»Enteignungen«, da ist
Wagenknecht (…) in ihrem Element. Sie verhaspelt sich nie, spricht sachlich und pointiert über den nicht funktionierenden Mietmarkt, die Angst vieler Menschen, wegen der hohen Mieten ihr Zuhause zu verlieren. Es brauche eine radikale Mietpreisbremse für zehn Jahre, den Rückkauf von Wohnungen. Außerdem müssten Miethaie wie Deutsche Wohnen natürlich enteignet werden. Häufig wird sie von Applaus unterbrochen.
Nun könnte man klischee-»konservativ« einwenden, daß hier eine unverbesserliche Kommunistin zurück zu ihren entsprechenden Wurzeln gefunden habe und lediglich Erwartungshaltungen ihrer fest umrissenen und auf wenige Prozentpunkte der Deutschen beschränkte Klientel bediene.
Doch weit gefehlt: Die stets kapitalfreundliche und des Sozialismus unverdächtige Bild in Gestalt ihrer Sonntagsausgabe befragte via Umfrageinstitut Emnid Deutsche nach ihrer Haltung zu folgender Frage:
Sollten große Immobilienunternehmen in Ballungsräumen enteignet werden, um weitere Mietsteigerungen zu verhindern?
Die Antwort fällt bemerkenswert aus: 46 Prozent der Bundesbürger sprechen sich für eine Enteignung aus, 40 dagegen. In Ostdeutschland sind 64 Prozent für Enteignungen, 36 dagegen, im Westen 42 Prozent dafür, 41 dagegen.
Was auffällt ist also, daß die am vergangenen Wochenende durchgeführten Demonstrationen »gegen Mietenwahnsinn« und für neue Wege der Enteignungspolitik in Berlin und andernorts mit insgesamt bis zu 20 000 Menschen keine Randmeinungen linker Nischen verkörperten. Sie treffen vielmehr einen Nerv der Deutschen.
Das ist kein »Linksrutsch« der Gesellschaft, wie linke Aktivisten bei Twitter jubelten, und ebenso wenig ist es die manifestierte Sehnsucht vieler Deutschen nach einem Comeback von »finstersten DDR-Verhältnissen«, wie liberalkonservative Blogger ebendort lamentierten; ganz zu schweigen von abstrusen Behauptungen, mittels der Forderung nach gerechter Wohnpolitik und nach Enteignungen rein profitorientierter Großkonzerne würde sich der »Bolschewismus« neu formieren, der das mühsam ersparte Haus zu rauben droht.
Letztgenannte Selbstidentifikation vieler Rechter aus der Mittelschicht mit dem, was, etwas antiquiert, als »Großkapital« zu bezeichnen ist, zählt zu den Klassikern konservativer Mißverständnisse. Man verteidigt a priori etwas, von dem man sich einbildet, dazuzugehören oder dazuzugehören zu können, und man fürchtet sich vor Maßnahmen, die einen gar nicht beträfen, weil man schlechterdings nicht ansatzweise dazugehört – ein Schema, das uns im Bereich sozialer Fragen immer wieder begegnet.
Der Streit um konstruktive Wohnpolitik berührt aber offensichtlich weite Teile des Volkes, unabhängig von ihrer eventuellen politischen Einstellung. Die Gefühlspartei der Grünen um ihren Guru Habeck können wir an dieser Stelle ausklammern. Daß Habeck im opportunistischen Zick-Zack-Kurs mal Enteignungen goutiert, mal deklariert, der Markt solle es regeln, darf dabei nicht überraschen: Entsprechende Sprungbewegungen gehört zum Wesenskern einer Partei, die zwischen linken Standpunkten und wohlstandsbürgerlicher Klientel oszillieren muß.
Neben Wagenknecht und Habeck äußert sich auch der Bundesinnen- und ‑bauminister. Horst Seehofer (CSU) sieht nämlich in Fragen der Wohnpolitik die »soziale Frage unserer Zeit« auftreten. Ob es tatsächlich die soziale Frage unserer Zeit ist, wird sich zeigen, zumal andere Felder – Rentenpolitik, demographischer Wandel oder der Streit um ein Grundeinkommen – konkurrieren dürften. Daß die Wohnungsnot samt Profitstreben großer Konzerne eine soziale Frage ist, dürfte jedoch unbestritten sein.
Sicherheit – innere wie soziale – ist ein Gut, für das der Staat konstant sorgen muß, wenn er seine Legitimität bewahren will. Es geht im aktuellen Meinungsstreit daher diesmal nicht um Abstraktes, das konkret werden kann. Es betrifft vielmehr die Lebensqualität vieler Deutschen und ganz zentral die Sicherheit im Lebensvollzug, Sicherheit in der Familienplanung, Sicherheit im Alltag.
Weil es »uns« um innere wie soziale Sicherheit sowie um das konsequente Primat der Politik vor der Wirtschaft zu gehen hat, und nicht um die Interessen bestimmter Kapitalgruppen wie transnational agierender Immobilienkonzerne, ist die Beschäftigung mit diesem Thema unumgänglich.
Weil das Terrain ein vermintes ist und eigens für Konservative präparierte Fallstricke warten, muß zunächst unterstrichen werden, worum es nicht geht.
- Es geht bei der aktuellen Diskussion nicht um das Land und kleinere Städte, sondern zuallererst um Ballungsräume.
- Es geht in der Enteignungsdebatte nicht um den Hausbesitzer, der eine Einliegerwohnung vermietet.
- Es geht nicht um die regionale Baufirma, die Wohnprojekte realisiert.
- Es geht nicht um den innovativen Macher, der aus altem Bestand neue Ideen entwickelt und umsetzt.
- Es geht nicht um den Unternehmer, der Risiko eingeht, um ein Vorhaben umzusetzen, an dem er dann verdienen wird. Der Unternehmer ist mit Schumpeter gedacht der, der in seinem Unternehmen arbeitet und dieses womöglich selbst gegründet hatte. Er ist mit Ideen und Know-how, mit seiner ganzen Erscheinung, Zentrum des Unternehmens, für das er persönlich Verantwortung trägt und zu dem er einen ganz persönlichen Bezug hat.
- Es geht nicht um die parteitaktische Banalität, daß man Enteignungen gewiß nicht jenen rot-roten Dilettanten überlassen möchte, die sich bei jedem größeren Projekt (der BER-Flughafen ist nur die Spitze des Eisberges) als unfähig erwiesen haben und die deutsche Hauptstadt – jenseits des Bezirkes Mitte und einiger Refugien – allmählich zum Notstandsgebiet-in-spe verwandeln. Wenn ein rot-roter Senat außerdem über die Verteilung von Wohneigentum entscheiden dürfte, müßte man mit unappetitlichen, ideologisch motivierten Maßnahmen rechnen (Wer weist wem etwas zu? Wer wird aus welchen Gründen benachteiligt? Welches Parteibuch bürgt für gute Wohnlagen, welche Gesinnung verschafft besondere Extras?)
Nun hat man also vor Augen, worum es nicht geht.
- Worum es geht sind Großkonzerne, die bspw. in Berlin Hunderttausende Wohnungen besitzen (alleine “Deutsche Wohnen” verfügt über 112 000 Stück!) und wesentlich mitverantwortlich für eine Preisexplosion auf dem Wohnmarkt jener Hauptstadt sind, in der 85 Prozent der Menschen nach wie vor zu Miete wohnen. Durch die regelmäßigen und drastischen Erhöhungen wird kein Quadratmeter lebenswerter, aber Besitzer und Aktionäre steigern ihren Ertrag (teils gar über künstliche Wohnraumverknappung u. ä.). Kleinere Vermietergruppen oder Einzelpersonen haben keinerlei Chance, gegen die Übermacht zu bestehen.
- Worum es geht sind Zahlen wie – exemplarisch – diejenigen aus Hamburg, wo sich 70 Prozent der Einwohner »große« oder »sehr große« Sorgen machen, sie könnten sich das Leben in der Stadt nicht mehr länger leisten, die also durch Fakten genährte Angst vor Wohnungsverlust und Verdrängung aus ihrem Heimatgebiet aufgrund immer weiter steigender Mieten haben. Daß diese Sorge in Hamburg und anderswo berechtigt ist, belegen mittlerweile notwendige ÖPNV-Pendelstrecken von bis zu 1,5 Stunden von der Wohnung bis zum Arbeitsort in den Citys. Es leidet nicht nur Gesundheit, Lebensqualität und Freizeit, sondern vor allem das mögliche Familienleben.
- Worum es geht ist die Tatsache, daß die Wohnraumversorgung trotz gewisser vernünftiger staatlicher Maßnahmen (Baukindergeld, Wohngeld) in Deutschland überwiegend dem Markt überlassen wurde, der sich jedoch nicht selbst regulierte, sondern ein restriktives Profitstreben einiger großer Player zulasten unterer und mittlerer Schichten – der Bevölkerungsmehrheit – begünstigte.
- Worum es geht ist die Umkehr einer neoliberalen Wohnungspolitik, die, wie Sebastian Schipper darlegte, seit Mitte der 1980er Jahre forciert wurde, und zwar mit den zentralen Wegmarken schleichender Rückzug aus dem öffentlichen Wohnungsbau, Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit, partielle Deregulierung des Mietrechts, massive Privatisierung und Finanzialisierung von öffentlichen Wohnungsbeständen sowie ferner die Fokussierung großstädtischer Wohnungspolitik auf die Bedürfnisse einkommensstarker Haushalte (und teils internationaler Jet-Setter mit Tendenz zur Zweit‑, Dritt- oder Viertwohnung in In-Vierteln angesagter Metropolen).
- Worum es geht ist zu verstehen und entsprechend in Politikansätze zu integrieren, daß die Akzeptanz der Mehrheit für die heute wirkmächtig werdenden Resultate vergangener Privatisierungsoffensiven geschwunden ist und weiter schwindet: Wohnpolitik in Ballungszentren ist zu dekommodifizieren, d. h.: aus der reinen Verwertungslogik zu lösen und wieder als Gut zu begreifen, das den Bürgern gesichert und geschützt vor dem ausufernden Profitstreben großer Spieler erscheinen kann. Der Staat hat die Grundversorgung der Bürger sicherzustellen, nicht extraordinäre Profite kleiner Kreise, die sich auf liberale Freiheiten berufen.
- Worum es geht ist eine unaufgeregte Debatte über Wege zu einer ausgeglichenen und sozialen Wohnpolitik für die Mehrheit der Bürger, wobei es zu vermeiden ist, alles, was aus konservativer Sicht unkonventionell oder neuartig daherkommt, reflexartig als »sozialistisch« oder »marxistisch« zu begreifen. Die Schweiz etwa macht es ausländischen Akteuren de facto unmöglich, ohne weiteres Immobilien als Anlageoption zu erwerben – macht sie das etwa im Auge der »Das-ist-doch-Marxismus!«-Claqueure zum sozialistischen Failed State, zum Alpen-Venezuela?
- Worum es schließlich geht sind Zahlen und die dahinter liegenden bzw. die darauf folgenden Schicksale: Fast neun Millionen Menschen in deutschen Großstädten müssen bereits jetzt über 30 Prozent ihres persönlichen Haushaltsnettoeinkommens für die Miete berappen (diese 30 Prozent sind der berechnete Höchstwert, den man ausgeben sollte, wenn das materiell gerade noch vernünftige Leben nicht unmöglich werden soll).
- Worum es geht sind Wege aus der Krise, und zwar in Richtung einer an den Bedürfnissen des Volkes orientierten Wohnpolitik. Diese hat – wie auch Bahn, Post oder Grundversorgung (Wasser, Strom, Gas usf.) – gerade in Ballungsräumen nicht dem Primat einer privatwirtschaftlichen Rentabilität zu folgen, sondern zuallererst der Bedarfsdeckung. Es sollte für den handelnden Staat schlechterdings keine Rolle spielen, ob, beispielsweise, ein Wohnkomplex im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus für junge bedürftige Familien Rendite abwirft oder nicht. Was zählt, ist die Notwendigkeit, daß dieser Wohnkomplex dort gebaut wird, wo er fehlte. (Analog bei der Bahn: Was zählt, ist die Notwendigkeit, daß der Staat es seinen Bürgern auch in der abgelegensten Kommune ermöglicht, in vertretbaren Zeitabständen von A nach B zu gelangen; ob die Bahnstrecke, rein monetär gedacht, »defizitär« ist, bleibt irrelevant.) Gelder für den Haushalt sind an anderer Stelle einzubringen.
- Worum es im weiteren geht sind Optionen für die Überführung etwa spekulativ genutzter Wohnobjekte in neue Besitzformen (Baugenossenschaften, verpflichtendes Eigentum etc.). Die derzeitigen Besitzer – Großkonzerne – wären im Falle eines Entscheids zugunsten einer »Enteignung« zum Wohle der Gesamtheit entsprechend von dieser zu entschädigen, heißt: keine bedingungslose Enteignung im Sinne anarchistischer Übergriffigkeit, sondern juristisch geregelter, angemessener Ausgleich, ohne daß dieser in jener Preissphäre zu erfolgen hätte, die durch artifizielle Preisgestaltung der großen Player geschaffen wurde. Eine umstandslose Enteignung wäre indessen Unrecht, schon allein deshalb, weil der Kauf von Abertausenden Wohnungen (aus häufig öffentlicher Hand) legal erfolgte. Heute aktive Generationen – wir – dürfen und sollten Fehler vorangegangener Politik revidieren, aber die Begünstigten ebenjener Fehler der Altvorderen aus den 1990er und 2000er Jahren müssen bei der Revision des falschen Vergangenen rekompensiert werden.
- Worum es geht ist einmal mehr ein kritischer wie wachsamer Blick nach links: Auch im Falle der Wohnungspolitik als sozialer Frage hat die vereinigte Linke (ob grün oder rot ummantelt) einen gewaltigen blinden Fleck: die Migration. Denn die heutige Wohnungsnot liegt auch (aber nicht nur) daran, daß man in den 2000er Jahren kaum neuen Raum für den Durchschnitt des Volkes erschloß: eine alternde und schrumpfende Gesellschaft, so die Denkweise, benötige keinen offensiven Wohnungsneubau. Tatsächlich sind aber insbesondere die Großstädte mit einer gewaltigen Nettozuwanderung vor allem aus dem Ausland konfrontiert – naturgemäß ist diese migrationspolitische Verschärfung der Wohnraumproblematik ein Umstand, der bei den linksgepolten Demos gegen den Mietenwahnsinn vollkommen unbeleuchtet blieb.
- Worum es geht ist darauf hinzuweisen sowie auf das ebenso verwerfliche Geschäft, das große Konzerne im Rahmen der 2015 geborenen Flüchtlingsindustrie betrieben: Städtische Wohnungen in teils zentraler Lage wurden für Refugees renoviert; der Staat entlohnte die geschäftstüchtigen Unternehmer üppig. Kaum abgefragt wurde hingegen, wieso das verwendete Kapital nicht vorher für den selben Zweck für klamme Einheimische zur Verfügung gestellt werden konnte. De facto haben sich auch hier windige Investoren auf Kosten der Steuerzahler Profit erwirtschaftet – was freilich links ignoriert wurde und wird.
Gewiß: Es wird schwierig für die politische Rechte und vor allem für die AfD, die in ihrer DNA aus der Lucke-Zeit angelegte Sehnsucht nach der Akzeptanz durch das Großkapital zu überwinden und all diese hier nur skizzierten Aspekte aufzuarbeiten und in eine umfassendere Wohnraumpolitik einfließen zu lassen.
Und ebenso schwierig wird es übergeordnet, entsprechenden Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt Einhalt zu gebieten, weil kein handelnder Politiker es sich verscherzen will mit den großen Playern, die Investments und Glamour ebenso versprechen wie Einfluß und Machtverschränkungen.
Der Ökonom Luigi Zingales (Chicago) hat diese Situation als Medici vicious circle beschrieben: Geld schaffe politische Macht, die dazu benutzt werde, noch mehr Geld zu horten, das wiederum zusätzliche politische Macht erzeuge. So entstehe die »Interessenskonformität der Konzerne mit der Politik« (Thilo Bode).
Die AfD und ihre Vertreter täten hingegen gut daran, ihre Interessenskonformität mit der deutschen Mehrheit unter Beweis zu stellen – und nicht ihr folgenloses Appeasement mit den Happy few der Gewinnmaximierung.
Der_Juergen
"Die AfD und ihre Vertreter täten hingegen gut daran, ihre Interessenskonformität mit der deutschen Mehrheit unter Beweis zu stellen – und nicht ihr folgenloses Appeasement mit den Happy fews der Gewinnmaximierung."
Wahre Worte. Manche Kolumnisten beharren darauf, dass beide AFD-Flügel gebraucht würden, der liberale, verkörpert durch Leute wie Meuthen und Weidel, und der sozialpatriotische, repräsentiert durch Menschen wie Höcke. Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wozu eine Oppositionspartei, die diesen Namen verdient, einen wirtschaftsliberalen Flügel braucht. Weil sie sonst weniger Stimmen bekäme? Bitte, wozu nützen der AFD 20% der Stimmen, wenn die Folge dann ist, dass sie mit der Union koaliert und zum Teil des volksvernichtenden Systems wird?
Eine nicht-radikale Opposition ist in Zeiten, wo die Existenz einer Nation aufs schwerste gefährdet ist, überhaupt keine Opposition. Und eine radikale Opposition muss betont sozial sein und dem Profitgeier-Kapitalismus den Kampf ansagen. Nicht zuletzt in der Wohnungsfrage.