Eine Zäsur und richtungsweisende Wahl war das in vielerlei Hinsicht, und Spitzenpolitiker aller Parteien ahnten es, denn von Olaf Scholz (SPD) bis Jörg Meuthen (AfD), von Christian Lindner (FDP) bis Gregor Gysi (Linke), von Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) bis Robert Habeck (Grüne) ließen sich die bundespolitischen Granden alle in der grünen Mitte Deutschlands blicken, wo die politische ominöse »Mitte« pulverisiert wurde.
- Die AfD hat gegen alle internen wie externen Widerstände ein beeindruckendes Ergebnis erzielt: Klare Kante, klarer Kurs, klarer Erfolg: Mehr als die Verdopplung der Stimmen kann die Mannschaft um Björn Höcke für sich verbuchen. »Der Weg des Solidarischen Patriotismus ist der Weg des Erfolges«, verkündete der Spitzenkandidat selbstbewußt und unter Verweis auf die drei Ost-Wahlen 2019 vor den sichtbar erfreuten Gästen der Wahlfeier. Das wird die Partei prägen.
- Die in Sachsen und Brandenburg darbende Linkspartei kann noch siegen, wenn sie nicht ostentativ als Linkspartei in Erscheinung tritt. Bisweilen kam im Wahlkampf der Eindruck auf, eine »Liste Ramelow« und nicht Die Linke stünde auf dem Wahlzettel; ein cleverer Schachzug des amtierenden Ministerpräsidenten.
- Die CDU ist in Thüringen der große Verlierer. Spitzenkandidat Mike Mohring hat nicht nur keinen Regierungsbildungsauftrag vom Wähler erhalten; er wurde regelrecht abgestraft, und auch sein Kokettieren mit vulgärlinker Rhetorik konnte das nicht verhindern. Die CDU wird vor Zerreißproben stehen, die zu erwarten waren – aber nicht in dieser Tragweite.
- Die SPD kommt selbst mit ihrem Partner auf Bundesebene, eben der CDU, nur auf 30 Prozent, weshalb Dagmar Rosenfeld im heutigen Welt-Kommentar höhnt, es handle sich um eine »große Koalition im Bonsaiformat«. Tatsächlich konnte die dauerkriselnde SPD auch davon nicht profitieren, daß sie landesweite subkutane Stärkung durch das sozialdemokratisch geprägte Pressewesen erhielt; Einstelligkeit ist das folgerichtige Resultat, wenngleich Spitzenmann Wolfgang Tiefensee von einem »Schub« spricht, den man mitnehmen möchte (wohin? In Richtung APO?).
- Der Höhenflug der Grünen ist auch in Thüringen beendet. Denkbar knapp eingezogen, sind sie abseits der Uni-Stadt Jena und einigen wenigen wohlstandsbürgerlichen Teilen Erfurts eine randständige Splitterpartei, die, so Alexander Gauland am Wahlabend klar und deutlich, »in kein Parlament« gehöre.
- Die FDP zog noch knapper in den Erfurter Landtag ein; am Ende entschieden landesweit fünf (!) Stimmen über die Mandate der Liberalen. Ohne Profil und charismatisches Spitzenpersonal zieht man – erstmals seit knapp zehn Jahren – in ein ostdeutsches Landesparlament ein. »Jede Stimme zählt« ist also mehr als eine Floskel.
Daraus folgt zunächst: Eine emotionalisierte Debatte über künftige Koalitionsverhältnisse setzt umgehend ein, die CDU ist der größte Verlierer, die AfD – neben Ramelow – der große Gewinner. Dazu später mehr.
Zu den Fakten:
- 1,7 Millionen Wahlberechtigte wurden zur Wahl geladen, immerhin 64,9 Prozent der Menschen schritten zur Urne (Landtagswahl 2014: 52,7, Europawahl 2019: 61,5 Prozent). Die Linke erzielte 31 Prozent der Wählerstimmen, das entspricht einem Zuwachs von 2,8 Prozentpunkten. Die Christdemokraten verloren 11,7 Prozentpunkte und landen bei desolaten 21,8 Prozent, während die AfD um 12,8 zulegen konnte und damit 23,4 Prozent erreicht. Die SPD liegt nun bei 8,2 Prozent (minus 4,2), die Grünen kommen auf 5,2 Prozent (minus 0,5), die FDP landet bei 5,0 (plus 2,5). Sonstige kommen nur noch auf 5,4 Prozent (minus 1,7).
- 90 Mandate in Erfurt werden wie folgt verteilt: Linke 29, AfD 22, CDU 21, SPD 8, Grüne und FDP je 5. Eine Mehrheit, 46 Sitze, ist für keine »klassische« Konstellation erreichbar; Rot-Rot-Grün ist abgewählt, während Allianzen aus Schwarz-Rot-Grün-Gelb (»Simbabwe«) oder gar Schwarz-Rot-Grün (»Kenia«) sowieso chancenlos sind.
Rechnerisch denkbar wäre
- ein (ausnahmsweise wirklich an »Weimarer« Zeiten erinnernder) Viererversuch als Zusammengehen aus Linken, SPD, Grünen und FDP – aber das schließt die FDP aus.
- ein Zusammengehen der AfD mit den Juniorpartnern CDU und FDP – aber das schließen CDU und FDP aus, und zwar nicht nur, wie ein Philip Plickert vollmundig von der Insel raunt, »wegen Höcke« (und das ließe sich, wenn man das Gedankenspiel akzeptiert, sogar durch seine »Beförderung« auf Bundesebene, weg aus Thüringen also, moderieren), sondern aus grundsätzlichen – weltanschaulichen, charakterlichen, strategischen – Erwägungen heraus.
- ein Zusammengehen von Linkspartei und CDU – und hier wird es interessant, denn die SED–PDS–Linkspartei ist für Teile der Unions-Basis im 30 Jahre nach dem Mauerfall ein rotes Tuch, wenngleich der opportunistische CDU-Landeschef Mohring bereits die Tabus purzeln läßt. Es wäre ein »Spagat bis zum Leistenbruch«, bedeutete »weltanschauliche Flexibilität bis zur Konturlosigkeit« (Kubitschek), ist aber, angesichts einer manisch an Macht und Posten orientierten Union, mittlerweile nicht mehr auszuschließen.
Daß die Auseinandersetzung in der Union nun beginnt und mit Peter Altmaiers Intervention zugunsten tiefrot-schwarzer Sondierungen rasant beschleunigt wird, ist evident; daß dies die bereits schwelenden Konflikte in der thüringischen Union ankurbelt, ebenso.
Denn die Basis fühlt sich im Stich gelassen. Wie die Thüringer Allgemeine vom 28.10. berichtet, kursiert ein interner Brief, in dem sich Mitglieder zurückgesetzt fühlen, weil die Parteioberen kein Interesse am einfachen Wahlkämpfer zeigen würden. Es stärke sich der Eindruck, daß die Landesführung sich weiter von der Basis entferne. Ein Flirt oder gar eine echte Liaison mit der SED-Nachfolgepartei würde solche – recht banalen, aber virulenten – Grundprobleme der CDU Thüringen weiter verschärfen.
Auf eine damit direkt verbundene Variante 4. wurde in der Thüringer Allgemeinen (26.10.) hingewiesen: Im Unterschied zu anderen Bundesländern bestünde immerhin die Option, den Ministerpräsidenten in einem dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit zu bestimmen. Hierbei würde keine Mehrheit der Mandatsträger benötigt, sondern nur eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen, was impliziert, daß Enthaltungen dann nicht mitzählten – und eine Minderheitsregierung möglich würde.
R2G (42 Mandate) könnte unter Umständen also eine Fortsetzung erfahren, aber auch hier dürfte man dann in der CDU Spaltungstendenzen einiger weniger Restkonservativer vermuten und bei den fünf FDP-Liberalen eine gewisse Abneigung verspüren.
Realistisch wäre überdies auch eine 5. Option, namentlich die Weiterführung der bisherigen Koalition ohne neue Regierungsbildung (bei Gleichbleiben aller Ministerposten). Die thüringische Geschäftsordnung respektive Landesverfassung (Art. 75) macht es den Regierenden möglich, »die Geschäfte bis zum Amtsantritt ihrer Nachfolger fortzuführen«, und der Landeshaushalt ist – wohlweislich – bis 2020 geregelt.
Fest steht: Es kommt vielerlei ins Rollen. Die Thüringenwahl ist ein Katalysator für die Umwandlungen im bundesdeutschen Parlamentsbetrieb im allgemeinen und für Korrekturen der Generallinie in der AfD im besonderen.
Ohnehin, die AfD: Sie hat, einmal mehr, ihre Rolle als Motor der Demokratie in Deutschland behauptet. 78 000 Nichtwähler konnten mobilisiert werden: ein Spitzenwert, denn selbst die 31-Prozent-Linkspartei konnte nur 53 000 bisherige Nichtwähler erreichen.
Die AfD überzeugte zudem 23 000 ehemalige Wähler von Linkspartei und SPD von sich; erkleckliche 36 000 Stimmen zog man von der Union ab. Grüne (1000) und andere (13 000 insgesamt) sind zu vernachlässigen. Wie schon in Brandenburg und Sachsen ist man auch diesmal vor allem von Arbeitern (39 Prozent!) und Selbständigen (28) gewählt worden.
Höcke konnte dementsprechend bei der ausgelassenen Wahlfeier resümieren: »Das Ergebnis sagt Ja zu einer neuen lebendigen Demokratie.« Ebenjener Höcke polarisierte in einem regelmäßig über jedes gesunde Maß an Polemik hinausführenden Wahlkampf zweifelsohne.
Die Antwort auf die Frage, ob die AfD trotz oder wegen Höcke gewählt wurde, hängt vom Standpunkt und den Interessen des Betrachters ab. Es ist aber in jedem Falle davon auszugehen, daß beispielsweise die 78 000 Nichtwähler, die sich 2019 entschlossen, AfD zu wählen, durchaus wußten, daß der Spitzenkandidat Höcke hieß. Immerhin war diese Personalie also nicht wahlhinderlich, wenn nicht sogar partiell oder vollständig in einer positiven Art und Weise ausschlaggebend.
Die AfD in Thüringen besteht überdies nicht »nur« aus Björn Höcke. Ein engagierter, flächendeckender und aufopferungsvoller Wahlkampf um den hierfür Verantwortlichen konnte beobachtet werden, und das Mosaik, es harmonierte.
Es wird sich einiges in bezug auf das Personaltableau ändern. Der umsichtige und unermüdliche Pressereferent Torben Braga verläßt beispielsweise die verdienstvolle »zweite Reihe« und tritt sein eigenes Mandat an, ebenso der sozialpolitische Profi der AfD in Thüringen: René Aust.
Wahlwerbung, Videos und Radiospots waren professionell und zielgruppenspezifisch ausdifferenziert, selbst die entlegensten Gemeinden Thüringens – etwa Meuselwitz – wurden »bespielt«, was der Wähler »in der Provinz« durchaus gedankt hat: In besagter ostthüringischer Stadt im Altenburger Land gewann die AfD sowohl die meisten Erststimmen (32 Prozent) als auch Zweitstimmen (33,4 Prozent); in umliegenden Gemeinden wie Rositz konnten gar Ergebnisse von 35 Prozent und mehr erzielt werden. Ein Gegenbeispiel bieten die beiden Großstädte Erfurt und Jena. Hier konnte man als AfD zwar überaus beachtlich zulegen (von 10 auf 21 Prozent), blieb indes deutlicher als im Landesschnitt hinter der Linken zurück (34 Prozent, 2014: 31).
Einmal mehr ist neben der großstädtischen Problematik auch die Kluft zwischen beiden Geschlechtern zu vermerken. 28 Prozent der Männer in Thüringer wählten »blau«, aber nur 18 Prozent der Frauen. Hier gibt es also noch erhebliches Wachstumspotenzial für folgende Wahlkämpfe.
Eine redundant kolportierte Mär konnte die Wahl in Thüringen indessen widerlegen: Die AfD ist nicht die Partei des »alten weißen Mannes« – vielmehr ist das krasse Gegenteil richtig. Die AfD, und das kann fortan nicht stark genug betont werden, ist in allen Altersgruppen zwischen 18 und 60 Jahren stärkste Kraft geworden.
Einzig die Alterskohorten über 60, speziell im Alter 65 + x, haben in einer erdrückenden Art und Weise Die Linke, aber auch die CDU gestärkt. Eine blaue Zukunft Thüringens ist damit in greifbarer Nähe, wenn der Landesverband seinen Erfolgskurs weiter profiliert, vertieft, professionalisiert.
71 Prozent der AfD-Sympathisanten in Thüringen meinen, so die Zahlen im Politbarometer, daß die Partei sich inhaltlich genau richtig positioniert habe, während lediglich 29 Prozent meinen, die Partei sei etwas oder deutlich zu rechts. Das ist eine erstaunliche Zahl angesichts dessen, daß eine Armada von Journalisten seit Monaten unermüdlich daran arbeitete, dem Landesverband und seinem Gesicht extremistische Tendenzen zuzuschreiben.
Soweit es sich dabei um GEZ-Medien, SPD-nahe Lokal- und Regionalpresse, linksliberale Ideologen und andere Auftragstäter handelt, ist eine Detailanalyse unerheblich; diese Kreise tun, was diese Kreise tun müssen. Der Erfolg des Wahlabends ist ihr gerechter Lohn und Hohn.
Erheblich interessanter ist unterdessen das vermeintliche Friendly fire, das orchestriert und konzentriert in den letzten 14 Tagen vor dem Wahltag abgefeuert wurde und mit Friendly noch einigermaßen freundlich beschrieben wäre.
Dieter Stein, dessen apolitischer Instinkt eines Adenauer-Nostalgikers ihn untrüglich stets auf die falsche Seite des Erfolgs treibt, hatte bekanntermaßen nach seinen gescheiterten Idolen Lucke und Henkel auf die – ebenso gescheiterten – Petry und Pretzell gebaut. Mittlerweile hat er sich noch nicht eindeutig festgelegt, wer das nächste »liberalkonservative« und rigoros transatlantisch orientierte Duo seiner Wahl werden soll (Storch und Pazderski?), das er mit falschem Rat akkompagniert und ins sichere Abseits zu führen gedenkt.
Sicher ist für ihn nur: Höcke ist die Personifizierung der Gefahr, er muß weg, und seit Monaten erscheinen in unregelmäßigen Abständen gehässige Beiträge über den Thüringer Landeschef. Selbst am Wahlabend, an dem erneut eine Allparteienfront mit medialer Rückendeckung gegen die Alternative für Deutschland sturmlief, fiel Stein nichts Besseres ein, als hämisch darauf hinzuweisen, daß Höcke in »seinem« Wahlkreis keinen Sieg einfuhr.
Das hat aber mindestens zwei naheliegende Erklärungen verdient: Erstens ist das Eichsfeld eine für Thüringen einmalige katholische Bastion, und das heißt bei Wahlen: Die CDU gewinnt, egal wen sie aufstellt, und einerlei, was in der Bundes- oder Landespolitik vor sich geht, mit eklatantem Vorsprung. Zweitens verschweigt Stein seinen Twitter-Lesern die durchaus interessante Randnote, daß die AfD unter Höcke in dessen unmittelbarem Wohnort Bornhagen, der seit Jahren von Antifaschisten und Claqueuren aller Couleur heimgesucht und mit unaufhörlichen Störmanövern penetriert wird, 36 Prozent erzielte (CDU: 27, Linke: 11).
Bemerkenswerter als das stete Treiben des um »mittige« Anerkennung buhlenden Chefredakteurs eines seit Jahren (trotz allem »Rechtsrutsches« der Gesellschaft) stagnierenden Wochenblatts, ist die Aktivität eines dem Hohenzollerndamm habituell und ideell nahestehenden Formats namens »Vereinigung freier Medien« um die langjährige Merkel-Unterstützerin und CDU-Aktive Vera Lengsfeld (Ex-SED, Ex-Grüne). Ihre Zeitung »Der Wahlhelfer«, die in 500 000 Stück für Thüringen gedruckt wurde, war eine Wahlhilfe – aber zweifelsohne nicht für die AfD.
Björn Höcke, Kubitschek beschrieb es kurz und knapp, wurde diffamiert, und das Entscheidende ist: nicht zufällig, beiläufig, sondern zielorientiert. Das verriet Lengsfeld freimütig den T‑Online-Nachrichten. Denn als sie damit konfrontiert wurde, daß der äußerst linke »Rechtsextremismusexperte« und vormalige Mitarbeiter einer Antifa-nahen Landtagsabgeordneten, Matthias Quent, die Verbreitung ihrer obskuren Broschüre gerichtlich stoppen ließ, reagierte Lengsfeld so:
Wir sind erstaunt, dass Herr Quent wegen einer Fußnote die im Wahlhelfer enthaltene dezidierte Höcke-Kritik stoppen wollte.
Dieses auf eine absonderliche wie abwegige Anti-Höcke-Querfront mit Antifa-nahen Gruppen schielende Schema taucht in den letzten Wochen immer dann auf, wenn es um die Vereinigung freier Medien und die ihr nahestehenden Figuren geht. Man buhlt offensiv um linkes Wohlwollen und tut dann baß erstaunt, daß diese Linke zwar Interesse an Skandalisierungsmöglichkeiten gegen den grundsätzlichen Part des patriotischen Lagers – von Weidel bis Schnellroda und darüber hinaus – zeigen, aber im Zweifelsfall die vermeintlich »liberalkonservative«, tatsächlich wohl eher individualistisch-islamfeindliche Clique für ebenso bekämpfenswert halten.
Nur so ist es zu erklären, daß Autoren genannter Vereinigung regelmäßig bei Twitter um Sympathien bei linksstehenden Denunzianten werben oder sie offensiv und marktschreierisch in ihre diffamierenden Artikel als Kronzeugen berufen. Diese dürften von solchen Anbiederungsversuchen bestenfalls amüsiert sein, zeigt es ihnen doch nur auf, daß der mühsame Kampf um das Akzeptiertwerden nicht unbedingt die besten Charaktere aufs Parkett alternativer Politik in Deutschland katapultiert hat.
Von diesem Parkett kann man diese Akteure nicht ex cathedra entfernen, aber man kann alle gutmeinenden Kräfte vereinen und vor entsprechenden Verhaltensweisen warnen. Denn nicht immer sind Konflikte weltanschaulich begründet; im Regelfall sind es sogar menschliche Animositäten oder Abgründe, die dann ideologisch verstärkt oder ummantelt werden. Bei der notwendigen Absage an die Lengsfeld-Berger-Fronde geht es aber nicht um liberalkonservativ versus solidarisch-patriotisch oder um gemäßigt versus grundsätzlich, es geht auch nicht um realpolitisch versus fundamentaloppositionell.
Es geht einzig allein um Haltungs- und Anstandsfragen, um Fragen der Authentizität und des solidarischen Umgangs (bei allen vorhandenen und auszudiskutierenden, auszuhaltenden Differenzen). Es geht um das illegitime und notorische Abweichen vom Erfolgsgrundsatz eines jeden arbeitsteiligen und weltanschaulich heterogenen Lagers: harter, aber fairer Wettstreit nach innen, klare Kante nach außen.
Denn: Eine Woche vor der Wahl fährt man keinem aus dem im weitesten Sinne (!) »eigenen Stall« in die Parade. Eine Woche vor der Wahl greift man nicht aus Berlin in Erfurt ein, und zwar mit halbseidenen Anschuldigungen antifaschistischer Provenienz. Eine Woche vor der Wahl versucht man nicht, den Spitzenkandidaten eines aufopferungsvoll kämpfenden Landesverbandes zu Fall zu bringen.
Das versucht man im besten Fall gar nicht als CDU-nahe Publizistin mit entsprechendem Umfeld, aber vor allem nicht in der heißen Phase eines Ringens um Wählerstimmen in Konkurrenz zur SED-Nachfolgerpartei, von der man bereits ahnte, daß sie ihr bestes Ergebnis seit 1989/1990 erzielen dürfte, wenn die AfD nicht einen kolossalen Sieg einfahren würde. Was unter zugespitzten Verhältnissen von Lengsfelds larmoyanten Wendezeit-»Narrativen« zu halten ist, ergibt sich hieraus selbst.
Bleibt nach Betrachtung der linkischen »Eigenen« noch der Erfolg der Linken zu begutachten, der freilich ein Erfolg des Bodo Ramelow und eben nicht seiner Partei ist (was auch die Tagesschau so bewertet), die erstmals überhaupt stärkste Kraft in einer Landtagswahl wurde. 31 Prozent für den Landesvater sind das Resultat eines perfekten Imagewahlkampfs.
Ramelow, der nüchterne, sich kümmernde Pragmatiker; Ramelow, der linke Heißsporne auch mal in die Schranken weist; Ramelow, der sich im heimeligen Thüringen zu einer »konservativen politischen Haltung« bekannte (wie die taz vom 26./27. Oktober zitierte); Ramelow, der westdeutsch sozialisierte Gewerkschafter mit moderat christlichem Religionshintergrund; Ramelow, der Mann mit »Charisma, kombiniert mit klug gesetzten Gesten der Bescheidenheit« (Stefan Reinecke in der taz v. 28.10.); Ramelow, dessen Zufriedenheitswerte bei 70 Prozent aller Thüringer lagen (sogar 26 Prozent der AfD-Wähler bewerten seine Amtszeit positiv) und der damit die Werte der einstigen CDU-Ikone Bernhard Vogel berührt.
Ob sich Linke und Union – mit Segen Merkels – auch koalitionär »berühren« respektive näher kommen, werden die kommenden Stunden und Tage weisen. Die AfD, das steht fest, kann nur gewinnen, komme was wolle, und das ist ein Zwischenfazit*, das in der Hysterie und Hektik dieser politisch so brisanten Woche gar nicht hoch genug gehalten werden kann. Björn Höcke, Stefan Möller und Mannschaft haben gekämpft, gearbeitet, gelitten, gefeiert – nun sind erstmal andere am Zug.
*»Zwischenfazit« nenne ich diese Wahlanalyse, denn der Kern dieser Skizze ist auf dem Heimweg von Erfurt entstanden, während parallel fortlaufend neue Meldungen via Smartphone an mich herangetragen wurden, die aber teilweise nicht mehr ausreichend gewürdigt werden konnten, weil eine solche erste Betrachtung der Wahl zeitnah zu erscheinen hat. Aus diesem Grund wird das Kommentariat freundlich gebeten, fortlaufend Ergänzungen, Hinweise und Aktualisierungen der volatilen Lage vorzunehmen; ein Teil 2 der Wahlanalyse, sofern er sich als notwendig erweist, würde sicherlich einiges davon aufgreifen können.
Ergänzung, später 28. Oktober:
Der »Sieg« Höckes und der AfD ist auch ein Indiz dafür, daß die Torwächter-Funktion klassischer Medienformate womöglich der Vergangenheit angehört. Das mag zwar im Blog/Twitter/Facebook/iPhone-Universum inzwischen bereits eine Binse sein, ist es aber beim vielbeschworenen »normalen Bürger« eben (noch) nicht. Bis gestern mußte man davon ausgehen, daß der Spitzenkandidat einer zweiten politischen Kraft es sich schlichtweg nicht leisten könne, ab ca. einen Monat vor der Wahl bis zum Wahltermin keine Interviews mehr zu geben, und das hieß konkret: weder für Print noch für TV. Das aber hat Höcke getan. Seit dem abgebrochenen ZDF-Gespräch hat er keine größeren Interviews mehr gegeben, TV-Auftritte hat er abgesagt, alle Einladungen und Gesprächsersuche abgelehnt. Auswirkung: Vermutlich gen null. Dem können selbst etablierte Medien nicht ernstlich widersprechen, da das natürlich ein »Zugeständnis« wäre, daß es doch höhere Wählerpotenziale gäbe, die die AfD sozusagen just dadurch nicht ausgeschöpft habe. Dies wiederum paßt freilich nicht ins Narrativ, wonach die Grenze mit den Prozenten von gestern erreicht sei (vgl. hierzu insb. Tilmann Steffens Beitrag für Zeit Online von gestern nacht bzw. heute morgen).
Gustav Grambauer
"... wenngleich der opportunistische CDU-Landeschef Mohring bereits die Tabus purzeln läßt."
Hier
https://www.youtube.com/watch?v=0MAQrLWXzpE
sehe ich eine Pubertätsprägung durch die tiefsten Tiefen der linkssubkulturellen Szene, bis hin zur für keinen Schauspieler je zu erlernenden Routine in der Fingerhaltung, mit der er seine Bierpulle an den Mund führt. Unnachahmlich! Ohne die Heerscharen an Farbberatern, Visagisten, Hairstylern, Beleuchtern und Photoshoppern bleibt vom staatsmännischen Egregor nur ein Häuflein bitteres Elend übrig. Wundere mich bei all diesen dativbefreiten Typen, es betrifft mindestens 80 % der BRD-Chargen, nur, daß sie in ihren Maßanzügen, in denen sie wie Falschgeld drinstecken, so lange mit ihrer Stolze-Bürger-Schmierlappenmasche durchhalten, und daß ihnen die so viele Leute abnehmen.
- G. G.