Aufklärung aus erster Hand ist schon deshalb notwendig, weil auch in Deutschlands politischer Rechten noch reichlich Unklarheit herrscht – Unklarheit ob der Intentionen der verschiedenen beteiligten Protestgruppen im Rahmen dieser plötzlich aufgetretenen sozialen Bewegung; Unklarheit ob entsprechender Bewertungen des populistischen Phänomens auf der Straße.
Martin Lichtmesz hat eine erste wichtige und kenntnisreiche Geländevermessung unternommen; nun ordnet Alain de Benoist – Denker des »Populismus« als zeitgemäßer Protestbewegung gegen Verwerfungen der kapitalistischen Globalisierung – die Situation für unsere Leser ein.
SEZESSION: Sie haben geschrieben, daß das »periphere Frankreich« (la France périphérique) nun rufe: »Es reicht!« Wessen Geduld zeigt sich hier am Ende? Wer ist das periphere Frankreich und was um- bzw. erfaßt es überhaupt?
ALAIN DE BENOIST: Der Ausdruck »peripheres Frankreich« wurde – mit großem Erfolg – durch den Soziologen Christophe Guilly geprägt und popularisiert. Es geht um die Verdeutlichung der Kluft, die – vor allem in Frankreich, wo Zentralisierung und die jakobinische Tradition schon immer sehr stark waren – die herrschenden Eliten von der Bevölkerung ländlicher, kleiner und mittlerer Provinzstädte sowie Stadtrandgebiete trennt.
Die Bewohner des »peripheren Frankreichs« fühlen sich zugleich ausgebeutet, immer stärker besteuert; sie sind Opfer einer dreifachen Unsicherheit: politisch, sozial und kulturell. Sie glauben, daß sie von einer herrschenden Klasse, die in den großen Metropolen der Welt konzentriert ist, als nutzlos erachtet werden.
SEZESSION: Also ist sind die Gelben Westen Ergebnis fehlender Aufmerksamkeit durch die Herrschenden?
ALAIN DE BENOIST: Die Bewegung der Gelben Westen erklärt sich aus der Anhäufung von Groll, Enttäuschung, Bitterkeit und Wut in den letzten Jahren. Der Aufstand der Gelben Westen ist die Art und Weise des peripheren Frankreichs, daran zu erinnern, daß es existiert – und daß Frankreich nicht auf die Zusammensetzung aus Technokraten, Bobos (linksliberalen Bürgern) und Bewohnern »problematischer Nachbarschaften« beschränkt ist.
Die Mittel- und die Arbeiterklasse waren lange Zeit geduldig. Sie haben fast jede politische Partei ausprobiert, ohne Ergebnisse zu erzielen. Nun ist die Geduld vorbei.
SEZESSION: Das ist sie offenbar, und zwar in der genannten »France périphérique«, im »pays réel« (= das wahre Land), im Frankreich »des classes populaires« (= der Volksklassen). In Frankreich existieren für diese Gegenbild zu den Erscheinungen des Zentrums als Mainstreams wichtige und klare Termini.
In Deutschland haben wir keine vergleichbaren Begriffsschöpfungen. Ist der Unterschied von einer Nation zur anderen wirklich auch heute noch so groß?
ALAIN DE BENOIST: In der Tat bin ich mir nicht sicher, ob wir von einem »peripheren Deutschland« sprechen könnten, in dem Sinne, daß Deutschland nun mal seit jeher weniger zentralisiert ist als Frankreich, daß es in mehrere Länder unterteilt ist, daß die Kluft zwischen den Städten und der Provinz kleiner ist usw. Deutschland ist auch wirtschaftlich stärker als Frankreich, die Arbeitslosigkeit ist niedriger, die Kaufkraft ist bisher wahrscheinlich weniger gefährdet.
Ich glaube jedoch, daß das, was in Frankreich passiert, nicht auf das Land beschränkt bleiben wird. In allen europäischen Ländern gibt es eine Herabstufung der Mittelschicht, einen Anstieg der prekären Arbeit (siehe Working poors in England, Minijobber in Deutschland) und wachsende kritische Reaktionen auf die massive Einwanderung und die damit verbundenen sozialen Pathologien.
Aus diesem Grund erleben wir überall den Aufstieg des Populismus und das Verschwinden der alten institutionellen Parteien. In Deutschland verläuft die Entwicklung noch langsamer als anderswo, sie wird dafür aber dauerhafter und tiefschürfender sein.
Meines Erachtens hat der Prozeß, der in Frankreich zum Aufstieg des Front National (nun: Rassemblement Nation) und zur Bewegung der Gelben Westen sowie in Italien zur Errichtung einer populistischen Koalition (Lega und Fünf Sterne) geführt hat, schon jetzt in Deutschland begonnen. Aber ja, in Ihrem Land steht man noch am Anfang.
SEZESSION: Wenn Frankreich hier einmal mehr vorangeht, was politische Prozesse anbelangt, bleibt unser Nachbar für Europa offenbar das »politische Laboratorium« (Armin Mohler), das es immer war, spätestens seit 1789/93.
Wir wissen noch nicht genug darüber, aber denken Sie, daß populistische Bewegungen wie die Gelben Westen trotz der von Ihnen skizzierten strukturellen Unterschiede auch in Deutschland Erfolge feiern könnten? Was müßte hierfür geschehen?
ALAIN DE BENOIST: Armin Mohler sagte oft, daß alle Revolutionen in Frankreich begönnen, aber er wies auch darauf hin, daß sie außerhalb Frankreichs vollendet würden. Das entspricht meiner Auffassung. Wie bereits angedeutet: Eine Bewegung wie jene der Gelben Westen ist in Deutschland nicht undenkbar, aber wahrscheinlich tritt eine solche nicht sofort auf.
Es kann nur dann ein echter Populismus entstehen, wenn verschiedene soziale Schichten sich als Opfer kultureller Unsicherheit (Einwanderung, »Islamisierung« usw.) und sozialer Unsicherheit (Abnahme oder Stagnation der Kaufkraft, strukturelle Arbeitslosigkeit, Prekarität usw.) betrachten. Erst jene, die sich in dieser Situation befinden, haben das Gefühl, nichts (mehr) zu verlieren.
In Deutschland nimmt die kulturelle Unsicherheit derzeit rasant zu, aber die soziale Unsicherheit ist weniger stark ausgeprägt. Im Falle einer größeren, etwa globalen Wirtschaftskrise kann sich dies natürlich schnell ändern.
SEZESSION: In Frankreich haben wir den Moment, den Augenblick des Populismus, wie Sie in einem Ihrer letzten Bücher titelten. Welche Rolle könnte hier konkret der Rassemblement National spielen? Und, analog: Welche Funktion könnte die AfD in Deutschland einnehmen?
ALAIN DE BENOIST: Zur AfD kann ich nicht allumfassend antworten; ich kenne diese Partei zu wenig. Gewiß, die AfD kritisiert die Einwanderung scharf, scheint sich aber in vielen Punkten noch sehr ungewiß zu sein. Sie bringt nun mal Konservative, Nationalisten, Reaktionäre und Liberale zusammen, die grundsätzlich in sehr unterschiedliche oder sogar in entgegengesetzte Richtungen denken. Kurzfristig denke ich, daß die AfD als Symptom betrachtet werden sollte – eine positive Tatsache, sicherlich, aber eben noch sehr unvollkommen, unfertig.
SEZESSION: Das gilt jedoch nicht für Frankreich mit seiner alteingesessenen Partei-Rechten.
ALAIN DE BENOIST: Nun, in Frankreich können dem Rassemblement National (dem FN-Nachfolger) weiterhin gewichtige Punkte gutgeschrieben werden. Der RN hat gute Chancen, bei den nächsten Europawahlen alle französischen Parteien zu übertrumpfen.Gleichzeitig entwickelt er sich jedoch nur durchschnittlich weiter: Weil es keine Alternative zu dem gibt, was es verkörpert.
SEZESSION: Daran änderten die Niederlagen von 2017 nichts, oder?
ALAIN DE BENOIST: Marine Le Pen zeigte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 tatsächlich eine schlechte Leistung. Es ist so: Die Leute kommen nicht wegen Marine Le Pen zum RN, sondern letztlich trotz ihr.
Und: Die außerparlamentarischen Bewegungen finden dort, bei der Partei, wenig Anklang, auch wenn an der Basis immer eine gewisse Durchlässigkeit des Publikums herrscht, besonders unter Jugendlichen. Das Interesse der außerparlamentarischen Bewegung besteht wiederum darin, weiterhin Bewegung zu sein – eben keine Partei, die als Konkurrent des RN auftreten würde.
Zwischen Parteien und außerparlamentarischen Kreisen besteht ein substantieller Unterschied, keineswegs nur ein gradueller.
SEZESSION: Wie geht es weiter? Mut zu einer Prognose?
ALAIN DE BENOIST: Na das ist sehr schwer zu sagen. Am kommenden Samstag wird ein neuerliches Großereignis in Paris erwartet, das noch gewalttätiger sein könnte als dasjenige in der letzten Woche, wo auch »Kämpfer« der extremen Linken in der Hauptstadt wüteten. Diese Exzesse wurden von der Regierung begünstigt, um die Bewegung insgesamt zu diskreditieren. Die Entschlossenheit der Gelben Westen scheint jedoch intakt zu bleiben. Mittlerweile gibt es vier Tote und 800 Verwundete sowie 200 Festnahmen bzw. Menschen in Polizeigewahrsam. Es ist gewissermaßen eine »voraufständische« Situation.
SEZESSION: Macron laviert, findet keine Gesprächspartner, steht nun vor dem Scherbenhaufen seiner volksfernen Politik. Steuern wir damit auf eine Krise des gesamten »Systems« zu?
ALAIN DE BENOIST: Es ist doch bereits eine Krise des Regimes. Die Regierung weiß nicht, was sie tun soll, um eine vielschichtige und selbstorganisierte Bewegung einzudämmen. Man hat keine Gesprächspartner, mit denen verhandelt werden kann. Die Parteien und Gewerkschaften haben nichts kommen gesehen und versuchen nun, die Bewegung sozusagen einzusammeln. Doch selbst Gymnasiasten (aber kaum Studenten!) begannen, sich den Gelben Westen anzuschließen.
Viele verlangen ein Referendum (das nicht stattfinden wird) oder fordern den Rücktritt von Macron (ebenfalls undenkbar). Eine Auflösung der Nationalversammlung wäre möglich, aber Wahlen würden die Formation von Macron voraussichtlich in die Minderheit bringen, was zu einem Zustand des »Zusammenlebens« (cohabitation) an der Spitze des Staates führen würde [d. h.: Präsident und Ministerpräsident würden nicht demselben politischen Milieu angehören; B. K.]. Eine andere Möglichkeit wäre ein Austausch des Premierministers (die Rückkehr von Bayrou?). Wir werden es sehen.
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+ Zum Phänomen »Populismus« hat das Institut für Staatspolitik eine kundige Studie vorgelegt. In ihr werden unterschiedlichste Theorien und Praxen des Populismus untersucht, vorgestellt und kritisch eingeordnet. Man kann die Studie hier bestellen.
+ Eine umfassende Auswahl an Literatur von und zu Alain de Benoist finden Sie hier.
+ Bei Antaios erscheint in kürze ein herausragender Essay de Benoists in der reihe kaplaken (hier vorbestellen!), während im Jungeuropa Verlag Anfang 2019 das neue Buch des französischen »spiritus rector« der Neuen Rechten vorgelegt wird.
Der_Juergen
Wie panisch die Kettenhunde des Systems auf die "Gelben Westen" reagieren, kann man u. a. einem Interview mit Gilbert Casasus, Dozent an der Universität Fribourg, Schweiz, entnehmen, das bei watson.com unter dem Titel "Die Franzosen wollen Revolution, verhalten sich aber dann konservativ" erschien. Casasus, "Politanalyst und Frankreich-Kenner", sagt u. a.:
"Viele Gelbwesten stammen aus einem bildungsschwachen Milieu und sehen sich als Verlierer der Globalisierung - das sorgt für grosse Frustration. Sie verharren dabei in einer Opferrolle. (…) Wenn man die Gelben Westen genauer historisch analysiert, ist es eher eine rechte bis rechtsextreme Bewegung. (…) Hoffentlich ist es nicht zu spät, um sich endlich von dieser meist rechtsextremen Gefahr abzuwenden."
Der Sprachgebrauch ("Globalisierungsverlierer, Opferrolle, rechtsextrem") entspricht jenen stereotypen Klischees, mit denen linke und liberale Ideologen alle für das System gefährlichen Bewegungen als Ansammlung primitiver Neandertaler zu diskreditieren versuchen. Dieser Trick funktioniert allerdings zusehends immer weniger.