Als sich die Virologen Dietrich Peters und Günther Müller am 20. November 1967 über das Transmissionselektronenmikroskop des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin in Hamburg beugten, war die Lage kritisch. Mitte August des Jahres waren rund ein Dutzend Menschen mit übereinstimmenden Symptomen einer schweren Fiebererkrankung in die Notaufnahmen der Universitätskliniken in Marburg und Frankfurt eingeliefert worden.
Bald sank die Temperatur der Patienten signifikant; dafür war binnen sieben Tagen nach Ausbruch der Krankheit das Lebergewebe der Betroffenen weitgehend zerstört, Lähmungserscheinungen stellten sich ein, und ein Viertel der Erkrankten begann, aus allen Körperöffnungen zu bluten – das medizinische »üble Vorzeichen« (Signum mali ominis), das bei über 70 Prozent der Betroffenen den bevorstehenden Tod ankündigte.
Als es bis Monatsende Neuerkrankungen sowie vier Todesopfer gegeben hatte, mußte ein Sprecher des hessischen Gesundheitsministeriums bekennen: »Wir tappen völlig im Dunkeln.« Mit den üblichen Analysemethoden blieb ein Durchbruch aus; erst eine Verkettung glücklicher Umstände führte zum Versand von Blutproben nach Hamburg, wo Müller mit dem Negative-stain-Verfahren eine kontrastreichere Form der Elektronenmikroskopie entwickelt hatte. So gelang ihm und Peters an jenem Tag tatsächlich die Abbildung des Erregers der rätselhaften Krankheit – einer in sich verschlungenen, peitschenartigen, bis dahin völlig unbekannten Struktur, die einer neuen Virusfamilie den Namen Filoviridae (von lat. filum für Saite, Draht) gab.
Parallel zur Jagd auf den Auslöser der Epidemie war auch die Suche nach seiner Herkunft angelaufen. Bei den Erstinfizierten (Indexpatienten) handelte es sich zum Großteil um Angestellte des damals in Frankfurt ansässigen Paul-Ehrlich-Instituts für Impfstoffe sowie der zum Pharmagiganten Hoechst gehörenden Marburger Behringwerke. Sie alle hatten direkten Kontakt mit Blut, Organen und Zellkulturen einer Lieferung Grüner Meerkatzen aus Uganda gehabt – die kleinen Affen waren für die Gewinnung von Nierenzellkulturen zur Züchtung und Erprobung von Poliomyelitis- und Masernimpfstoff importiert worden. Nach Aufkeimen des Verdachts, daß es sich bei den Tieren um die Überträger (Vektoren) der neuartigen Tropenseuche handeln könnte, wurden sie zusammen mit 600 Artgenossen umgehend getötet; der Erreger indes wurde nach dem mutmaßlichen Ausbruchsort Marburgvirus getauft.
50 Jahre nach diesen Vorkommnissen steht die Geschichte der Entdeckung der Filoviren als Menetekel an der Wand einer beispiellos vernetzten und globalisierten Welt. Bereits 1967 war auf dem Höhepunkt der öffentlichen Erregung im Spiegel zu lesen:
[N]och immer bangen die Mediziner vor der Möglichkeit, daß sich in der dichtbevölkerten, verkehrsschnellen zivilisierten Welt unvermutet eine neue, bis dahin unbekannte Virusart zeigen könnte, die verheerende Seuchen mit sich brächte, vergleichbar den völkermordenden Pestzügen des Mittelalters.
Als dieser Artikel erschien, hatte es binnen 40 Jahren mit der »Spanischen Grippe« (1918–1920) und der »Asiatischen Grippe« (1957/58) zwei weltweite Influenza-Pandemien gegeben, denen bis zu 52 Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren und denen sich nach den Ereignissen in Marburg noch die »Hongkong-Grippe« (1968–1970) zugesellen sollte, an der – heute vergessen – allein in der Bundesrepublik rund 30.000 Menschen starben.
Während uns schriftliche Zeugnisse von Epidemien bereits aus antiker Zeit vorliegen, gilt als erste der die gesamte damalige Alte Welt ergreifenden Pandemien der »Schwarze Tod« des Spätmittelalters (durch das Bakterium Yersinia pestis; 1346–1353), der die Bevölkerung Europas um ein Drittel dezimierte. Wahrhaftig um den ganzen Globus rasende Infektionswellen sind ein wesentliches Kennzeichen des industriellen Zeitalters und tatsächlich erst seit Ende des Ersten Weltkriegs nachgewiesen – eine ganz eigene Begleiterscheinung der seither immer weiter eskalierten Entgrenzung der Welt. Als eine düstere, wenngleich nebulöse Vorahnung kommender Ereignisse läßt sich Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm Nosferatu von 1922 lesen, in dem der (auf Bram Stokers Roman Dracula basierende) Vampirgraf Orlok mit einem Schiff voller Ratten die Pest in die Hafenstadt Wisborg bringt.
Zwar hat sich mit dem immer weiter fortschreitenden »Zusammenwachsen« der Welt auch die Infektionsmedizin unablässig weiterentwickelt. Gleichwohl stellt sich neben dem seit jeher bestehenden bedenklichen Primat der Wirtschaft vor Gesundheitsfragen (in den 1960ern gab es für die weltweit für Tierversuche im Umlauf befindlichen Affen in der BRD etwa keinerlei Einfuhrgesetze, während importierte Haustiere mit strengen Auflagen versehen waren) insbesondere die Rolle der internationalen Medien hochproblematisch dar – während Epidemien insbesondere in Entwicklungsländern in der Regel nur am Rande oder gar nicht erwähnt werden, wird beim Nachweis des Übergangs von Krankheitserregern in den globalen Waren- und Personenverkehr umgehend Katastrophenstimmung geschürt, was aufgrund des Spektakelcharakters oft in keinerlei Verhältnis zur tatsächlichen Mortalität und Letalität steht.
Paradebeispiel ist die rasche weltweite Ausbreitung des Severe acute respiratory syndrome, kurz SARS, hervorgerufen vom durch Tröpfcheninfektion übertragenen (und bis dahin unbekannten) SARS-assoziierten Coronavirus, der sich 2002/03 innerhalb weniger Wochen von Asien über die USA und Großbritannien in die ganze Welt ausbreitete. Die tatsächlich mäßige Todesrate von neun Prozent (etwa 775 Tote weltweit) wurde gänzlich verdeckt von der Bestürzung über die rasante Verbreitungsrate der Erkrankung, die für einen luftübertragbaren Erreger unter Bedingungen der globalisierten Welt allerdings mitnichten ungewöhnlich ist.
Entsprechend fiel die weltweite Reaktion aus, als die WHO im April 2009 vor einem bestimmten Subtyp des H1N1-Influenzavirus warnte und wenige Wochen später die höchste weltweite Alarmstufe ausgab – die einjährige Medienhysterie um die »Schweinegrippe« sorgte unter anderem für kopflose staatliche Ankäufe unerprobter Impfstoffe, wodurch etwa den deutschen Bundesländern ein Schaden von 245 Millionen Euro entstand. Tatsächlich werden in Deutschland 258 Todesfälle auf die »Schweinegrippe« zurückgeführt.
Zu zweifelhaftem Weltruhm brachte es insbesondere der bekannteste Verwandte des Marburgvirus, der erstmals 1976 im Kongo aufgetretene Ebolavirus, im Zuge des in West- und Zentralafrika um sich greifenden Ausbruchs 2014–2016. Man beachte: Filoviren sind an Wildtiere angepaßt und im menschlichen Organismus wirtsfremd. Das zeigt der katastrophale Verlauf der Infektion mit schnellem Tod (der den Grund für das hohe Medieninteresse an den sogenannten »hämorrhagischen Fiebern« darstellt), wodurch sich die Erreger nicht längerfristig verbreiten können. Ebenso sind sie von Mensch zu Mensch im Vergleich etwa zu Rhinoviren (Schnupfen) nur schwer übertragbar, in der Regel durch direkten Kontakt mit infiziertem Gewebe, was im bezeichneten Ebolafall vor allem – internationalen – Ärzten und Pflegepersonal zum Verhängnis wurde. Sie wurden im Ansteckungsfall in ihre Heimatländer ausgeflogen und verschärften dort die Medienhysterie.
Dies führt zurück zum Kern des Problems. Daß eigentliche Tierkrankheiten (Zoonosen) die Artengrenze überschreiten, erklärt sich insbesondere durch das massive Bevölkerungswachstum in Afrika, die damit verbundene Durchsiedelung des Urwalds und die daraus erfolgende Verschleppung in Ballungsräume. Von dort aus führen Verkehrswege in die ganze Welt, und einer globalen Ausbreitung binnen weniger Wochen ließe sich nur durch die – kaum mögliche – umgehende Abschottung eines ganzen befallenen Lands entgegensteuern.
Neue Biogefahren lauern bereits: 2011 tötete das EHEC-Bakterium, verbreitet über Sprossengemüse aus Ägypten, in Norddeutschland 53 Menschen. Der Anfang 2016 von der WHO ausgegebene »Gesundheitsnotstand internationalen Ausmaßes« aufgrund des Zikavirus, der sich bislang von Afrika und Südostasien bis Lateinamerika ausgebreitet hat, besteht noch immer, auch wenn man hierzulande lange nichts mehr davon gehört hat. Und seit August 2017 beobachtet die WHO einen »Großausbruch« der Pest auf Madagaskar, wobei mit Stand vom 2. November in 62 Prozent der Fälle die besonders durch Reisende übertragene Lungenpest auftritt – sämtliche umliegenden Inseln und die Staaten Süd- und Ostafrikas befinden sich seither in Pandemie-Alarmbereitschaft. Die Rückkehr von Krankheiten wie der Krätze im Kielwasser des Migrantenstroms wird hierzulande eher beschwiegen.
Die Entdeckung des Marburgvirus und seiner ziemlich eindeutig rekonstruierbaren Verschleppung nach Deutschland hätte vor 50 Jahren einen weltweiten Weckruf darstellen können. Der kam jedoch erst fast 15 Jahre später infolge eines ganz anderen Erregers, nämlich HIV, der im Gegensatz zu den blinden Passagieren aus der Dritten Welt auch viele prominente Opfer forderte. Die Globalisierung hat nicht zuletzt auch dem Tod die Weltreise einfacher gemacht – doch solange Warenfluß und Tourismus Vorrang haben, sind etwaige Vorsichtsmaßnahmen nur hinderlich.