Deshalb paßt Sommerfelds Unterscheidung zwischen Demokratie I (prozedurale Republik) und Demokratie II (demokratischer Lebensstil) nicht. Sommerfeld lädt für die Demokratie I den Kommunitaristen Michael Sandel zum Zeugen. Doch die Konsequenz läuft darauf hinaus, die Staatsform vom lebendigen Volk zu scheiden und in die Gegenwelt der gesetzlichen Norm entschweben zu lassen.
Sie hätte sie sich besser auf Hans Kelsen berufen. Oder auf Habermas, denn als einziger Maßstab dieser Demokratie verbleibt die gerechte Teilhabe aller am demokratischen Prozeß.
Machiavelli, der Vater des abendländischen Republikanismus, schreibt aus gutem Grund viel von der Tugend und wenig von der Gerechtigkeit. Seine Lehre von den republikanischen Institutionen dreht sich immer wieder um die Frage, welche Einrichtungen die virtutes fördern und welche zu Dekadenz und Eigennutz führen.
Selbst bei der Bürgerbeteiligung, dem Kernstück der Demokratie I, geht es ihm nicht um politische Rechte, die irgendjemand haben sollte, weil dies nun einmal demokratisch sei. Ein formal gerechtes Wahlrecht gilt ihm nichts, der Gedanke daran taucht in seinen Schriften gar nicht auf. Welche Beteiligungsformen welche Tugenden – modern welcher Lebensstil – zur sittlichen Grundlage der Republik machen, dieser Frage gilt sein ganzes Interesse. Seine Republik ist zunächst und vor allem Erzieher der Bürger. Sie muß dies sein, weil nur der von ihr geprägte Republikaner in der Lage ist, diese Staatsform zu tragen.
Das ist kein akademisches Geplänkel. Die Kritik an Robert Habeck, der hier stellvertretend für das ganze globalistische Programm steht, fällt deshalb in sich zusammen, weil sie unter Berufung auf den neutralisierten Mechanismus der Verfassung in jene liberale Beliebigkeit zurückfällt, die seit jeher die konservative Auffangposition vor linker Programmpolitik ist. Weil man selbst nicht gestalten kann, spricht man den anderen das Recht zur Gestaltung ab.
Doch eine Staatsform ist kein Algorithmus zur Entscheidungsfindung. Es zählt allein die lebendige Verfassung, nicht das Normengebäude. Deshalb erzieht auch jeder Staat in der ihm gemäßen Weise seine Bürger. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Republiken brauchen ein staatsbürgerliches Bewußtsein, das sie in irgendeiner Weise den Bürgern einimpfen müssen, und in Monarchien bezeichnet die Formel von Thron und Altar den analogen Sachverhalt.
Wo der politische Streit unserer Zeit ernst ist, dort geht es nicht darum die Heiligkeit der neutralisierten Verfassung vor linken Machtanmaßungen zu schützen, sondern um den Stil, der die Verfassung mit Leben füllen soll.
Was dies betrifft, so hat die links-globalistischen Seite recht schwammige Vorstellungen. Den dortigen Konsens kann man auf die Wörter Toleranz und Mobilität bringen: Toleranz allen möglichen Lebensformen gegenüber, solange sie in das emanzipatorische Paradigma passen, also keine langfristigen Verpflichtungen mit sich bringen. Mobilität über alle nationalen Grenzen hinweg, die Mensch und Kapital an Räume der Überlieferung und Verantwortung binden.
Im Einzelnen muß das, wie die Floskel lautet, „täglich neu ausgehandelt werden“. Doch die Linke hat viel mehr, als eine geschlossene Weltanschauung, sie hat eine gelebte Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit leidet an dem fundamentalen Widerspruch, daß eine globale Oberschicht ihr anywhere-Dasein nur dadurch aufrechterhalten kann, daß sie an den Ordnungsleistungen der somewheres parasitiert, auf die sie nicht nur herabsieht, sondern deren Lebensstil sie als zerstörungswürdig, weil nicht mobil und tolerant genug betrachtet und denen sie hemmungslos die Schäden ihrer Entgrenzungen aufbürdet.
Das Weltbürgertum globaler Lifestyle-Demokraten beruht auf der Möglichkeit, die Abfallprodukte der Globalisierung in den Lebensräumen des seßhaften Volkes endzulagern.
Soviel zur Kritik, doch was steht dagegen? Die Demokratie als tote Verfahrensvorgabe kann es nicht sein. Es bleibt zunächst das Volk. Auf der Rechten ist man sich einig, daß das Volk als Ethnos allein den Demos stellen kann. Die Homogenität des Volkes erzeugt den Lebensstil seiner ganz bestimmten Demokratie.
Welcher Lebensstil? Diese Frage ist mit dem Verweis auf das Volk nur zum Teil beantwortet. Jedes Volk bringt dazu sein Eigenes und Unverwechselbares mit, doch jedes Volk ist auch zu genügendem Maße Formmasse, daß die Frage nach dem Lebensstil seines Gemeinwesens nicht mit dem Verweis „deutsch“, „japanisch“ oder „russisch“ beantwortet wäre.
Ein gelebter politischer Stil, eine Demokratie II, ist die Schlüsselfrage jeglichen Antiglobalismus. Nur durch ihn kann Gestaltungskraft erwachsen. Nur er kann Eliten bilden, die jenseits des Wahltages eine Zukunft erstreiten, anstatt es bei dem allvierjährigen Denkzettel zu belassen, der selbst im besten Falle bloß eine destabilisierende Wirkung auf die herrschenden Mächte hat.
Ein gelebter politischer Stil unterscheidet den bloß verneinenden Protest von der aufbauenden Herrschaft.
Die Rechte steht dem Gestaltungswillen der Linken immer noch oft hilflos gegenüber. Nicht so sehr, weil der Gegner die Macht hätte, sondern weil er über führende Schichten verfügt, die bereit und in der Lage sind, Macht zu gebrauchen.
Im Arbeiter schreib Ernst Jünger 1932:
„Wo immer sich ein Zustand der reinen Bewegung, der allzu billigen Unzufriedenheit ergibt, taucht die Macht als das Ziel aller Ziele, als das Allheilmittel der politischen Opiumkrämer auf. Die Macht ist jedoch ebensowenig wie die Freiheit eine Größe, die irgendwo im leeren Raum ergriffen werden kann oder zu der sich jedes Nichts beliebig in Beziehung zu setzen vermag. Sie steht vielmehr in untrennbarer Verbindung mit einer festen und bestimmten Lebenseinheit, einem unzweifelhaften Sein, – der Ausdruck eines solchen Seins eben ist es, der als Macht erscheint, und ohne den die Führung der Insignien keine Bedeutung besitzt.“
Genauso sinnlos wie der bloße Griff nach der Macht wenn die inneren Voraussetzungen zu ihrem Gebrauch fehlen, ist der Versuch sie dem Anderen zu verweigern, wenn er über diese verfügt, man selbst aber nicht.
Nur die „feste und bestimmte Lebenseinheit“, die der Repräsentation in einer führenden Schicht bedarf, berechtigt die Machtfrage im Positiven, wie im Negativen zu stellen.
Wer Robert Habeck und seine „bolschewistische[n] Steuerungstechnologen“ nicht haben will, dabei aber an der Demokratie festhält, der braucht die Republik als Erzieher. Was die Frage in den Raum wirft: Wozu soll und kann die Republik heute Volk wie Elite erziehen?
t.gygax
Zitat: " Es bleibt zunächst das Volk".
Genau das ist es- und ich verstehe nicht, warum auf SiN das Schweizer Modell nie diskutiert wird, warum SiN es hartnäckig ablehnt, einmal einen Artikel über den ehemaligen Schweizer Nationalrat Oskar Freysinger zu bringen, der dieses Modell in seiner Politikerzeit mit Begeisterung und viel"Herzblut" beispielhaft vorgestellt hat und der nebenbei auch ein Schriftsteller und Chansonsänger von Format ist , bei dem man nur sagen kann, der Mann war viel zu gut für die politischen Niederungen.... Auch wenn die Schweiz wirklich ein Sonderfall ist- als politisches und vor allem funktionierendes System von "Demokratie von unten her" ( Volksabstimmungen über die Gesetze!!!!) sollte sie allemal endlich hier kundig betrachtet werden, und maiordomus könnte sich aus den Höhen seiner geistigen Flüge herabneigen zu den Wirklichkeiten des Lebens. Denn auch dort leben nur Menschen, und auch dort hinter dem Bodensee ist nicht alles Gold , was glänzt. Aber besser als bei uns in jedem Fall, ich rate jedem jungen Menschen heute, versuche in der Schweiz zu arbeiten und zu leben. Verwandte haben das getan, das sind hochqualifizierte und tüchtige junge Leute, von denen kommt keiner jemals wieder in dieses Land, genannt BRD, zurück.