Am 21. IX. hielt Benedikt Kaiser einen Vortrag zur »Postpolitik«; es folgen Video und gekürzte Printfassung. Letztere erscheint in der 92. Sezession.
Der nichtverhandelbare Konsens ist der Tod des Politischen.
Womöglich liegt es an dieser These, daß im nonkonformen Lager Deutschlands der Konsens als gesellschaftspolitisches Prinzip keinen guten Leumund besitzt. Das Magazin Tumult begreift sich etwa explizit als eine Vierteljahresschrift für Konsensstörung. Moniert wird im Selbstverständnis »die auffällige Zurückhaltung der Intellektuellen angesichts der Konvulsion globaler Mächte und Märkte und der wachsende Konsensdruck in der öffentlichen Meinung online und offline«. Beides bedinge sich wechselseitig.
Mit Götz Kubitschek zeigt sich auch der Chefredakteur der Sezession als Gegner des Konsensstrebens. Er stellt in seinem Essay Provokation in bezug auf den konsensimmanenten, habermasianischen Kautschukbegriff »Diskurs« klar, was das Ziel rechtsalternativen Strebens eben nicht beinhaltet: Es gehe keineswegs um »die Beteiligung am Diskurs, sondern um sein Ende als Konsensform«.
Die »Neue Rechte« hadert also mit dem »Konsens« als dem Axiom der politischen Sphäre – ein Umstand, der damit zusammenhängen mag, daß sie in ihren divergenten Erscheinungsformen vom »zivilgesellschaftlich« festgelegten Konsens ausgeschlossen ist. Dies erscheint nicht als Letztbegründung, sondern stellt eine Teilwahrheit dar. Die Neue Rechte hadert auch deshalb mit dem Konsenskultus, weil sie in ihm den Todesgaranten für jede Form authentischer Politik und der Erscheinungsformen des Politischen erkennt.
Bei Nennung dieser zwei Felder – die Politik, das Politische – ist Carl Schmitt gegenwärtig. Anhand seines Schlüsseltextes Der Begriff des Politischen wird deutlich, weshalb genuine Politik nichtliberal artikuliert werden muß: Liberale, wußte Schmitt, treffen, wenn sie das Politische berühren wollen, nicht die Sache, denn sie verwenden qua Menschenbild und Prägung ein ökonomistisches oder moralisches Vokabular. Das Wesen des Politischen verkennen sie. Dies wird dadurch verschärft, daß ihre individualistische Haltung für den Umstand erblinden läßt, wonach politische Identitäten und politisches Ringen von kollektiven Einheiten bestimmt werden, die sich bewußt von anderen Einheiten scheiden, disassoziieren, und das jeweils eben nicht in Form von Einzelpersonen.
Anders gesagt: Da kein »Wir« ohne ein »die Anderen« möglich ist; da eine gemeinsame politische Identität nur denkbar ist, wenn sie sich von einer anderen abgrenzen kann; da also der Antagonismus als Freund-Feind-Scheidung den Ausgangspunkt respektive Kern des Politischen umreißt, ist dieses so verstandene Politische a priori Erzfeind des Liberalen.
Der Gralshüter des liberalen Konsenses Jürgen Habermas hat dies verstanden, und daher stigmatisiert er die zugrundegelegten Annahmen als antidemokratisch und unmoralisch, als jenseits des Konsenses stehend – und damit wiederum jenseits jedweder möglichen Diskussion. Mit Schmitt ist dies eine Kapitulationserklärung des Denkens und bringt eine Verwirrung der Begriffe und Ebenen mit sich. »Der politische Feind«, definierte Schmitt, »braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein«.
Der Feind, konkretisierte er seine wirkmächtige Begriffsbestimmung, ist der Andere, »und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind«. Die Benennung des Feindes und die Generierung des Nicht-Feindes, des Eigenen, des Wir, konstituiert eine Gemeinschaft und, darauf aufbauend, Recht, Institutionen, Ordnung. Erst durch diese Setzung und Einteilung entsteht Politik und das Prozessuale sowie Normative an Politik, das Politische.
Die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe sieht heute indessen in dem deliberativen, beratenden Moment (à la Habermas usw.) den anhaltenden »Niedergang des Politischen«. Im Rahmen des liberalen Kapitalismus »und seines ideologischen Supplements, des liberal-demokratischen Multikulturalismus«, so Slavoj Žižek in Mouffes Sinne, habe eine postpolitische Politik des Konsenses als »deliberative Demokratie« den Platz des originär Politischen usurpiert. Die Dimension des Politischen als ausgetragener Widerspruch gegen einen technokratischen Konsens wurde somit aus der Öffentlichkeit verbannt. So aber drohe, ergänzte Mouffes verstorbener Lebensgefährte Ernesto Laclau, infolge der Verflachung des Politischen der »Tod der Politik«: Es wird noch beratschlagt, an Nebenwidersprüchen der Diskurs geprobt, aber die existentiellen Fragen sind ausgeklammert; die Verhältnisse werden verwaltet und das Postpolitische tritt auf den Plan.
Ob Mouffe, Laclau oder Žižek: Einig sind sich die zeitgenössischen Kritiker der Postpolitik in der Bestimmung der Verantwortlichkeiten für ihr Entstehen. Demnach habe seit Margaret Thatcher, Tony Blair und Ronald Reagan auf angloamerikanischer Ebene und seit Gerhard Schröder und Angela Merkel in der BRD die vorgeblich ideologiefreie Mitte reüssiert. Sie vertritt den prototypischen Konsens des Postpolitischen. Ihr »There is no alternative« (TINA) präsentiert das Vorgehen des Establishments als »alternativlos«. Assoziiert wird dies mit Prozessen der Globalisierung, die keinen Entscheidungsspielraum mehr offerierten: Wirtschaftliche Transnationalisierung und westliche Demokratieverständnisse werden durch das Kapital und seine Sachverwalter in Politik und Medien als nicht beeinflußbarer Naturprozeß deklariert. TINA meint: Es gibt keine Alternative zum großen Ganzen.
Es wäre nun eine grobe Vereinfachung, sich die Begünstigten lediglich als »das Kapital« zu vergegenwärtigen; denn die TINA-Profiteure sind keineswegs ausschließlich globale Konzerne, Finanzakteure, Hedgefonds, Milliardäre; TINA-Profiteure sind desgleichen Angehörige einer institutionalisierten, letztlich parasitären supranationalen Bürokratenschicht, deren Netzwerke Hunderte Organisationen und Einrichtungen umfassen – sie reichen von linken NGOs über EU-Behörden bis zu den Vereinten Nationen. Kosmopolitisch gesonnen, aus keinen politisch-demokratischen Prozessen hervorgegangen, aber indirekt oder direkt vom Volk alimentiert und mit zahlreichen Privilegien ausgestattet, haben die Angehörigen dieser neuen Klasse ein explizites Interesse am TINA-Diktum, weil es die eigene materiell und politisch herrschende Lage zementiert.
Postpolitik ist in diesem Sinne auch ein Instrument der eigenen Macht- und Privilegiensicherung, und nicht selten meinen ihre Vertreter, Regieren bestehe heute nur noch in einer rationalen Darbringung von Leistungen, die unideologisch von den Wissenden durchgeführt werden müssen, weil sie alternativlos sind, Marktzwänge und Optimierungen sie nötig machen. Damit diese herrschaftsstabilisierenden Maximen nicht grundlegend hinterfragt werden, wird nicht nur der Rückzug ins Private, ins Konsumeristische befürwortet, sondern optional auch Angst vor Veränderung des postpolitischen Status quo geschürt. Man habe Experimente über und solle sich lieber in dieser besten aller möglichen Welten als dem nahenden Ende der Geschichte einrichten und keine weitreichenden Ideen oder gar Mythen mehr einbringen.
Im Steigerungsfall tritt das Schreckgespenst des Totalitarismus via Moralisierung durch führende Politiker auf den Plan. Alternativen zur liberalen Konsenswelt hätten, so die Apostel der TINA-Doktrin, in die Katastrophe geführt, ob nun im Kommunismus oder im Faschismus, weshalb maximal reformerisches Bestreben statthaft wäre.
Der maßgebende Gegner dieser postpolitischen Fluchtbewegung, Žižek, stellt dieser Zementierung des Bestehenden entgegen, daß man wirklich politisch heute erst dann sei, wenn man, TINA diametral entgegensetzt, nicht zaghaft Reformen einfordere, also höchstens das »Machbare« forciere, sondern wenn man ausdrücklich für das Unmögliche plädiere und sich ihm schrittweise annähere (man erinnere sich an die Dialektik aus Nah- und Fernziel, vgl. Sezession 81). Erwartungsgemäß wurde Žižek von den postpolitischen Konsensverwaltern gescholten, er würde den gesellschaftspolitischen Konsens unterminieren, indem er Radikalismen unterschiedlicher Feldpostnummern die Türe aufsperre. Žižek entgegnete: »If this radical choice is decried by some bleeding-heart liberals as Linksfaschismus, so be it.«
Wir sind also, beginnend mit den 1990er Jahren, in ein Zeitalter des Postpolitischen eingetreten, in dem prinzipieller Widerspruch ausbleibt, in dem verwaltet und durchregiert wird, während das Vakuum der ausbleibenden authentisch politischen Auseinandersetzung – vor allem in Deutschland – durch hypermoralische Setzungen ausgefüllt wird. Chantal Mouffe nennt das, in Anlehnung an Schmitt, die Recodierung politischer Konflikte anhand moralischer Begriffe.
»Politik«, führt sie aus, »ist nicht moralischer geworden, sondern politische Antagonismen werden heutzutage in der Begrifflichkeit moralischer Kategorien formuliert«. Konkret bedeutet dies: Ein eigentlich politischer Konflikt wird durch hegemoniale Kräfte entpolitisiert, indem eine der beteiligten Konfliktparteien nicht politisch widerlegt, sondern moralisch abgestuft wird – man denke an den notorisch gewalttätigen »Faschisten« oder den hetzerischen »Rechtspopulisten«. Diese würden der Menschheit, den Menschen, der menschlichen Zivilisation, den Menschenrechten, den unveräußerlichen Werten der Menschheit etc. pp. zuwiderlaufen.
Weil indes zum moralisch verbrämten Postpolitischen mit seiner Fixierung auf »Individuen« und »Menschheit« (Zwischenstationen und Gemeinschaften wie Völker erscheinen im Denken eliminiert) die ihm immanente Neigung zum alternativlosen »Konsens« tritt, harmoniert dieser Zustand der Entpolitisierung des politischen Raumes so stark mit einer ins Individualistische driftenden Gesellschaft der Auflösung. Es ist dies eine Gesellschaft, in welcher der Einzelne das Maß aller Dinge ist, und in der er sich ständig neu erfinden kann, mit neuen Identitäten, neuen Konsumfeldern, neuen Fetischen – das nötige Kleingeld freilich vorausgesetzt.
Diese Entpolitisierung bei zunehmender Vereinzelung schafft, so der Publizist Georg Seeßlen, einen »prinzipiellen Widerspruch zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Davon profitieren einige, und viele leiden darunter«. Dabei werden im anhaltenden Prozeß des Postpolitischen grundlegende Lehrsätze der politischen Philosophie verdrängt. Die Polis als Gemeinschaft kann, und diese Erkenntnis ist seit Aristoteles verbreitet, jeden Einzelnen entbehren oder ersetzen, der Einzelne kann aber nicht ohne Polis leben. In der liberalen Konsenswelt wird dies verneint und das direkte Gegenteil als Richtschnur des Denkens angenommen.
Liberales und libertäres Denken von Hayek bis Stirner gibt, und auch darauf verweist Seeßlen, »dem Recht des Einzelnen den Vorrang«, »und zwar ›von Natur aus‹ und vor der Polis. (…) Das Primat der Polis weicht einem Primat des Einzelnen«. Während der Vorrang respektive der Kult des Einzelnen gelebt wird und die Konsumindustrie Verwertungsoptionen generiert, werden einmal mehr die grundsätzlichen politischen Widersprüche einer Gesellschaft nicht ausgefochten, sondern jeder Diskussion entzogen. Gleichzeitig wird aber der Popanz der »deliberativen«, offenen Gesellschaft kultiviert.
Das hegemoniale habermasianische Konsensdenken der BRD ist also nicht nur widersprüchlich, sondern vernebelt die Essenzen der politischen Sphäre. Es verspricht Beratung und Austausch, aber nur in einem festgezurrten Rahmen, jenseits der entscheidenden Lebens- und Organisationsfragen eines Volkes. Eben dies macht das Postpolitische und den Zustand der Postpolitik aus: Diskurs und Deliberation in Ablenkzonen, Ende der weltanschaulichen Durchdringungen und agonalen, kämpferischen Auseinandersetzung in den Kerngebieten. Stattdessen regieren Funktionseliten durch und begründen ihr Handeln moralistisch.
Dieses von oben herab gegen das Volk agierende postpolitische Verhalten der Anywheres vollzieht sich nicht nur in voller Übereinstimmung mit den wichtigsten Interessensgruppen des Kapitals. Es vollzieht sich in selbem Maße in harmonischer Zusammenarbeit mit der durchliberalisierten linken Resterampe unserer Zeit. Ebendies greift Žižek an, wenn er formuliert, daß in der Postpolitik »der Konflikt globaler ideologischer Entwürfe durch die Kollaboration von aufgeklärten Technokraten (Ökonomen, Meinungsforschern …) mit liberalen Multikulturalisten ersetzt« werde.
Dies umreißt die wirksame Allianz des Postpolitischen: Anywheres, Politikverwalter der »Mitte« und das Kapital einerseits, liberale und linke Multikulturalisten andererseits. Das einende Ziel beider Seiten ist die offene, bunte Gesellschaft, deren wesentliche Paradigmen – Freiheit bzw. Vorrang des Individuums, des Marktes, der Migration – außerhalb der Diskussion stehen.
Doch es sind just diese drei Paradigmen, die man, wollte man das Politische beleben, grundsätzlich zur Disposition stellen muß, weil es Fragen der Wirtschaft und der Migration sind, die unsere Lebenswirklichkeit im Zeitalter der Auflösung aller Gewißheiten substantiell verändern. Durch hypermoralische Setzungen wird diese Rückkehr des Politischen als Infragestellung der herrschenden Glaubenslehren erschwert; es erscheint unmoralisch, diesen politisch-korrekten Konsens der offenen Gesellschaft, der Liberale und Linke in eine gemeinsame postpolitische Front stellt, in Frage zu stellen.
Während sich im real existierenden Kapitalismus die Kommodifizierung aller Bereiche gesellschaftlichen Alltags vollzieht, die »Verwertung des Werts« in kleinste Nischen vordringt und noch die letzte menschliche Regung der Profiterzielung untergeordnet wird, können linke Akteure den postpolitisch der Diskussion entzogenen gesellschaftlichen Raum beinahe widerspruchslos ausgestalten: Ob Gender Mainstreaming, Abtreibungsfanatismus oder Kampf gegen Rechts: Man hat zwar politische Widerstände zu erwarten, aber sie kommen gerade nicht von dem einstigen Hauptgegner einer politischen Linken aus vergangenen Tagen: dem Kapitalismus und jenen von ihm bewirkten herrschenden Verhältnissen.
Widerstände kommen lediglich von einer ausdrücklichen Minderheit, der politischen Rechten, da, so die US-amerikanische Publizistin Nancy Fraser, »progressive Kräfte faktisch im Bündnis mit den Kräften des kognitiven Kapitals« stehen. Nichts anderes akzentuierte Žižek, als er die Kollaboration aufgeklärter Regierender und ökonomisch Besitzender mit linken Multikulturalisten (Frasers »progressive Kräfte«) als wesentlichen Aspekt der Postpolitik benannte.
Bei aller Grundsatzkritik an der postpolitischen Einheitsfront von linksaußen bis neoliberal birgt diese gesamte Entwicklung für die alternative Rechte einen Vorteil: Die Konfrontationen der Politik, die ausbleiben, weil es keinen Systemgegensatz oder große Weltanschauungsparteien mehr gibt, verlagern sich stärker ins »Vorpolitische«, also in jene »metapolitischen« Räume, in denen Konflikte weiterhin real ausgetragen und Weichen gestellt werden – auch wenn dort einstweilen noch linksliberale Pressure groups dominieren. Hier kommt die konsensgegnerische Neue Rechte ins Spiel, die angetreten ist, den übergeordneten Konsens des »Links-Kapitalismus« (Norbert Borrmann) und der linksliberalen Postpolitik zu stören und einen inakzeptablen Zustand aufzuheben. Auch die Metapolitik kennt Machtverhältnisse, und sie gilt es zu ändern.
Georg Seeßlen räumt ebenfalls ein, daß sich alles in die sogenannten vorpolitischen Räume als»den eigentlichen Macht- und Konflikträumen der Postpolitik« verlagert. Er befürchtet aber nun das, was explizit zu hoffen erlaubt ist: nämlich, daß diese Verschiebung der Konfliktlage von der großen Politik ins Metapolitische hinüber der »ideale Nährboden für einen Gramsciismus von rechts« sei, also für eine Erlangung geistiger Hegemonie der Neuen Rechten im basisnahen vorpolitischen – kulturellen, gesellschaftlichen – Raum.
Der Weg zu dieser Hegemonie kam Antonio Gramsci einem Stellungskrieg gleich; eine Redewendung, die bewußt an die verzweigten Grabensysteme des Ersten Weltkriegs erinnerte. Wie diese nun besteht aber eine moderne westliche Zivilgesellschaft aus einer komplexen Struktur von einzelnen Bausteinen. Macht ist lapidar formuliert nicht mehr »nur« in der Polizei oder »nur« in der Armee oder »nur« in einem Geheimdienst verkörpert, sondern zusätzlich in jedem der vielen neuartigen zivilgesellschaftlichen Bestandteile.
Daraus folgt konkret: moderne Macht ist verstreuter, und um sie wird überall gerungen. Der »integrale Staat«, wie Gramsci ihn antizipierte, ist erst im 21. Jahrhundert umfassend geworden. Als solcher galt einer Wendung Gramscis zufolge die Synthese aus »Repressionsbehörden plus Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang«. Der integrale Staat des Jahres 2019 bringt unterdessen, überspitzt formuliert, »Verfassungsschutz plus Zivilgesellschaft, das heißt linksliberale Hegemonie, gepanzert mit Zwang«, mit sich.
Der Stellungskampf gegen diesen modernen integralen Staat ist im Anschluß an Gramsci ein molekularer, d. h. kleinteiliger und vielschichtiger Prozeß, und kein noch so kleiner Gewinn ist vergeblich, weil er den Gegner beharrlich zwingt, selbst Verlagerungen seiner Anstrengungen, seiner Kräfte, seiner Strategien vorzunehmen. Niemand kann überdies voraussagen, wo kleine Verschiebungen womöglich zu größeren Bruchstellen oder geschlagenen Breschen führen werden.
Metapolitik in diesem Sinne ist folglich gerade nicht postpolitisch, sondern ergebnisoffen. Der metapolitische Kampf um die ideologisch-politische Hegemonie ist, mit Žižek verstanden, immer auch ein Kampf um die Aneignung von Termini aus dem Alltagsbereich, die apolitisch wahrgenommen werden. Es geht darum, Begriffe zu dominieren, zu prägen, die alle Menschen betreffen, unabhängig von ihrer konkreten politischen Verortung.
Dieses prinzipiell Offene des Ausgangs metapolitischer Handlungen mit der Möglichkeit des Wandels der Hegemonieträger entspricht dem Gegenteil der realpolitischen Status-quo-Verwaltung unter Angela Merkel, dieser »Vertreterin der Postpolitik par excellence« (Seeßlen). Der lange statische Konsens der »linken« wie »rechten« Mitte – von Union bis Sozialdemokratie, gebündelt in der ewigen GroKo – hat dafür gesorgt, daß viele Menschen das Interesse an dieser Politik des Immergleichen verloren; immer mehr Deutsche gingen oder gehen nicht einmal mehr zur Wahl. Für Wolfgang Streeck ist damit eine »Spätzeit der Demokratie insofern« eingetroffen,»als die Demokratie, wie wir sie kennen, auf dem Weg ist, als redistributive Massendemokratie sterilisiert und auf eine Kombination von Rechtsstaat und öffentlicher Unterhaltung reduziert zu werden«.
Gegen diese Sterilisation und Reduktion ist das politische Minimum in Stellung zu bringen, das die Minimalbedingungen jeder politischen Praxis einbezieht. Das sind, mit dem österreichischen Philosophen Oliver Marchart formuliert: »Majoritär-Werden, Strategie, Organisation, Kollektivität, Konfliktualität, Parteilichkeit«. Es gilt also Partei zu ergreifen, um die ewige Herausforderung des Politischen, die, so Max Weber, »ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich« erforderlich macht, anzunehmen. Leidenschaftlich und vernünftig zugleich muß folglich gegen das postpolitische TINA-Denken opponiert werden, wenn man im zu belebenden Bereich des Politischen »einen Ort von Macht, Konflikt und Antagonismus« (Mouffe) erblickt.
Diese artikulierte Notwendigkeit von Dissens und Streit um das konkrete Einrichten der Gesellschaft wird von zwei Typen des Postpolitischen bestritten: Einerseits handelt es sich um ostentativ pragmatische »Mittige«, die aus ihrer Vorstellung, man müsse die Belange einer Gesellschaft Expertenurteilen und der vermeintlichen Elite überlassen, keinen Hehl machen. Andererseits handelt es sich, im geistigen Bereich, um Charaktere wie Habermas und vergleichbare deliberative Qualmköpfe, die wider jede faktische Realität an ihrer Behauptung festhalten, durch rationale Beratschlagung und konsensuale Konfliktüberwindung lasse sich alles regeln, weil die großen Fragen bereits im Rahmen der bestmöglichen Ordnung, der liberaldemokratischen, geklärt worden sind.
Eine derartig anmaßende Weltsicht der herrschenden Eliten kennzeichnet die Postpolitik, und mit Michael Th. Greven wissen wir, daß diese so verstandene Postpolitik in die Posthistoire führen müßte, »weil in einer endlos empfundenen Gegenwart kein Zukünftiges jenseits von Moderne und Demokratie zu denken mehr gewagt wird«.
Nun gibt es aber weder ein Ende der Geschichte noch ein Ende der Politik, weil der Mensch als Gemeinschaftswesen ohne das Politische nicht denkbar ist, das, so definierte Hermann Heller, primär der »Erhaltung und Gestaltung einer Gebietsgesellschaft, der Polis, des Staates« dient. »Alle Politik«, fuhr er fort, »ist letzten Endes Staatspolitik, denn sie muß wollen, daß ihre Interessen den staatlichen Machtapparat zu ihrer Verfügung bekommen.«
So richtig diese Maxime ist, so wichtig ist es, sich die skizzierten Gramsci-Annotationen anzueignen. Hegemonie resultiert eben nicht mehr nur, wie womöglich vor einhundert Jahren, aus der Erlangung des Machtapparats. Der heutige »integrale Staat« besteht aus dem hegemonialen Zusammenspiel von Repressionsbehörden und der Zivilgesellschaft. Will man hier über die Stufen Metapolitik und Realpolitik, über eine revolutionäre Realpolitik mithin, zu einer Staatspolitik kommen, die diesen Namen verdient, müssen freilich andere Wege jenseits der klassischen Machtaneignungsträume qua totalem Bruch gesucht werden, ohne eine demoralisierend wirkende Alternativlosigkeit zu akzeptieren.
Alain de Benoist schlägt in diesem Sinne vor, nicht den »Tod der Politik« (Laclau) zu verkünden, sondern vielmehr das Ende einer politischen Form bekanntzumachen,»in der Entscheidungen von oben nach unten getroffen wurden«. Benoist beobachtet damit verbunden »den Fall selbsternannter Eliten, die weder fähiger noch weniger fehlbar waren als die Massen, die sie meinten aufklären zu müssen«. Es geht Benoist in unseren Tagen nicht mehr um den versuchten Einfluß auf Funktionseliten oder um den Austausch einiger von ihnen, sondern, ganz im Gegenteil und zugleich viel umfassender, um den neuen Aufbau einer wirkungsvollen Gemeinschaft von unten her.
Exakt dies macht zugleich Ironie und Chance einer Neuen Rechten im postpolitischen 21. Jahrhundert aus: Die Rechte verkörpert längst nicht mehr die Fraktion der Elite bzw. der willfährigen Stütze der Herrschenden, sondern sie steht, endlich unten angelangt und verwurzelt, für die Rückkehr des Volkes als politischer Kategorie und des Populismus als politischem Konzept. Als solches aber ist nur sie in der Lage, das politische Feld wieder zu beleben.
Die Neue Rechte mitsamt ihrer Verästelungen erscheint damit als der Garant der Wiederkehr des authentisch Politischen:
- Nur sie beharrt, mit Schmitt, auf der »Autonomie des Politischen« gegenüber Ökonomie und Moral;
- nur sie stellt sich grundsätzlich und entschieden gegen den liberalen, multikulturalistischen Konsens der Postpolitik;
- nur sie positioniert sich sowohl gegen die hegemoniale Schicht als auch gegen deren neue Fußtruppen in Form der antifaschistischen »Kapital-Linken« (Charles Robin);
- nur sie setzt der Hegung des Politischen seine Belebung durch
- fundamentalen Widerspruch entgegen;
- nur sie wird in der Lage sein, aus der Stagnation der herrschenden Verhältnisse heraus eine lebendige Kehre zu vollziehen;
- denn nur sie stellt sich mit allem, was sie hat, gegen den unverhandelbaren liberalen Konsens, der den Tod des Politischen verkündet.
Maiordomus
Richtig scheint mir, dass der von aristotelischer Politik längst losgelöste heutige Sprachgebrauch von Mitte und das Verständnis eines vermeintlichen Liberalismus auf eine unangemessene und auf Dauer entweder sinnlose oder dann prätotalitär domestizierende politische Non-Theorie hinauszulaufen scheinen. Für die Wiederherstellung des Politischen könnten Mut erfordernde geistige Anstrengungen lohnend sein; auf jeden Fall sind dieselben notwendig. Wichtig scheint mir eine illusionslose Sicht auf den herrschenden Toleranzbegriff. Für diesen gilt: von der Toleranz ausgenommen bleibt alles, was mit den wahren Meinungsverschiedenheiten zu tun haben könnte.
Was indes die sog. Neue Rechte wirklich will und wie sie überhaupt zu verstehen sei, bleibt über die dünne Luft politischer Formalismen hinaus noch historisch, soziologisch und vor allem politologisch mit hoffentlich ausreichendem Erfahrungshintergrund noch tiefer zu reflektieren. Sonst besteht die Gefahr, dass die Neue Rechte ähnlich unbrauchbar und geistig ungenügend gerät wie seinerzeit die "Neue Linke", von der bestenfalls klar wurde, dass sie zu 90% gesellschaftlichen, politischen und existentiellen Schaden angerichtet hat. Das lässt sich vermutlich noch am ehesten objektivieren, wenngleich keineswegs mit einer "wertfreien" Betrachtungsweise.