Die Psychologin Gabriele Bensberg (sie leitete von 2011 bis 2017 die Psychologische Beratngsstelle des Studierendenwerks Mannheim) befaßt sich in ihrem kaplaken-Bändchen mit der Identität und gibt im folgenden Gespräch Antworten darauf, warum die Frage nach der Identität eine Schicksalsfrage ist.
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SEZESSION: Sehr geehrte Frau Dr. Bensberg, Sie ziehen in Ihrem Buch historische Vergleiche zu Völkern, die sich in einer existenziellen Bedrohungslage befanden und darüber der gemeinsamen, übergeordneten Identität bewußt wurden, weil sie dabei half, sich zu behaupten. Betrachten wir die Situation heute, befinden wir uns in einer ähnlichen existenzbedrohenden Lage. Dennoch bleibt der sprichwörtliche “große Befreiungsschlag“ des identitätsbewußten Revivals aus. Woran liegt das?
BENSBERG: Das liegt daran, daß in Deutschland das sogenannte kosmopolitische Weltbild die Deutungshoheit erlangt hat und wir seit Jahrzehnten, um Professor Meuthen zu zitieren, in einer „links-rot-grün versifften“ Republik leben. Dieser Wertewandel hat sich sehr radikal vollzogen und wird von den Altparteien und vor allem den Medien vertreten. Das kosmopolitische Weltbild postuliert die Gleichheit aller Menschen, so daß es angeblich bedeutungslos ist, wo jemand geboren wurde und welche Lebensformen er nach welchen Werten praktiziert. Dieses Weltbild hat 2015 für die diskussionslose Aufnahme von jedem „Flüchtling“, der bei uns anklopfte, gesorgt, ohne daß man sich für dessen Identität groß interessiert hätte.
SEZESSION: Wie sähe ein Weltbild aus, das der Infragestellung und Bedrohung des Eigenen nicht masochistisch entgegenträte?
BENSBERG: Das entgegengesetzte Welt- und Gesellschaftsverständnis ist » kommunitaristisch«. Es begreift den Einzelmenschen nicht nur als Individuum, sondern auch als Teil seiner Familie und einer größeren Gemeinschaft, eines Volkes, einer Nation, deren Traditionen und Werte ihn geprägt haben. Dabei wird angenommen, daß die Werte und das Menschenbild anderer Kulturen nicht unbedingt schlechter, aber eben anders sind, und daß ein friedliches und sozial gerechtes Miteinander nur innerhalb einer möglichst homogenen Gesellschaft funktionieren kann, deren Angehörige eine ähnliche Geschichte teilen und ähnliche Standards des Zusammenlebens entwickelt haben.
Daß man „wir“ sagt, hat nichts mit der Anerkennung irgendwelcher Gesetzesparagraphen zu tun, sondern mit der Einbindung in eine gemeinsame Geschichte und eine bestimmte Kultur. Geschichtliche Ereignisse gehen in das kulturelle Gedächtnis ein, rufen ein Zusammengehörigkeitsgefühl hervor und unterscheiden Kulturen notwendigerweise voneinander. Vertritt man jedoch in Deutschland diese Position und äußert grundsätzliche Bedenken gegenüber einer „bunten“ Gesellschaft, gilt man schon als faschistoid und riskiert im Extremfall, seine Wohnung und seinen Job zu verlieren.
SEZESSION: Sie schreiben davon, daß es Kulturdimensionen gäbe, welche die diversen Volksidentitäten voneinander scheiden. So schreiben Sie den Mitteleuropäern und insbesondere den Deutschen zu, daß sie im Vergleich zu anderen Völkern eher femininer Prägung oder Tendenz seien. Woran machen Sie das fest? Und: Ist dies eine jüngere Entwicklung oder bereits seit längerem im Wesenszug der Deutschen verankert?
BENSBERG: Das weiß man aufgrund wissenschaftlicher Studien, in denen repräsentative Befragungen zu Werten und Haltungen in einzelnen Ländern durchgeführt wurden. Schweden steht übrigens an der Spitze der feminin geprägten Nationen. Deutschland mischt weit vorne mit, und das ist absolut kein historischer Wesenszug der Deutschen, sondern hat mit der jüngeren Geschichte zu tun. Zur Zeit des dritten Reiches wurden maskuline Tugenden massiv mißbraucht und gerieten nach dem Krieg daher in Mißkredit, wobei man das Kind mit dem Bade ausschüttete. Dazu beigetragen haben auch Schriften wie Adornos „Studien zum autoritären Charakter“. Adorno sah in dem angeblich autoritären Charakter der Deutschen eine wesentliche Verursachungsquelle für den Aufstieg der Nationalsozialisten. In der Folge gerieten alle Eigenschaften, die als traditionell maskulin gelten, in Generalverdacht. Man versuchte, sich von diesen Eigenschaften zu distanzieren und seine Kinder in genau entgegengesetzter Richtung zu erziehen.
Massiven Einfluß nahmen dann die Achtundsechziger, deren Ideen in den meisten westlichen Ländern Fuß faßten und deren Epigonen sich in Deutschland in der Partei „Die Grünen“ sammelten. Sie schafften den Marsch durch die Institutionen und veränderten entscheidend das gesellschaftliche Wertespektrum. Maskuline Tugenden wie Disziplin, Selbstkontrolle, Anerkennung von Autoritäten, Mut, Tapferkeit und die Bereitschaft, in einer existenziell bedrohlichen Situation das eigene Land notfalls mit dem Einsatz von Waffen zu verteidigen, wurden von ihnen verdammt. Statt dessen organisierten sie sich in der Friedensbewegung, riefen zur Wehrdienstverweigerung auf und proklamierten die antiautoritäre Erziehung in Kindergären, Schulen und Familien. Die Kinderladenbewegung war nicht nur ein Phänomen linker Studentengruppen, sondern drang weit in bürgerliche Kreise ein.
Die letzte Blüte, die auf diesem Boden erwuchs, ist der Genderismus, dessen bizarre Vertreter biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern schlichtweg leugnen und Unterschiede zwischen Mann und Frau nur als Folge gesellschaftlicher Einflüsse verstehen – eine Absurdität, deren Unsinn jeder Abiturient mit LK Biologie problemlos nachweisen kann.
SEZESSION: Diese Angehörigen einer »neuen Gesellschaft« könnten – das ist die Hoffnung unserer Zeit – gerade das Emanzipiertsein von einer belastenden Geschichte und von jeder Festlegung überhaupt als große Gemeinsamkeit ansehen. Ist das nicht ein wirkmächtiges Konzept?
BENSBERG: Wenn Sie mit den Angehörigen einer „neuen Gesellschaft“ die „progressiven“ Kräfte im Land meinen, die aus den von mir genannten Bewegungen entstanden sind wie zum Beispiel die Grünen, so schlagen diese ja gerade den umgekehrten Weg ein.
Der Kulturwissenschaftler Professor Jan Assmann nennt als wesentlichen Stützpfeiler der Identität einer Großgruppe den sog. Gründungsmythos. Dieser Mythos muss historisch nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen, aber er sollte, um zu tragen, positiv besetzt sein wie etwa der Auszug aus Ägypten oder der Rütlischwur. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich jedoch mit Auschwitz einen äußerst problematischen negativen Gründungsmythos geschaffen.
Und es sind gerade die links-liberalen „progressiven“ Kräfte, die diesen Mythos kultivieren, indem sie unablässig vor dem Abgleiten in nationale Denkmuster warnen und beständig Offenheit, Vielfalt und Interkulturalität predigen. Die 12 Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft wirken also immer noch wie ein engmaschiges Korsett. Nur auf diesem Hintergrund ist die hypertrophe deutsche Willkommenskultur der vorangegangenen Jahre überhaupt zu verstehen, über die man ja nicht nur in Osteuropa, sondern auch in einigen westlichen Nachbarländern, in denen Nationalsozialisten nie an der Macht waren, verständnislos den Kopf geschüttelt hat. Der niederländische Telegraaf nannte uns damals ein Volk von opferbereiten Naivlingen und die Dänen schotteten sich schon 2015 gegenüber den Flüchtlingen ab und betonten, dass sie dänisch bleiben wollten. Sagt man in Deutschland, man wolle deutsch bleiben, hat man angeblich aus der Geschichte nichts gelernt und mit Geschichte ist dann vor allem die nationalsozialistische Diktatur gemeint.
SEZESSION: Sie sprachen über persönliche, familiäre, berufliche und nationale Identität. Gibt es aus Ihrer Sicht so etwas wie eine zivilisatorische Identitätsebene? Wie wichtig ist Europa als Raum gemeinsamen Schicksals, gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Identität?
BENSBERG: Selbstverständlich ist Europa immens wichtig, denn uns Europäer verbindet eine lange Geschichte, eine gemeinsam Kultur und Errungenschaften, um die uns die Welt beneidet hat. Die großen Denker der griechischen und römischen Antike, die jüdisch-christliche Basis, die Errungenschaften der französischen Revolution, innovative Erfindungen, die dann die industrielle Revolution ermöglichten und vieles andere mehr, gehören dazu.
Auch die Frau hatte bei den Europäern seit jeher eine viel stärkere Stellung als in vielen außereuropäischen Kulturen, auch wenn es lange gedauert hat, bis die volle Gleichberechtigung erreicht war. Eine hochgebildete Äbtissin wie etwa Hildegard von Bingen, die selbst Friedrich Barbarossa Ratschläge erteilte, kennt der Islam nicht. Dieser Unterschied in Bezug auf die Stellung der Frau existierte schon vor der Christianisierung. So verwunderte sich der arabische Händler aṭ-Ṭarṭûschî, der das wikingische und damals noch heidnisch geprägte Handelszentrum Haithabu im Jahr 965 besuchte, über die Freiheiten, die Frauen eingeräumt wurden, u.a. das Recht, sich aus eigenem Entschluß heraus von seinem Ehemann zu scheiden.
Europa ist im übrigen nicht gleichbedeutend mit der EU. Diejenigen Bürger, die bei „Pulse of Europe“ demonstrieren, segeln unter falscher Flagge. Sie demonstrieren eigentlich für die EU und nicht für Europa. Die EU betreibt durch ihre Politik der „Gleichmacherei“ die Zerstörung des alten Europas, das jenseits der obengenannten Gemeinsamkeiten aus unterschiedlichen Völkern mit einer jeweils unterschiedlichen Historie bestand, die sich gegenseitig u.a. durch den Austausch von Ideen befruchteten, so daß sich ein faszinierendes Mosaik ergab. Wer aber versucht, die bunten Steine eines Mosaiks in eine einzige Farbe umzufärben, zerstört das Mosaik und nimmt ihm seine Strahlkraft.
SEZESSION: Den einseitigen Umgang mit unserer Geschichte, die stetige Konfrontation mit der zugeschriebenen historischen Schuld wird von Ihnen als schwere Identitätsstörung betrachtet. Gleichzeitig verweisen Sie darauf, daß diesbezüglich eine Reizüberflutung stattgefunden habe. Können Sie sich vorstellen, daß die Schuldfrage für künftige Generationen eine immer unbedeutendere Rolle spielt und dadurch eine Normalisierungsprozeß stattfindet?
BENSBERG: Die Schuldfrage wird in der Tat mit zunehmendem Abstand zu diesen zwölf Jahren eine unbedeutendere Rolle spielen, zumal absehbar ist, wann die letzten Zeitzeugen verstorben sein werden. Es gibt dann in den Familien junger Leute keine noch lebenden Vorfahren mehr, die an den damaligen Geschehnissen beteiligt waren.
SEZESSION: Das ändert doch aber nichts an der Tatsache, daß die historische Erzählung ganz und gar durch den Drehpunkt »Drittes Reich« bestimmt wird: Den Anlauf dorthin bildet der fatale deutsche Sonderweg, dann kommen die zwölf schlechthin bösen Jahre, und erst durch die totale Niederlage ist eine befreite, also gute deutsche Geschichte möglich geworden. Um dies zu erzählen, brauchen Sie keine Zeitzeugen.
BENSBERG: Die individuell empfundene oder unbewußt wirkende Schuldfrage ist etwas, das sich mit zunehmendem Abstand zum Ereignis abschwächen könnte. Sie ist deshalb aus meiner Sicht nicht allein dafür verantwortlich, daß das Nationalgefühl in Deutschland am schwächsten ausgeprägt ist, wie etwa der von mir zitierte Psychologieprofessor Schmidt-Denter und sein Team von der Kölner Universität in einem europaweiten Vergleich nachgewiesen haben. Dazu tragen die Schulen und die entsprechenden Curricula, die Leitmedien sowie die regierenden Altparteien erheblich bei. Zum Teil stellt ja schon die Bezeichnung „national“ eine Art verdammungswürdiges Schimpfwort dar, und wo sonst wird eine Integrationsministerin berufen, die leugnet, daß es außerhalb der Sprache überhaupt so etwas wie eine deutsche Kultur gibt.
Andere Nationen haben diesen masochistischen Zug nicht. Die USA hätten allen Grund, sich ihres erbarmungslosen Umgangs mit den indianischen Ureinwohnern zu schämen. Es sei daran erinnert, daß die Indianer Amerikas von den Siedlern gezielt verfolgt und fast ausgerottet wurden. Im ausgehenden 17. Jahrhundert setzte etwa das Gericht von Massachusetts offiziell ein Kopfgeld in unterschiedlicher Höhe je nach Mann, Frau oder Kind für jeden getöteten Indianer aus, und noch am Ende des 19. Jahrhunderts befleißigte sich der Bundesstaat Minnesota derselben Praxis, indem Prämien für getötete Indianer gezahlt wurden.
Die US-Amerikaner plazieren aber im Unterschied zu uns kein Mahnmal, das ihre eigenen Schandtaten in Stein oder Stahl gießt, in ihrer Hauptstadt oder stellen es sich vor das Weiße Haus, sondern sie betonen statt dessen die positiven Aspekte ihrer Geschichte und Nation.
SEZESSION: Wird es eine Wiederentdeckung der eigenen Identität im großen Umfang geben? Wenn ja: Wie könnte sich dies äußern, vollziehen?
BENSBERG: Nun, ich bin keine Prophetin, und in unserer schnellebigen Zeit lassen sich solche Vorhersagen nur unter großen Vorbehalten treffen. Ich glaube, das Wiederentdecken der eigenen kulturellen Identität als etwas Wertvollem, das es zu verteidigen gilt, kann sich auf verschiedenen Wegen vollziehen: Einmal indem die Probleme, die die Zuwanderung mit sich bringt, eskalieren, zum Beispiel indem Migranten, wie in Ceuta nun schon wiederholt geschehen, unter Anwendung von massiver Gewalt versuchen, in das europäische Land ihrer Wahl zu gelangen, zum anderen indem Kriminalität und Vandalismus in von Migranten dominierten Stadtteilen und Städten wie z.B. im schwedischen Malmö weiter zunehmen. Auch die Erfahrung, daß immer mehr Städte und Regionen „kippen“, indem sie islamisiert oder afrikanisiert werden, kann dazu beitragen, sich auf das eigene kulturelle Erbe zu besinnen. So nennt ein italienischer Politikwissenschaftler Neapel mittlerweile „die nördlichste afrikanische Stadt“, worauf Professor Werner J. Patzelt von der TU Dresden in seinem Vortrag “Europa für alle? Aspekte der neuen Völkerwanderung“ hingewiesen hat. Hier hat sich nicht nur Italien bereits abgeschafft, nein, hier hat sich Europa abgeschafft. Auch die ständig vorhandene Terrorgefahr kann willkommensaspirierte Naivlinge zu einer realistischeren Sicht auf die Zuwanderung bewegen. So hätte der in Köln geplante islamistische Anschlag mit dem extrem gefährlichen Gift Rizin im Ernstfall Tausende Menschen das Leben kosten können und wäre dann als der verheerendste Terrorakt in ganz Europa in die Geschichte eingegangen.
Diese Phänomene können dazu führen, daß Menschen politisch umdenken. Daß das möglich ist, zeigt Schweden. Das Land galt über viele Jahrzehnte geradezu als Tempel der Multikulturalität, das Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten Tür und Tor weit geöffnet hat. Seitdem jedoch ungelöste Integrationsprobleme dilatieren und mehr als die Hälfte der Sozialleistungen von Migranten in Anspruch genommen werden, hat sich die Stimmung deutlich geändert. Immer mehr Schweden haben die Faxen dicke, und das schlägt sich auch politisch nieder. Auch Deutschland kann sich wandeln, und Deutschland ist schon dabei, sich zu wandeln.
Maiordomus
Man stelle sich ein Völkermord-Denkmal als Entschuldigung für das Verschwinden der Ureinwohner vor, sagen wir mal vor dem Kapitol in Washington? Da sieht Bensberg sicher einiges richtig, wiewohl man als Staatsphilosoph darauf hinweisen muss, dass "Identität" zwar ein notwendiger Bestandteil des Volksbegriffs ist, aber noch längst nicht der Kern dessen, was man in der Tradition von Aristoteles und Pufendorf in der Staatsphilosophie das Allgemeinwohl genannt hat.