Im richtungsweisenden NZZ-Interview aus der vergangenen Woche bezog sich Sahra Wagenknecht gleich zweimal auf die Wahlformation »Unbeugsames/Aufsässiges Frankreich«, hinter der Jean-Luc Mélenchon und sein Front de Gauche (Linksfront) stehen.
Bereits das Jahr 2018 leitete der nationalstaatlich-realistische orientierte Flügel der Linkspartei mit dem »Stargast« Mélenchon ein, der freilich innerhalb weiter Teile der deutschen Linken mit Skepsis beäugt wird, weil er antifaschistisch verdächtige Begriffe wie »Volk«, »Nation« und »Wir« mit sozialpopulistischer Programmatik koppelt.
Da man davon ausgehen kann, daß weder Mélenchon noch sein Wahlresultat (knapp 20 Prozent der Stimmen bei der Präsidentschaftswahl) allzu bekannt sind, und da es für »Neue Rechte« in Deutschland mindestens verblüffend erscheinen muß, daß mit Alain de Benoist der Vordenker der gesamteuropäischen Neuen Rechten eine Wahlempfehlung für Mélenchon statt für Le Pen abgab, bietet es sich nun an, sich einen ersten Überblick über die »linkspopulistische« Erfolgsgeschichte zu verschaffen, um Motive und erwartbare Inhalte des Projekts der deutschen »linken Sammlungsbewegung« im Herbst 2018 kennenzulernen.
Denn so, wie das bemüht volksnahe und sozialpatriotische Vorgehen Mélenchons nicht ohne die vorhergehenden Erfolge des Front National (FN) denkbar war, müssen eben auch die Bemühungen Wagenknechts um eine realistische Zuwanderungspolitik, um die Sorgen des »kleinen Mannes«, um eine sozialreformatorische Sammlungsbewegung von links als eine direkte Reaktion auf die Erfolge des sozialen Flügels der AfD und ihres entsprechend ausgerichteten metapolitischen Umfelds gedeutet werden.
Was hat es also mit Mélenchons Bewegung auf sich?
Ein starker linker Populismus, der sich in direkter geographischer Nähe zu einem starken rechten Populismus entfaltet, entwickelte sich nicht ohne Logik zuallererst in Frankreich, wo die »Wertschätzung des Konflikts« (Steffen Vogel) einen ganz anderen Stellenwert als anderswo besitzt.
Um einen »starken« Linkspopulismus handelt es sich schon deshalb, weil Mélenchon als Spitzenkandidat des Wahlbündnisses La France insoumise, deren Kern durch die Linksfront gestellt wurde, respektable 19,58 Prozent erreichte und somit nicht nur die Sozialdemokraten weit hinter sich ließ, wenngleich es aufgrund Le Pens Stärke nicht für die Stichwahl gegen Emmanuel Macron reichte.
Ähnlich wie beim Front National liegt bei beim Front de Gauche eine Weltanschauung zugrunde, für deren Verbreitung man einerseits »popular« im Sinne von volksnah auftritt und andererseits einen bisweilen populistischen Stil der Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern wählt.
Mélenchon als Kopf der Linksfront, deren jüngere und studentische Strömungen sich bisweilen an seinem zu stark zur Schau gestellten Populismus reiben, fordert dabei seit Jahren eine »Bürgerrevolution«, die weit mehr darstellen solle als nur eine »Bürgerpartizipation«.
2010 forderte er bereits »Platz dem Volk! Übernehmt die Macht« und agitierte direkt gegen die »Oligarchen« und, im weiteren Sinne, das politische und mediale Establishment. Er bestätigte, daß er Populist sei, ruderte aber auf parteiinterne Kritik hin zurück und sagte, er sei volksverbunden (populaire), nicht aber populistisch.
Jenseits dieser Begriffsdebatte kann festgestellt werden, was an Mélenchons Handeln »populistisch« ist. Zunächst ist die Anrufung eines allgemeinen Willens zu nennen, des Gemeinwohls, das von der herrschenden Elite ignoriert würde.
Emotionale Schlagwörter sind ein weiterer Aspekt, vor allem aber die Betonung eines »Wir« gegen die »Anderen«, wobei – ähnlich zu Le Pen – die Anderen durch die Macht des Geldes, die Macht Brüssels, die Macht »der da oben« verkörpert wird.
Auch ein weiterer Aspekt, der ursprünglich bei Marine Le Pen bzw. klassischen Rechtspopulisten zuhause war und ist, kann bei Mélenchon beobachtet werden: die Tendenz zur Fortschrittsskepsis, das Thema des Verfalls und Niedergangs von Werten und Sitten, Sicherheit und Arbeitsmarktstabilität.
Daß Mélenchon mit Formeln wie »Es lebe das französische Volk!« oder »Das Volk will die Macht« warb, kommt als weitere Begriffsähnlichkeit hinzu.
Bei soviel Themen- und Begriffskongruenz zwischen Rechts- und Linkspopulisten in Frankreich, die zusammen ja immerhin 40 Prozent der Stimmen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2017 gewannen – mit den unteren und mittleren Schichten als Gerüst (den »popularen« Klassen) –, liegt es nahe, daß Persönlichkeiten aus dem Establishment selbst, das sich nun von zwei Seiten bedroht sieht, Kritik üben.
Didier Eribon etwa monierte in einem Essay, wie gefährlich der Diskurs à la Mélenchon ist, eben weil er so nahe an demjenigen Le Pens sei. Eribon warnte vor der populistischen Frontstellung »Volk« gegen »Elite«; man bringe »damit Begriffe oder, besser, Affekte in Umlauf, die man nur mit größter Vorsicht verwenden sollte, weil sie sich ganz schnell mit Bedeutungen aufladen lassen, die man vermeiden wollte«.
Auch das neue nationalsouveränistische Element, das Mélenchon aufbot (und das teilweise mit antideutschen Stereotypen spielt, die man eher aus der alten französischen Rechten kennt), macht etablierten Linksliberalen Angst.
Wenn ich höre, wie Jean-Luc Mélenchon auf Veranstaltungen, bei denen die französische Fahne geschwenkt wird, die Nation verklärt und von einem ‚großen mächtigen Land’ spricht, das ‚seinen Platz in der Welt’ wieder finden soll, dann wird mir ziemlich unwohl. Das sind gefährliche Phantasmen, mit denen man die nationalistischen Leidenschaften eher befeuert, als sie zu bekämpfen. Diese Art des Linkspopulismus muss man unbedingt zurückweisen,
meint Eribon spürbar erregt.
Der Fall Mélenchon zeigt, daß Alain de Benoist zuzustimmen ist: In diesen spezifischen zeitgenössischen Konstellationen endet die klassische politische »Gesäßgeographie«, zumindest hier heißt es: rechts und links, das war einmal.
Denn die von Benoist diagnostizierte Revolte des Volkes gegen die herrschende politische Klasse, als Revolte der Gemeinschaftsbefürworter gegen die liberale Hegemonie und ihre individualistische Paradigmen, als Revolte der Globalisierungskritiker gegen die »Globalisten« jeder Couleur – sie findet sich bei Le Pen und bei Mélenchon, beim Front National und beim Front de Gauche.
Diese Gemeinsamkeiten sind eher den Links- als den Rechtspopulisten unangenehm. Als Le Pen in die Stichwahl gegen Macron zog, appellierte sie an die Wähler Mélenchons und druckte eigens für sie Flugblätter mit dem Titel »Die gemeinsame Zukunft ist mit Marine«.
Aufgelistet wurden sieben entscheidende Wahlziele Mélenchons, die Le Pen versprach, in seinem Sinne anzugehen, »darunter die Rente mit 60, ein Ausstieg aus der Nato, eine Rücknahme der Arbeitsrechtsreform der sozialistischen Arbeitsministerin El Khomri sowie ein Leiharbeiter-Verbot«.
Trotz dieser richtigen und wichtigen Gemeinsamkeiten können in Frankreich, im Fall Front de Gauche und Front National, wie auch in Deutschland, im Fall der »linken Sammlungsbewegung« ohne Namen und der AfD, entscheidende Unterschiede diagnostiziert werden, von denen einer eklatant ist.
Dieser läßt sich plastisch anhand zweier intellektueller Köpfe zeigen, und zwar an der Theoretikerin des Linkspopulismus Chantal Mouffe und am neurechten Denker Alain de Benoist (wobei, wie angedeutet, Mouffe offen Mélenchon, Benoist indes nicht Le Pen berät).
Alain de Benoists Populismus-Theorie (einführend vorliegender Artikel) ist zwar mit Mouffe ideenpolitisch weitgehend kongruent, obwohl die genannten Denker aus verschiedenen Lagern und geistesgeschichtlichen Milieus stammen.
Doch der entscheidende Unterschied zwischen Benoist und linksorientierten Populisten ist, daß Benoist davon ausgeht, daß das »rechtspopulistische« Modell der direkteren Demokratie (anstelle der jetzigen, repräsentativ-liberalen) a priori voraussetze, was Mouffe und Mélenchon leugnen: die »Existenz eines relativ homogenen Volkes«, »das sich dessen bewußt ist, was es eigentlich ist« (Demokratie. Das Problem).
Mouffe und Mélenchon wollen ein »Volk« konstruieren, das sich in gemeinsamen gesellschaftlichen Kämpfen (z. B. gegen eine volksferne Elite) aus sozialen Gruppen und Einzelpersonen breiter Schichten konstituiert.
Benoist demgegenüber weist darauf hin, daß es von Geburt an ein »Schon-Vorhandenes« gebe, »einen Hintergrund, der den Rahmen bildet für die Konstruktion des Selbst« (Wir und die anderen) – eben ein Volk nicht nur im Sinne von demos, sondern auch (aber wiederum nicht ausschließlich!) im Sinne von ethnos.
Das trifft einen Kern der Unterscheidung zwischen potentiellen »Sozial-Patrioten« oder, defensiver, Nationalstaatsbefürwortern von links und rechts: Die Linke, auch ihre populistische Ausprägung von Mélenchon bis Wagenknecht, dürfte an ihrem Anspruch scheitern, eine positive (Gegen-)Erzählung zum wirkmächtigen Prinzip des Neoliberalismus auf die Beine zu stellen, weil sie bereits damit zu kämpfen hat, sich gewiß zu werden, was ein »Volk« überhaupt ausmacht, für wen also die Große Erzählung zu entwicklen ist.
»Links« bleibt es demnach nebulös, wer das Subjekt sein könnte, das gegen »die Elite«, »den Mainstream«, das »politmediale Establishment« oder gegen die »oligarchische« Führung kontrastiert wird, und für welches man unterm Strich eine integrale Zukunftsperspektive überhaupt erarbeiten könnte.
Sind viele Ausländer nun, wie beispielsweise Alexander Neu (MdB, Die Linke) andeutete, »migrierende Billigarbeiter fürs Kapital«, sind sie also lediglich fremdgesteuerte Objekte der globalisierten kapitalistischen Produktionsweise, die sie als Verschiebemasse verbucht, oder sind sie doch das neue revolutionäre Subjekt, mit denen gemeinsam die autochthonen unteren Klassen ein neues »Volk« gegen »die da oben« bilden werden, im Kampf gegen Kapital und Ausbeutung?
Diese Unklarheit läßt sich nicht durch akademische Debatten oder geistige Konstruktionen gemeinsam kämpfender »subalterner« Klassen lösen; zudem wird der linke Populismus durch die linken Anti-Populisten, Antifaschisten jeder Schattierung, an seiner potentiellen Entfaltung gehindert, indem er wahlweise in die »Querfront«-Ecke gestellt wird oder direkt als verkappt rechte Strömung diffamiert wird (– man sehe sich diesen bezeichnenden Ausschnitt des Linke-Bundesparteitags an, um einen ersten Eindruck zu bekommen, mit was für Elend sich Wagenknecht in ihrer Partei konfrontiert sieht.)
Diese verschiedenen Blockaden für einen linken Populismus, die speziell in Deutschland zu verzeichnen sind, und die an Wucht zunehmen werden, wenn das Wagenknecht-Projekt im Herbst an den Start gehen sollte, ändern nichts an der Tatsache, daß einige thematische Anliegen der Mélenchon-Wagenknecht-Linkspopulisten berechtigt erscheinen, etwa
- der Kampf gegen die enorme Machtkonzentration (wirtschaftlicher und politischer Natur) oligarchischer Strukturen auch in Westeuropa;
- die Beanstandung neoliberaler Totaldurchdringung aller gesellschaftlichen Teilbereiche;
- die prinzipielle Gegnerschaft zu einem individualistischen Regime, in dem jede Person nur noch als »Unternehmer seiner selbst« (Michel Foucault) verstanden wird;
- schließlich die Ablehnung der pensée unique, der alternativlosen Logik des Marktes und seinen politisch folgsamen Akteuren der großen »Mitte«-Parteien, ob sie nun christ‑, liberal- oder sozialdemokratisch auftreten.
Diese Anliegen können seitens der deutschsprachigen konservativen Intelligenz schadlos und ohne wirkmächtige Konkurrenz adaptiert werden, da die hiesige »verweltbürgerlichte Linke« (Wolfgang Streeck) die Stunde des Populismus aus ideologischen wie moralischen Motiven heraus unbeachtet verstreichen lassen dürfte; Wagenknecht, Lafontaine und Co. werden, so meine Prognose, von der absoluten Mehrheit ihres Milieu aus voller Überzeugung im Stich gelassen werden.
Die Stunde des Populismus, und zwar eines solchen, der »identitär« rückgebunden ist an Paradigmen wie Sozialstaatlichkeit, Gemeinschaft und Solidarität, ist aber schon alleine deshalb gegeben, weil sich soziale, gesellschaftliche und nationale Krisenelemente in naher Zukunft zuspitzen werden.
Weder die Krise des Finanzmarktkapitalismus ist überwunden, noch diejenige des Euro als Gemeinschaftswährung, noch die der Migration. Die Chance jeder volksnahen Politik, unterstützt durch konservative Publizistik und Denkfabriken, wächst im selben Moment, in dem die wichtigsten Akteure des medialen, politischen und wirtschaftlichen Establishments des Landes, kulminierend im öffentlich-rechtlichen Milieu, zur permanenten Krisenleugnung übergehen und die Diffamierung all jener fortsetzen, die zu intervenieren wagen.
Wenn die Populismus-Forscherin Karin Priester recht hat, daß sich die grassierende »populistische Revolte« (und daß sie grassiert, bestätigt explizit das Aufkommen der Wagenknechtbewegung links der Mitte) vor allem gegen einen Nomenklatura-Komplex des Staates richtet, »der sich hinter einem Wall verschanzt hat«, dann werden es rechte Akteure sein müssen, die diesen Wall niederreißen.
Die Linke hatte ihre Chance, c’est fini.
Der_Juergen
Wieder einmal ein sehr profunder Artikel von Kaiser.
Dass Alain de Benoist den "Linkspopulisten" Melenchon unterstützt, der, wie ich in meiner Wortmeldung zum ersten Kaiser-Artikel erwähnte, die "Vermischung" für die "einzige Chance" Frankreichs hält und meint, ohne Araber und Berber komme dieses nie und nimmer über die Runden, bestätigt meinen Verdacht gegen diesen hochkarätigen Vertreter der "Nouvelle Droite". Dieser hat sich schon mehrfach klar dafür ausgesprochen, riesige muslimische Parallelgesellschaften zu dulden. Was daran "rechts" sein soll, ist mir schleierhaft.
Nachdem auch Marine Le Pen ihre Kapitulation endgültig vollzogen hat, sieht es in Frankreich düster aus. Diesem Land kann, um einen bekannten Sezessionisten zu paraphrasieren, "nur ein Gott noch helfen".