Wo ist die Empörung unserer preisdemokratischen Presse, daß im Frankreich Macrons hunderte Demonstranten von der Polizei verprügelt und verletzt wurden? Wie würden die Schlagzeilen lauten, wenn sich Szenen wie diese nicht auf der Champs Élysées, sondern am Roten Platz abgespielt hätten? Wo ist der Jubel, mit dem der Euromaidan bedacht wurde, der rasch in einen blutigen Bürgerkrieg abgestürzt ist?
Kein Zweifel: Der hiesigen schreibenden Klasse ist der Aufstand der mit Straßenblockaden kämpfenden “Gelbwesten”, dem sich hundertausende Menschen in ganz Frankreich angeschlossen haben, nicht ganz geheuer. Denn offensichtlich revoltieren hier die falschen Leute aus den falschen Gründen, unter ihnen Linke ebenso wie Rechte, gegen den Retortenkandidaten des europäischen Establishments, Emmanuel Macron.
Direkter Anlaß der Proteste ist die ab 2019 gültige Erhöhung der Treibstoffsteuer für Diesel und Benzin, und dies, obwohl die Preise allein in diesem Jahr um 18% angestiegen sind. Vor allem die Dieselpreise sind damit enorm erhöht worden. Diese Maßnahme wurde unter anderem “ökologisch”, mit der Notwendigkeit einer “Energiewende” begründet. Man will die Autofahrer von den Dieselmotoren wegdrängen, was blöderweise 68 Prozent aller in Frankreich zugelassenen Privatautos betrifft.
Frankreichs Innenminister Christophe Castaner äußerte am 23. September:
Wir verwirklichen das ehrgeizige Projekt eines ökologischen und solidarischen Übergangs, um Frankreich zu einem Pionierland zu machen: schrittweiser Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, Schluß mit Glyphosat, Erhöhung der Kohlenstoffsteuer, Angleichung der Dieselbesteuerung.
Dieser Tweet war gefolgt von der Bemerkung:
Lassen Sie uns auf die Koalition populistischer, rückschrittlicher und demagogischer Kräfte mit einem offenen Bündnis all jener antworten, die an das Europa der Demokratie und des Rechts, der Freiheit und der Solidarität glauben. Wir werden nicht zulassen, daß sie 60 Jahre gemeinsamen Aufbaus zerschlagen.
Zu den “Gelbwesten” ist ihm bisher nur eingefallen, daß er ihren “Aufruf zu Haß und Gewalt” verurteilt.
Selbstverständlich war die Dieselsteuer nur der berüchtigte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Man konnte die soziale Explosion schon lange ahnen. Kaum zurückgekehrt von einer Karibikreise, auf der er buchstäblich mit ein paar halbnackten schwarzen Kriminellen geschmust hatte, belehrte Macron ein paar Seniorinnen, sich gefälligst nicht über Rentenkürzungen zu beschweren.
Die Welt berichtete:
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat erneut viele Bürger mit Äußerungen zu seiner Reformpolitik verprellt. Am Rande eines Besuchs am Grab von Ex-Staatschef Charles de Gaulle in dem Ort Colombey les Deux Églises sagte Macron zu einer Gruppe von Seniorinnen, sie dürften sich über Rentenkürzungen nicht beschweren. Jeder im Land müsse „sich anstrengen“.
Die Frauen beklagten sich bei dem Präsidenten über „schmerzhafte“ Einschnitte durch die Anhebung der Sozialsteuer durch seine Regierung und die damit verbundene Rentenkürzung. Macron wies die Frauen daraufhin zurecht: „Das Einzige, was man nicht machen darf, ist, sich zu beschweren.“
Das habe ihm der Enkel de Gaulles gesagt, und das sei auch das Motto des 1970 verstorbenen Generals gewesen. „Das Land wäre dann besser dran“, betonte Macron. Im Übrigen werde er darum kämpfen, dass die Renten auch für künftige Generationen sicher seien.
In den sozialen Netzwerken sorgte das Video von dem Gespräch für Empörung. „Der Prinz weiß, wie man zum Volk spricht“, spottete ein Nutzer. Kürzlich hatte Macron bereits mit seinem Rat an einen Arbeitslosen einen wahren Shitstorm erzeugt. Er sagte, dieser müsse „nur über die Straße gehen“, um einen Job zu finden.
Das ist “neoliberale” Arroganz, eingewickelt in eine heuchlerische patriotische Rhetorik. Anläßlich der Feiern zum Gedenken des Waffenstillstands von 1918, richtete Macron eine Spitze gegen den selbsterklärten “Nationalisten” Donald Trump:
Patriotismus ist das genaue Gegenteil von Nationalismus. Nationalismus ist ein Verrat am Patriotismus. Indem wir unsere eigenen Interessen voranstellen, ohne Rücksicht auf andere, löschen wir genau das aus, was einer Nation am wertvollsten ist, die Sache, die sie am Leben hält: ihre moralischen Werte.
Was er unter “moralischen Werten” versteht, hat Macron wohl gezeigt, als er sich im Juni des Jahres Élysée-Palast mit einer schwulen schwarzen Tanztruppe (man erkennt ein gewisses Muster) ablichten ließ wie ein spätrömischer Kaiser.
Kombiniert mit den Bildern von den Pariser Straßenschlachten vom letzten Wochenende, die an ganz andere revolutionäre Zeiten Frankreichs erinnern, kann man ihn sich gut vorstellen, wie er dem unbotmäßig aufmüpfigen Volk zuruft: “Ihr habt kein Geld für Benzin? Dann fahrt doch mit dem Taxi!”
Man sieht bereits mit dem bloßen Auge, daß diesmal eine ganz andere Bevölkerungsgruppe auf den Straßen ist, als jene Klientel, die ansonsten die Banlieues von Paris in Stücke zerlegt. In einer Fernsehrunde formulierte Jean Messiha, ein Politiker des Front National (nun umbenannt im Rassemblement National) mit koptischem Migrationshintergrund:
Als ich auf den Sammelplätzen der Gelben Westen in den verschiedenen Banlieues war, konnte ich keinerlei ‘Diversity’ sehen. Weder eine soziale – alle sind Mittelschichtler -, noch eine rassische. Fast 100% der Leute waren weiß.
Das dies zutrifft, zeigen die Videoaufnahmen der Proteste (ein zweieinhalbstündiger Stream etwa hier). Das ist in einem zumindest in den Metropolen stark “umgevolkten” Land wie Frankreich auffällig und bemerkenswert.
Ebenso wie Messiha sieht es Jean-Yves Gallou (ebenfalls Rassemblement National):
Die Gelbwesten? Lassen Sie mich Klartext reden: Das ist das weiße Frankreich, das sind hauptsächlich Franzosen europäischer Herkunft, die an der Peripherie der Städte leben, die von Stadtzentren vertrieben wurden, weil sie zu teuer geworden sind; und von den nahegelegenen Vorstädten, weil sie sich in Einwandererviertel verwandelt haben. Also brauchen die Gelbwesten ihr Auto, um zur Arbeit zu fahren, um Einkäufe zu machen, um ihre Kinder in die Schule zu bringen. Und sie leiden unter den Preiserhöhungen für Treibstoff, beschlossen von einer Regierung, die sich mit der Klientel der Stadtzentren identifiziert, wo Macron bei der letzten Präsidentschaftswahl mit nordkorea-artigen Wahlergebnissen von bis zu 90% abschnitt.
Ähnlich beschrieb es der linkspopulistische, antiliberale Philosoph Jean-Claude Michéa:
Was die Argumente der “Ökologen” angeht – derjenigen, die eine “Energiewende” vorbereiten, die vor allem die Verschmutzung des Westens in die Länder des Südens verlagern wird -, daß diese spontane Bewegung nur von “einer Ideologie der Karre” und von „Kerlen, die Kippen rauchen und mit Diesel fahren” getragen werde, so sind sie ebenso absurd wie widerwärtig:
In Wahrheit sollte klar sein, daß die meisten Gelben Westen nicht den geringsten Spaß daran haben, ihr Auto jeden Tag zum 50 km entfernten Arbeitsplatz fahren zu müssen oder auf das einzige Einkaufszentrum ihrer Gegend angewiesen zu sein, das normalerweise 20 km entfernt in der freien Natur steht; ganz zu schweigen von dem einzigen Arzt, der noch nicht im Ruhestand ist und dessen Büro 10 km von ihrem Wohnort entfernt ist.
(All diese Beispiele sind meiner Erfahrung im Département Landes entnommen! Ich habe sogar einen Nachbarn, der von 600 € im Monat lebt und den Tag des Monats berechnen muß, an dem er noch genug Diesel – diese Essenz der Armen – hat, um ohne Panne nach Mont-de-Marsan einkaufen fahren zu können!)
Wetten, daß sie die Ersten sind, die verstanden haben, daß das eigentliche Problem die seit 40 Jahren andauernde systematische Umsetzung des liberalen Programms durch die aufeinanderfolgenden Regierungen von links und rechts ist, die ihr Dorf oder ihren Bezirk schrittweise in eine medizinische Wüste ohne die geringste Grundversorgung verwandelt hat, während das einzige Unternehmen, das immer noch in der Lage ist, ihnen einen unsicheren, schlecht bezahlten Job anzubieten, nun mehrere Dutzend Kilometer entfernt ist (wenn es “Vorortpläne” gibt – was gut wäre -, dann offensichtlich nicht für diese Dörfer und Gemeinden, in denen die Mehrheit der französischen Bevölkerung lebt und die offiziell dazu auserkoren wurden, sich für den “Sinn der Geschichte” und die “europäische Integration” auslöschen zu lassen!).
Es ist offensichtlich nicht das Auto als solches – als “Zeichen” ihrer angeblichen Integration in die Welt des Konsums (sie sind ja keine Lyoner oder Pariser!) -, das die Gelbwesten heute verteidigen. Es ist einfach so, daß ihr gebrauchter Dieselwagen (den ihnen die EU-Kommission abknöpfen will, weil er nicht mehr ihren ständig revidierten Normen zur “Überwachung der Verkehrstüchtigkeit” entspricht) ihre ultimative Überlebenschance bedeutet, also ein Dach über dem Kopf, einen Job und etwas, womit sie sich selbst und ihre Familien ernähren können, innerhalb des kapitalistischen Systems, wie es sich entwickelt hat, und wie es die Gewinner der Globalisierung begünstigt.
Gallou nennt als Kronzeugen den Geographen Christophe Guilluy, einen einflußreichen akademischen Außenseiter, der den Begriff des “peripheren Frankreich” geprägt hat, der zum vielzitierten Schlagwort in den politischen Debatten Frankreichs geworden ist.
Guilluy konstatiert eine wachsende Kluft zwischen dem urbanen Frankreich der Ballungsgebiete und dem abseits gelegenen “peripheren” Frankreich, die zu einem regelrechten Klassenkampf eskaliert sei. Das “periphere Frankreich” umfaßt etwa 60% der Bevölkerung, die in kleinen und mittelgroßen Städten lebt, überwiegend “stammfranzösisch” (also “weiß”) ist, und der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht entstammt (man spricht von den “classes populaires”, ein Begriff, in dem das “Volk” und der “Populismus” schon drinnenstecken).
Abgeschnitten vom urbanen, globalen Arbeits- und Investitionsmarkt ist diese Schicht ein ökonomischer “Verlierer” der Globalisierung. Laut Guilluy – ich entnehme das Folgende einem Interview in élements 165/2017 – befinden sich viele Bewohner des “periphären Frankreich” in einer viel prekäreren Lage als die Bewohner der von Einwanderern dominierten Banlieues, die näher an den ökonomischen Zentren leben. Die “Peripheren” sind diejenige Schicht, die am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen ist.
Jean-Claude Michéa
Sie fühlen sich von den etablierten Parteien nicht mehr repräsentiert, ja vergessen, negiert, alleingelassen, sogar verachtet und ausgebeutet. Die glitzernden globalistisch-welthumanitären “Werte” Macrons mitsamt Homosexuellenkult und Lobpreis der “Diversity” sind für sie nichtssagende, klassenspezifische Accessoires.
In einem anderen Interview aus dem Jahr 2014, noch zu Zeiten Hollandes, äußerte Guilluy:
Das Problem ist: Wie redet die Linke mit der Arbeiterklasse? Wenn ich mit Menschen im peripheren Frankreich über ihre Probleme spreche, dann sprechen sie über Beschäftigungsprobleme, Europa, Brüssel, Globalisierung, Einwanderung. Aber die Torhüter der Linken wollen nicht über Einwanderung reden…Wenn sie keine Möglichkeit finden, darüber zu sprechen, wird die Sozialistische Partei implodieren, wahrscheinlich an der Basis beginnend. Sie müssen sich beeilen, denn schon bezeichnet sich der Front National als Frankreichs Partei Nummer 1.
Wie man auch in Didier Eribons Rückkehr nach Reims nachlesen kann, ist dies in der Tat ein Grund, warum der Front National gerade in traditionellen Arbeitervierteln erheblichen Erfolg hat. In dieser sozialen Frage liegt ein wichtiger Schlüssel, um den Aufstieg des Populismus zu verstehen (Dazu siehe auch die Ausführungen von Benedikt Kaiser hier, hier und hier).
Die “Peripheren” sind mit den “Deplorables” des “Flyover America” vergleichbar, denen Donald Trump seinen Wahlsieg und seine Anhängerbasis verdankt. Und ein systematischer Vergleich würde wohl ähnliche Muster in “Dunkeldeutschland”, besonders im gefürchteten Sachsen, ausfindig machen.
Als “Sieger” der Globalisierung identifiziert Guilluy vor allem die neue Klasse der “Bobos”, der “Bohème-Bourgeois”, die der oberen Mittelschicht entstammen und seit den 80er Jahren die Gentrifizierung der “quartiers populaires” vorangetrieben hätten. Die “Bobos” bilden eine neue Bourgeoisie, vernetzt mit der Weltwirtschaft, bodenunabhängig, tätig im Dienstleistungssektor, in intellektuellen Berufen und auf qualifizierten Arbeitsplätzen.
Von der alten Bourgeoisie unterscheidet sie, daß sie weder deren ökonomisches Kapital noch deren Vermögenswerte besitzt. Sie ist generell linksgerichtet und tritt nicht als herrschende Klasse auf. Das ist allerdings mehr oder weniger ein Trick, eine Selbst- und Fremdtäuschung, um ihre soziale Herrschaft zu festigen. In der Tat gehört es zum Inventar und Selbstbild der Bobos, sich selbst als große linke Widerständler, ja als Opfer des Systems der “1%” und der Kapitalkonzentration zu sehen. Damit tun sie letztlich so, als gäbe es keinen sozialen Klassenunterschied zwischen einem Einwanderer und einem Universitätsprofessor.
Nur gelegentlich sind die Vertreter dieser Klasse so ehrlich wie Michael Seemann in jenem Artikel, den Alexander Gauland zum Leidwesen des Verfassers offenbar sehr aufmerksam gelesen hat:
Die globale Klasse hat zwar sehr reiche Individuen hervorgebracht, vor allem im Silicon Valley, aber interessanter Weise nutzen sie diesen Reichtum vor allem wieder, um es in diskursives Kapital zurückzuverwandeln; in andere StartUps oder in ambitionierte Weltrettungsprogramme. Denn insgeheim weiß sie längst, was die eigentliche Quelle ihrer Macht ist: Sie kontrolliert den Diskurs, sie kontrolliert die Moral.
Diese “neue Bourgeoisie” orientiere sich, so Guilluy weiter, nach den großen Chefs von Silicon Valley, leger, ohne Krawatte, mit “coolem” Habitus. Dabei hat diese Klasse eine Menge neuer kultureller Codes und Statussymbole entwickelt. Man stelle sich Zolas Rougon-Macquart-Familie in der Maske von Hipstern vor, die das Modell der “offenen Gesellschaft” propagieren (bei uns würde man wohl “Weltoffenheit” sagen).
Guilluy:
Das ist ein unangreifbarer Diskurs. Was hat man wohlwollenden Menschen entgegenzusetzen, die predigen, man solle sich “dem Anderen öffnen”? Die Offenheit für den Anderen ist zugleich Ausweis ihrer moralischen Überlegenheit und ein äußeres Zeichen für Wohlstand. Dieses grundsätzliche “Wohlwollen” und diese falsche Offenheit verbieten es im vornherein, sich innerhalb eines Klassenkonflikts zu verorten. Schlimmer noch: Die Klassenbeziehungen verwandeln sich auf der Stelle in kulturelle Beziehungen. Der Arbeiter verschwindet; was bleibt, ist das Sichtbare: die sichtbaren Minderheiten und die Ethnisierung des Sozialen.
Wenn es nun den Bobos lange Zeit gelungen ist, ihre Klassenstellung zu verleugnen und zu verbergen, so wurde sie dank ihrer unverhohlenen und aggressiven Verachtung für die Anhänger Trumps, des Brexit oder des Front National umso deutlicher sichtbar. Dieselben Leute, die ständig den Slogan des “Vivre ensemble” (“zusammen leben”, vergleichbar der hiesigen “Vielfalt” und “Buntheit”) im Mund führen, haben im Laufe der Jahre Graben um Graben errichtet, Frontlinie um Frontlinie gezogen.
Indem sie die Wähler des Front National verteufelt haben, sind sie auch der Diagnose ausgewichen, warum diese den Populismus gewählt haben. Und dadurch konnten sie die Augen vor der “neofeudalen Logik” der großen Metropolen verschließen: Das Gesetz des Marktes, gespiegelt im Preis der Immobilien. So sei die “offene Gesellschaft” immer mehr zur einer geschlossenen geworden, wobei sie im Grunde nie etwas anderes gewesen sei als ein Synonym für das Gesetz des Marktes.
Die Einwanderung erlaube es dem Bobo, die soziale Frage durch eine kulturelle zu ersetzen. Für den Pariser Bobo ist der “kleine Weiße” schwer zu verstehen, weil er ihm in einer Klassenbeziehung gegenübertritt. Er kann ihn als “Rassisten” brandmarken, um den sozialen Vorwurf nicht sehen zu müssen, mit dem ihn dieser konfrontiert.
Guilluy betont, daß nicht nur die Gentrifizierung, sondern auch die Immigration zu den Profiteuren der Globalisierung gehört. Dies ist der Block der restlichen 30–40%. Die Bobos, die integrierten oberen Mittelschichten der Metropolen bedürfen der Migranten, um ihren Lebensstil aufrecht zu erhalten. Die Löhne dieser Subalternen seien lächerlich, vom afrikanischen Kindermädchen bis zum malischen Koch.
Guilluy ist außerdem der Ansicht, daß die demographische Entwicklung nicht nur die “kleinen Weißen” kulturell verunsichert. Niemand hat Lust, zur Minderheit zu werden, denn jede Minderheit weiß, daß sie vom Wohlwollen der Mehrheit abhängig ist. So gebe es auch soetwas wie einen “Maghreb Flight” (meine Formulierung), eine Flucht der Maghrebiner aus Stadtvierteln, in denen Schwarzafrikaner die Mehrheit werden.
Ähnlich wie Renaud Camus spricht Guilluy von einem “Krieg der Augen”. Der Bobo verschließt ohne große Komplexe die Augen, weil ihm genügend symbolische Kompensationen zur Verfügung stehen – “Multikulturalismus für zehntausend Euro im Monat ist nicht dasselbe wie für tausend.” Einem jungen Mann aus unteren Schichten fehlt diese Kompensation. Er ist “zum Objekt des größten sozialen Planes der Geschichte” geworden (nichts anderes als das “historisch einzigartige Experiment” Yascha Mounks).
Guilluy erinnert an einen weiteren wichtigen Punkt:
Die soziale Mobilität ist die Mobilität der großen Metropolen, die obere Mobilität der Führungskräfte, die untere Mobilität der Migranten. Dem stehen 53% der Franzosen gegenüber, die in den Landesteilen leben, in denen sie geboren sind. In den “populären” Klassen des peripheren Frankreichs sind es sogar über 60%. Prekarisierung und Seßhaftmachung. Ebenso wie es de facto eine Multikulturalisierung gibt, gibt es parallel eine de facto Wiedereinwurzelung. Daher wird die identitäre Frage fundamental.
Ich fahre mit Jean-Yves Gallou fort:
Zu Beginn wollte niemand diese Entwicklung, diese Marginalisierung der sogenannten “Franzosen des Stammes” (Français dits de souche) in ihrem eigenen Land sehen. Sie war nicht konform mit der politischen Korrektheit. Und plötzlich wurde sie zum Beispiel in Saint-Denis deutlich sichtbar, wo der Front National vor dreißig Jahren seine größten Siege einfuhr. Heute hat diese Bevölkerung Saint-Denis verlassen. Es war einer der Bezirke, wo es die wenigsten Blockaden gab.
Trotz etlicher Trikolore-Fahnen, die auf den Protesten geschwenkt wurden, haben diese bislang nur in Ansätzen eine nationale Färbung angenommen. Wie Gallou und Guilluy andeuten, spielt das Problem des “Großen Austauschs” jedoch auch hier eine implizite Rolle.
Der für diesen Blickwinkel zuständige Renaud Camus bemerkte auf Twitter:
Worüber geben sich die Gelbwesten Rechenschaft? Daß nicht mehr sie das Volk sind. Für die Regierung ist das Volk der Andere, der Neue. Die Regierung betrachtet sie als Relikte, die – es muß gesagt werden – bis zum Tod die Kosten ihres eigenen Austausches bezahlen sollen.
Gelbe Westen, ihr revoltiert gegen den exorbitanten Preis, den ihr für euren eigenen Genozid, den Großen Austausch, bezahlen sollt; Wäre es nicht logischer, ihr würdet gegen diesen Genozid, die ethnische Substitution, die Zerstörung des natürlichen Volkes revoltieren?
Das ist allerdings eine tiefere Problemschicht, für die ingesamt wohl noch wenig Bewußtsein vorhanden ist. Am dringlichsten sind für Gelbwesten immer noch ihre konkreten Lebensumstände.
Zum Abschluß: Wie zu erwarten, betrachtet auch Alain de Benoist, der Guilluy und Michéa geistig sehr nahe steht, die Revolte der Gelbwesten als positive, notwendige Entwicklung.
Das “periphere Frankreich”, das heute ohne Zweifel das am meisten französische Frankreich ist, das man jedoch sich selbst überlassen hat, der Arbeitslosigkeit, den sinkenden Löhnen, der Prekarisierung, der Entortung, der Einwanderung, hat nach Jahren der Geduld und der Leiden endlich gesagt: “Es reicht!” Das ist die Bewegung der Gelbwesten. Ehre sei ihr, Ehre sei ihnen!
Dabei nennt er zwei Dinge besonders frappierend – da wäre erstens der spontane Charakter der Bewegung:
Die Gelbwesten sind ein gelungenes Beispiel der Selbstorganisation des Volkes. Keine großen und kleinen Chefs, keine Cäsaren und Tribunen, sondern allein das Volk. Das ist Populismus in seiner reinsten Form. Nicht der Populismus der Parteien und der Bewegungen, die diesen Titel für sich beanspruchen, sondern, was Vincent Coussedière den “Populismus des Volkes” (populisme du peuple) genannt hat.
Da wäre zweitens:
… der unglaubliche Haß, der den Gelbwesten von Vertretern der herrschenden Ideologie entgegenschlägt, die traurige Allianz zwischen dem Kleinadel der Macht, den lächerlichen Präziösen und den Finanzmärkten. “Dumpfbacken”, “Primitivlinge”, “alte Knacker”, sind die Wörter, die am häufigsten fielen (von “Braunhemden” ganz zu schweigen!).
Benoist sieht in der Bewegung einen übergreifenden Impuls am Werk:
Auch wenn die Arbeiterklasse und die untere Mittelschicht treibender Motor waren – was der Bewegung einen außergewöhnlichen Klassencharakter gibt -, so kamen die Gelbwesten doch aus verschiedenen Milieus, vereinten Junge und Alte, Bauern und Unternehmensleiter, Angestellte, Arbeiter und Führungskräfte. Frauen ebenso wie Männer (ich denke an die pensionierten Siebzigjährigen, die trotz der Kälte nicht zögerten, in ihren Autos zu schlafen, damit die Straßensperren Tag und Nacht aufrechterhalten werden können). Menschen, denen weder die Rechte noch die Linke irgendetwas bedeutet, und die sich zum Großteil noch nie politisch betätigt haben, die aber wegen einer fundamentalen Sache kämpfen, die sie alle gemein haben: Das Gefühl, von der medialen Kaste wie Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden, die man besteuern und ausbeuten kann wie es der räuberischen Oligarchie der Reichen und Mächtigen gefällt, die man niemals befragt, aber immer täuscht.
Die Proteste seien allerdings (hoffentlich) erst der Anfang:
Mit den Gelbwesten befindet sich Frankreich bereits auf dem Weg zum Umsturz. Wenn sie sich noch mehr radikalisieren, umso besser. Wenn nicht, wird die Warnung deutlich gewesen sein. Sie wird einen Wiederholungswert haben. Auch in Italien ist die Fünf-Sterne-Bewegung aus einem “Tag des Zorns” entstanden, und heute ist sie an der Macht. Bei uns wird die definitive Explosion in weniger als zehn Jahren stattfinden.
quarz
Habe gerade getagträumt, wie Georg Restle bei der ARD als Kommentator von Lichtmesz abgelöst wird.