Und der Mythos bleibt literarisch reproduzierbar, schöpft die Literatur mit ihm doch aus den Quellen. Die Griechen und Shakespeare können noch heute auf die Bühne gebracht oder verfilmt werden, weil in den Geschichten und Gestalten das Mythische pulst, weil also der Mensch in Konflikten gezeigt wird, in denen er immer stand, mit sich selbst wie mit den anderen.
Franz Fühmann hat die Rolle des Mythischen in der Literatur in einem seiner besten, heute leider völlig vergessenen Essays beschreiben: „Das mythische Element in der Literatur“. Selbst in modernen Trivialwerken, ja sogar in „Games of Thrones“ und allerlei sonstigen Adaptionen, webt und lebt der Mythos fort.
Gerade letzten Sonnabend brachte die altbewährte F.A.Z.-Reihe „Frankfurter Anthologie“ Konstantin Kavafis‘ Gedicht „Troer“ – in der Übertragung von Helmut von Steinen und mit einer gehaltvollen Besprechung durch Hans Christoph Buch.
Läse man das Kavafis-Gedicht mit Geduld, entdeckte man im wiederbelebten homerischen Ilias-Mythos die Relevanz für unsere Gegenwart und die Situation unseres Landes. Selbstverständlich erschließt sich dies nie direkt, denn Kavafis‘ Intention hat freilich wenig bis nichts mit unserem konkreten Dilemma zu tun. Aber dennoch mag Hans Christoph Buch etwas vom mythischen Kraftfeld gespürt haben, denn hätte er sonst ein Kavafis-Zitat als beredte Überschrift gesetzt: „Was soll ohne Barbaren aus uns werden!“? – Für Kavafis galt: „Diese Menschen (die „Barbaren“ – H. B.) waren eine Art Lösung.“
Welche Lösung wird es für uns geben?
Unsere politische und kulturelle Gegenwart ist von den Geschehnissen und Folgen des Jahres 2015 geprägt, obwohl bereits lange davor ein Prozeß im Gange war, der vor vier Jahren kulminierte. Mit all den dramatischen politischen Folgen, die von jedem von uns eine Positionierung erfordern.
Konstantin Kavafis (1863 – 1933) schrieb: „Unsere Bemühungen sind wie jene der Troer/Kühn gedenken wir, mit Entschluß und Wagmut/Fallenden Schlag des Geschicks zu ändern./Und wir stellen uns draußen auf zum Kampfe.//Aber sobald die große Entscheidung nahkommt,/Geht uns der Wagmut und der Entschluß verloren,/Unsere Seele erbebt, fühlt Lähmung,/Und in vollem Kreis um die Mauern laufen wir,/Durch die Flucht zu entrinnen bestrebt.//Dennoch ist unser Fall gewiß. Dort oben/Auf den Mauern begann schon die Totenklage./Unsrer Tage Erinnerungen weinen, Gefühle weinen./Priamos bitter um uns und Hekabe weinen.“
Man muß das nicht, aber man kann es auf unsere Situation beziehen, etwa so, wie es in anderer, konkreterer Weise jüngst Michael Kirchberg hier tat.
Zudem ruft Hans Christian Buch in seiner Kavafis-Besprechung eine düstere Erzählung Franz Kafkas, „Ein altes Blatt“, auf, die ich selbst gerade in den letzten Jahren wieder und wieder las, seit 2015 dann dringlich empfahl und der ich in einem mittlerweile nicht durch mich gelöschten Beitrag für die „Identitäre Bewegung“ eine Deutungsvariante für unsere Gegenwart zuwies, was sogleich den Germanisten Gerhard Rieck mir gegenüber zu einem Belehrungsversuch veranlasste, unter dem schönen Titel „Kafka in der Löwengrube“.
An linkem Ort schrieb ich: „Ist Franz Kafkas aufschlussreiche Parabel ‚Ein altes Blatt‘ schon nie in Lesewerke aufgenommen worden, so könnte sie vielleicht in Sozialkundelehrbüchern als Diskussionsgrundlage dienen. Eine ganz gefährliche Sache. So gefährlich wie der aktuelle Verlauf. Manche Gedanken werden erst im Zuge intellektueller Provokation klar.“
Die zwar allgegenwärtigen, jedoch beinahe nirgendwo differenzierte Formel von der „Toleranz“ ist nicht die einzige Reaktion auf das, was uns so blühen mag. Mut und Selbstbehauptung, kritische Vergewisserung des Eigenen, Abgrenzung und couragiertes „Nein!“ gegenüber dem drohenden oder eher längst erfolgten Verlust von Maß und Vernunft sind andere und eben solche, die „Wagemut und Entschluß“ (Kavafis) doch noch ermöglichen könnten, obwohl die Chancen dazu zu schwinden drohen. Mag ja sein, wir scheitern, mag sogar sein, „uns“ gibt es in der Form üblicher Identifikation als Volk oder als Sprach- und Kulturraum schon kaum mehr.
In der Maßlosigkeit, mit der wir uns verschwendeten, unsere Ressourcen für profanen Gewinn an Komfort preisgaben oder verbilligten, so, wie wir uns angewöhnten, mit dem Elementarsten zu aasen, mit dem Wasser, dem Grün, den Mitgeschöpfen, ja selbst der Luft, so verloren wir uns selbst zwangsläufig – an den Genuß, an den Markt, an den simplen Hedonismus und damit an einen wohlfeilen Universalismus.
Sich auf sich zu besinnen und die Kraft zu erneuern heißt mitnichten, sich gegen den anderen zu wenden, sondern bedeutet nur, sich der eigenen Kultur sowie des Herkommens und Ursprungs endlich wieder bewußt zu sein und damit wieder wahrgenommen werden zu können.
Das ist legitim!
Wir aber lieferten uns innerhalb der letzten Jahrzehnte aus. Und zwar ohne Not. Es geschah, weil der Wert des Eigenen kaum mehr geschätzt werden konnte. Wir verstanden es nicht mehr, uns zu beschränken, was übrigens von jeher Grundlage aller Moral war. Wir verloren das Maß, was wiederum als Ursachen jeden Unglücks gilt. Ohne Not gaben wir uns preis.
Mag sein, in der Not finden wir uns wieder.
Laurenz
In der Analyse liegt Herr Bosselmann falsch, im Résumé richtig. Wenn Goethe im Tasso noch nur dem Fürsten und seinem Gefolge als gepriesener Unterhalter dient, und damit hadert, so lehnt Kafka jeglichen Bezug auf irgendeinen Konsumenten der Kunst im Hungerkünstler ab, völlig absurd. Romantiker bringen uns, in ihrem Hang zur Selbstzerstörung, aktuell nicht weiter, ich hätte Kafka auch gelöscht. Wenn die heutige, staatlich finanzierte Wissenschaft (Archäologie und Historie) aus politischen Gründen die Dorischen Wanderungen ablehnen, weil sie ebenso, wie die Seevölker, von den Nationalsozialisten vereinnahmt wurden, und Germanen grundsätzlich zu blöd waren, irgendetwas zu reißen, ändert es grundsätzlich nichts am ewigen Konflikt zwischen Seßhaften und Nomaden. Es sind die orientalischen Trojaner, die heute bei uns einfallen.