umfeld der Sezession, grundsätzlich abgelehnt.
Wagenknecht könnte das wissen. Womöglich weiß sie das auch. Aber neben der oben erwähnten fehlenden aktivistischen Basis ist dies die zweite große Hürde für ein linkes Sammlungsprojekt in Deutschland: Dort, wo sie inhaltlich ausgreifen könnte, stehen bereits Akteure, nämlich die »Neue Rechte« (NR) rund um IfS, Antaios und Sezession.
Räumt Wagenknecht aber nun ein, daß auch der Chauvinismusvorwurf (ihre Kernvorhaltung gegenüber der NR) fällt – was würde sie, aus Sicht eines linken Kritikers, von der NR noch trennen, nachdem sie sich u. a. positiv auf Gemeinschaft, Identität, Demokratie in Vertrauensräumen, Solidarität und die Wahrung »kultureller Eigenständigkeit« bezog?
Wagenknecht muß also zwangsläufig, um im linken Resonanzraum noch satisfaktionsfähig zu sein, antifaschistische Sprachmuster verwenden. Das dürfte aber bisweilen jene Klientel abschrecken, die sie für ihr Projekt als Wähler zu gewinnen verstehen müßte.
Gemeint sind sogenannte Protest-Durchschnittsbürger, die in Scharen zur AfD überliefen, weil ihnen die Mischung aus sozial- und rechtspopulistischen Fragmenten zusagte. Nur diese, die AfD im Osten stützende Schicht, könnte von Wagenknecht angesprochen werden; denn daß die urban-kosmopolitische Wählerschaft von SPD, Grünen und bisheriger Linkspartei eine Liste Wagenknecht (unter welchem Namen auch immer) goutieren würde, glaubt wohl auch im optimistischen Team Sahra niemand.
Wagenknechts Nationalismus-Äußerung, mit der sie nicht nur Nationalisten, sondern vermutlich Rechte unisono auf Abstand halten möchte, zeigt aber, daß sie nicht nur weit entfernt von Corbyn, Sanders und Mélenchon steht, was die aktivistische Basis, ohne die jedes Vorhaben scheitern muß, anbelangt, sondern auch, was die Vordenker des Linkspopulismus betrifft.
Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (in der 79. Sezession findet sich ein Porträt der beiden) hätten nämlich theoretisch erkannt (und der von Mouffe beratene Mélenchon wandte es in der Praxis an), daß »Nationalismus« als die Fixierung auf die Nation als politischem Handlungssubjekt ein »leerer Signifikant« ist.
Das heißt für uns und für Wagenknecht in diesem konkreten Beispiel: Nationalismus kann reaktionär und progressiv, ethnoidentitär und multikulturell, liberal und antiliberal, links und rechts (usf.) aufgeladen werden, was immer auch davon abhängt, wer die Deutungshoheit über die Begriffe und ihre Implikationen behaupten kann.
Wagenknecht ist intelligent und realistisch genug, um sich daran zu halten und dementsprechend die bundesdeutsche Situation einzubeziehen. Ihre weiter oben zitierten Zeilen sind also nicht als Vorwurf zu verstehen, sondern als Beleg für die – viel weitreichendere – Defensivposition ihrer selbst und ihrer Weggefährten.
Das linke Umfeld (von Ausnahmen hier und da abgesehen) ist Wagenknecht feindlich gesonnen, die Begriffe sind vorerst zementiert, und dort, wo sie ausgreifen könnte, stehen Akteure bereit, die nicht willens sind, jene Themenfelder zu räumen, in denen sie gerade erst begonnen haben, zu reüssieren – und in denen sie noch viel vor haben.
Man kann »rechts« also das gesamte Vorhaben Wagenknechts, die Linke vor dem neoliberalen Sumpf der “Mitte” einerseits und dem antinationalen Habitus des “eigenen Lagers” zu retten, entspannt bewerten:
- Realpolitisch, weil ein eventuelles Antreten einer Liste Wagenknecht keine »französischen« Folgen hätte, die AfD müßte – bei fortwährender sozialprogrammatischer Selbstoptimierung, versteht sich – keine herben Verluste fürchten. 2–3 Prozent im Westen, 4–6 Prozent im Osten würden, meiner Prognose nach, wirklich eine solche Liste wählen, wenn sie als direkte Konkurrenz zu Linkspartei und AfD anträte.
- Metapolitisch, weil Sahra Wagenknecht und ihre Mitstreiter mit jedem Versuch, ideenpolitisch voranzukommen, einen Schritt näher in unsere Richtung gehen (müssen). Mit jedem dieser Schritte aber werden sie sukzessive die »konzeptlose Verengung des ideenpolitisch Sag- und Tragbaren« (vgl. Querfront) innerhalb der Linken spüren und neue Anfeindungen erfahren.
Denn es ist nicht auszuschließen, daß die Spirale der innerlinken Anti-Wagenknecht-Agitation im Zuge der Konkretisierung des Vorhabens und weiteren Verstößen gegen antifaschistische Verhaltensgebote in offene Abneigung und Haß umschlägt, ja daß die Köpfe der anvisierten linken Sammlungsbewegung aus der politischen Linken flüchten müssen – dann, erst dann werden die Karten neu gemischt.
Bis dahin gehen wir »politischen, anstrengenden, wichtigen Monaten entgegen«, können aber zumindest in dieser Hinsicht sommerlich relaxt bleiben.
Der_Juergen
Wenn sich eine hypothetische neue Linkspartei unter der Führung von Wagenknecht an Melenchons Bewegung in Frankreich orientiert, ist sie von vorne herein chancenlos. Melenchon ist ein fanatischer Werbetrommler des Grossen Austauschs. Im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahlen 2012 erklärte er in Marseille:
"Marseille sagt uns, dass unsere Chance die Vermischung ist. (…) Ohne die Araber und die Berber des Maghreb hat Frankreich keine Zukunft."
Ei ei, wie haben es diese Franzen bloss geschafft, ganz ohne Araber, Berber und sonstige Afrikaner zu einer der führenden Kulturnationen der Welt zu werden?
Wer in Deutschland eine Melenchon-Politik will, kann ja gleich Merkel, Nahles, Roth oder Gysi wählen. Ihre dogmatischen Scheuklappen, die sie niemals ablegen können wird, hindern Wagenknecht daran, eine Politik anzustreben, welche die Arbeiter und die sozial Benachteiligten in Deutschland anspricht. Statt Zeit an unfruchtbare Diskussionen über diese Person zu verschwenden, sollte die Rechte lieber über eine grundlegend neue Finanz- und Sozialpolitik nachdenken. Dies ist bei der AFD bisher nicht geschehen.