Das bringt sie in eine intellektuell nicht zu verteidigende Position. Doch das allein könnte für die praktische Wirklichkeit noch bedeutungslos sein. Die Wirkmächtigkeit einer Idee ist keine Funktion ihrer Wahrheit. Sicherlich, die Entlarvungskünste der linken Intelligenz, die die Verlogenheit der bürgerlichen Welt anhand ihres eigenen Gleichheitsideals aufzeigen, haben gerade auf junge Menschen mit mehr Intellekt als Instinkt eine verführerische Wirkung.
Doch dies könnte auch wenig mehr als jugendlicher Idealismus bleiben, der sehr schnell von der Wirklichkeit des Lebens zermahlen wird. Die Überlegenheit im alltäglichen Leben wird dem bürgerlichen Typus niemand absprechen können. Doch dieses Abschleifen linker Gesinnung findet nur sehr partiell statt und äußert sich vor allem darin, daß der betreffende kein Linksradikaler ist, aber, wenn es darauf ankommt, sein Urteil an einem egalitären Gerechtigkeitsverständnis ausrichtet.
Das liegt vor allem daran, daß jeder Mensch, vor allem aber der bürgerliche, denselben Sachverhalte moralisch ganz unterschiedlich bewertet, je nachdem er theoretisch durchgespielt wird oder praktisch vorliegt. In letzterem Falle müßten Konsequenzen gezogen werden, die man dann doch nicht über sich bringt.
Auch wenn die Weltanschauung des modernen Bürgertums auf den Freiheits- und Gleichheitsidealen von 1789 beruht, lehnt die bürgerlicher Mitte heutiger westlicher Gesellschaften den Kern eines konsequent egalitären Gerechtigkeitsverständnisses als Prinzip ab.
Lothar Fritze arbeitet diesen Kern am Beispiel Karl Marxens heraus, als
„die implizite Annahme nämlich, daß der Einzelne für seine Entscheidungen und sein Handeln nicht verantwortlich sei und es deshalb nicht gerechtfertigt wäre, wenn er die daraus resultierenden Folgen zu tragen hätte.“
Es geht dabei um die Frage, ob man einem Menschen das, was er ist, ethisch zurechnen kann. Kann ein Mensch für sein Handeln, das ja eine Folge dessen ist, was er selber ist, verantwortlich gemacht werden, obwohl er ja seine eigene Beschaffenheit nicht selbst verursacht hat?
Zu dieser Beschaffenheit gehört dabei nicht nur seine Moral, sondern prinzipiell jede Eigenschaft, die sein Lebensschicksal bestimmen kann. Es geht also nicht nur darum, ob ein guter Mensch belohnt und ein böser bestraft werden soll, sondern auch darum, ob es legitim ist, daß es ein kluger Mensch es besser hat als ein dummer, ein gesunder besser als ein kranker, Frauen Kinder kriegen, Männer in den Krieg ziehen müssen undsoweiter.
Jede Form menschlichen Zusammenlebens muß diese Fragen in der Praxis bejahen, obwohl dies denkerisch nicht selbstverständlich ist. Wenn man irgendeinen Menschen auf der Straße fragt, ob Menschen für ihr Verhalten verantwortlich sind, wird die Antwort in der überwältigenden Zahl der Fälle ein klares Ja sein.
Daß Leistung belohnt werden soll, darin sind sich außer Straßenpunks alle einig, wenn auch nicht darüber, was eine Leistung und was eine angemessene Entlohnung ist.
Doch sobald es darum geht, ob es in Ordnung ist, Menschen mit den Folgen ihres Verhaltens allein zu lassen, werden die Antworten unklarer.
Wenn Menschen dann mit dem konkreten Leid anderer konfrontiert werden, sind die ersten Impulse Mitleid und der Wunsch zu helfen.
Daran ist auch gar nichts verkehrt. Keine Gemeinschaft kann ohne Solidarität leben. Die emotionalen Auslöser für altruistisches Verhalten sind notwendig. Dabei entsteht jedoch im Menschen eine Zone verwinkelter ethischer Urteile ohne klare Prinzipien. Diese Zone ist der Nährboden, auf dem die Sympathien der bürgerlichen Mitte für linken Egalitarismus wachsen.
Denn hier wird – weitgehend durch soziale Konditionierung – abgesteckt, in welchen Fällen jemanden die Folgen seines So-Seins selber zu tragen hat und in welchen Abhilfe geboten ist – mithin, wann es billig ist, daß andere diese Folgen tragen.
Ist ein Obdachloser ein sozial Benachteiligter, dem gegenüber die Gesellschaft zur Hilfe verpflichtet ist? Oder handelt es sich um einen asozialen Penner, der entweder radikal sein Leben ändert, oder in der Gosse verrecken kann?
Die Wortwahl allein, sozial Benachteiligter oder asozialer Penner, impliziert dabei bereits, wer an der wenig ersprießlichen Situation des Obdachlosen die Schuld trägt. Sie wertet die Person des Obdachlosen auf oder ab. Dadurch rechtfertigt sie die daraus folgende Handlung. Wenn mich das Los des Obdachlosen nicht weiter schert, dann deshalb, weil ich ihn nicht als sozial Benachteiligten, sondern als asozialen Penner betrachte.
Es gab und gibt überall und zu allen Zeiten Regeln und Tabus, die festlegten, welche Menschen man für welche ihrer Eigenarten selbst verantwortlich machen darf und welche nicht. Das heißt auch, welche Fehler eines Menschen sich negativ für ihn auswirken dürfen und bei welchen die Folgen zu kompensieren sind. Das ist normal.
Doch hier richtet die intellektuelle Hegemonie der Linken Schaden an, indem sie diese Regeln und Tabus manipuliert.
Der herrschende Diskurs unserer Zeit gebietet nicht, unsere eigene Zivilisation mit der zivilisatorischen Unzulänglichkeit einer immer zahlreicher werdenden dritten Welt zu überlasten, damit wir darunter untergehen.
Der herrschende Diskurs gebietet den Antirassismus. Antirassismus heißt, daß den Völkern der Dritten Welt und ihren Abkömmlingen in der Ersten, die eigene Dysfunktionalität nicht angerechnet werden darf. Wir dürfen nicht auf den Slum oder das Getto schauen und sagen: „Selber schuld, warum ist auch euer IQ so niedrig und eure Zeitpräferenz so hoch!“ (Weil schließlich irgendwer für den Zustand des Slums verantwortlich sein muß, stellt man fest, daß Weißen Afrika postkolonial ausbeuten.)
Stattdessen haben wir sie für ihre Benachteiligung zu entschädigen. Dieser Gedankengang liegt in dem Argument, wir hätten ja nur Glück gehabt im reichen Westen geboren zu sein und wären jetzt zur Solidarität mit den weniger Glücklichen verpflichtet. Das Glück, einem Volk anzugehören, das eine moderne Zivilisation aufbauen und am Laufen halten kann, gäbe uns also kein legitimes Vorrecht auf das Leben in einer solchen Zivilisation.
Das würde ja auch eine Abwertung der anderen bedeuten und das größte Tabu des Antirassismus besteht darin, die Menschen der Dritten Welt mit abwertenden Bezeichnungen zu versehen, die es uns psychologisch erlaubten, sie mit ihrem selbstverursachten Elend alleine zu lassen.
Die Gleichstellung von Menschen mit sexuellen Störungen verläuft analog. Sie müssen deshalb mit Menschen von gesunder Sexualität gleichgestellt werden (koste es, was es wolle), weil die Beschaffenheit der Sexualität ebenso wie die Zugehörigkeit zu einer Rasse oder eine Kultur aus dem Katalog der Eigenschaften gestrichen wurde, deren negative Folgen man einem Menschen legitimerweise zumuten darf.
Mit diesem Mittel untergräbt die Linke den viel gepriesenen „gesunden Menschenverstand“, über den bürgerliche Menschen ja tatsächlich verfügen. Der nicht wegzuleugnende Unterschied wird zur Ungerechtigkeit erklärt und der bürgerliche Mensch kapituliert, weil der Unterschied das Ergebnis von Eigenschaften ist, die tabuisiert wurden.
Genauer, das Tabu betrifft die Abwertung eines Menschen aufgrund dieser Eigenschaften. Das zielt direkt ins bürgerliche Anstandsempfinden. Man tut oder sagt bestimmte notwendige Dinge nicht mehr, wenn es das gesellschaftliche Klima nahelegt.
Der bürgerlichen Mitte fehlt jeder Maßstäbe, an Hand dessen sich die Unterscheidungen und Wertungen rechtfertigen lassen, die für unser Überleben notwendig sind. Wie im erste Teil gezeigt, kann die Linke sie immer auf Basis der geteilten Prämissen der Scharlatanerie und Heuchelei überführen. Deshalb mögen Parteien um sie werben, ein ernsthafter Widerstand gegen den Großen Austausch, Gender Mainstreaming und andere zivilisationszersetzende Projekte ist von dort her ausgeschlossen.
Auch wenn sie im Prinzip nicht an die radikale Gleichheit der Linken glaubt, wenn es ernst wird, handelt die bürgerliche Mitte gemäß von der Linken aufgestellten Tabus und schmeißt den „gesunden Menschenverstand“ über Bord.
„Es mag ja sein daß, aber man kann ja auch nicht …“
Das hier ist im Übrigen kein antibürgerliches Pamphlet im Niekisch-Stil, das über die Leiche des Bürgers nach irgendwohin will. Der Bürger ist der Typus des Normalmenschen, es ist vollends absurd ihn abschaffen, oder eine unbürgerliche Gesellschaft aufbauen zu wollen. Was dieser Menschentypus leistet, lernt man vielleicht nur dann wirklich zu schätzen, wenn man selbst nicht dazugehört. Das ändert nicht, daß von ihm nicht die politischen Entscheidungen unserer Zeit ausgehen können.
Maiordomus
Der zweite Teil ist weniger klar und zum Teil missverständlich formuliert. Selbst wenn man beispielsweise, was ja die wirklich bedeutenden Homosexuellenbefreier des 19. Jahrhunderts, so Heinrich Hössli und Karl Heinrich Ulrichs, noch längst nicht forderten, die Homosexuellenehe aus politisch-gesellschaftlich-funktionalen Gründen nicht befürwortet, bleibt es lächerlich und anthropologisch falsch, Homosexualität als sexuelle Störung oder generell Persönlichkeitsstörung zu bezeichnen. Es ist grundsätzlich keineswegs keine Störung der menschlichen Existenz, was noch lange nicht heisst, dass eine wirklich vernünftige Sexualethik für Homosexuelle schon zu Ende gedacht wäre. Davon sind wir noch weit entfernt. Auch über die Vorstellungen über das Zusammenleben der Heterosexuellen herrscht derzeit zunächst mal tiefe Verwirrung. Dabei ist für mich auch klar, dass die Meinung des Lehramtes der katholischen Kirche, man verfüge auf diesem Gebiet über Sachkompetenz, meistenteils auf langfristigen Irrtümern über den Menschen beruht. Hier muss noch vertieft nachgedacht werden. Am Ende müssen die Gesetze vernünftigerweise so gemacht werden, dass sie für die Weiterexistenz einer selbstverantwortlichen bürgerlichen Gesellschaft sowie für das Allgemeinwohl wie auch das individuelle Wohl nutzbringend oder wenigstens nicht schädlich sind. Eine wirklich alle Leute befriedigende, generell "glücklichmachende" Lösung gibt es nicht. Der Eros wurde von einigen der besten und tiefsinnigsten Philosophen nicht zufällig als "tragischer Gott" bezeichnet, wobei freilich die Vergöttlichung des Eros bereits der Anfang eines unheilbaren, für die Gesellschaft und das Individuum nicht brauchbaren Irrtums ist.