Udau, der eine konservativ-libertäre Auffassung vertritt, macht den Aufschlag, der Vertreter eines »solidarischen Patriotismus« Florian Sander antwortet. Beide Thesenbeiträge sind hier enthalten.
Sanders Gegenrede möchte Udau nicht unbeantwortet lassen. Aus diesem Grund geben wir nachfolgend Udaus Replik wieder. Wir empfehlen allen Lesern des Online-Blogs, vorher die entsprechenden Standortbestimmungen in der Printausgabe zu studieren.
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Die in rechten Kreisen beliebten Begriffe „Somewheres“ und „Anywheres“ haben seit langem eine deutsche Entsprechung, an die ich hier gerne erinnern möchte. Der Soziologe Ferdinand Tönnies (1855–1936) prägte für den deutschen Sprachraum die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft.
Grob gesagt sind Gemeinschaften organisch gewachsene Formen des Zusammenlebens, in die der einzelne unabhängig von seinem Zutun hineingeboren wird. In Gemeinschaften leben die Verwurzelten, die „Somewheres“. Gesellschaften sind dagegen Formen des Zusammenlebens, die von autonomen Individuen freiwillig und absichtlich, sozusagen auf vertraglicher Basis geschaffen werden. Gesellschaften werden von den „Anywheres“ nach Bedarf gegründet, bevölkert und verlassen.
Es steht nun außer Frage, daß es sich bei der modernen Marktwirtschaft um eine gesellschaftliche Form des Zusammenlebens handelt. Menschen schließen Verträge miteinander ab, begegnen einander freiwillig auf Märkten als Käufer und Verkäufer, Kreditnehmer und Kreditgeber, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Jenseits dieser Verträge bestehen innerhalb des Marktnexus grundsätzlich keinerlei gemeinschaftliche Beziehungen zwischen den Menschen.
Es dürfte auf wenig Kritik stoßen, wenn man den Markt sogar als einen wesentlichen Faktor bei der Zerstörung gemeinschaftlicher Strukturen bezeichnet. Traditionsverlust, Landflucht, Höfe- und Dörfersterben sowie Massenvereinsamung in Großstädten haben selbstverständlich etwas damit zu tun, daß junge Menschen ihre Marktchancen nutzen wollen, um ihr Einkommen und ihren Lebensstil möglichst den modernen Vorstellungen und Standards anzupassen. Wenn man in Hamburg das Vierfache verdient, wird man nicht im Erzgebirge bleiben, um dort die Tradition des Jodelns aufrechtzuerhalten.
Nun kann ich jeden verstehen, der die Vergesellschaftung und Vermarktlichung der natürlich gewachsenen Gemeinschaften bedauert. Von der katastrophalen Bedeutung der dazugehörigen individualistischen Einstellung für den Umgang mit der Masseneinwanderung sei hier außerdem ganz geschwiegen. „Solidarischer Patriotismus“ ist hingegen ein wohlklingendes Schlagwort, hinter dem man sich gerne versammeln würde, um die Gemeinschaftlichkeit wiederzubeleben.
Es ist jedoch ein fataler Fehler, die Lösung der genannten Probleme und die Wiederbelebung der Gemeinschaft ausgerechnet vom Staat zu erwarten. Wie ich in meinem Artikel in Sezession 92 zu zeigen versucht habe, ist der moderne Staat kein Gegenmodell zum freien Markt und der individualistischen Gesellschaft. Ganz im Gegenteil, er ist deren institutionelle Voraussetzung.
Florian Sander sieht das in seiner ablehnenden Replik auf meinen Artikel (ebenfalls in sezession 92) völlig anders. Seiner Meinung nach braucht die Gemeinschaft den Sozialstaat. Es wäre im Sinne einer fruchtbaren Diskussion allerdings zu begrüßen gewesen, wenn Herr Sander seinen Beitrag weniger polemisch gestaltet und stattdessen näher ausgeführt hätte, wie genau der Staat bzw. der Sozialstaat denn mit dem „Gemeinschaftsgedanken verquickt“ ist.
Es würde mich ganz im Ernst brennend interessieren, wie er sich diese Verquickung vorstellt, aber leider geht er nicht näher auf diesen Gedanken ein. Daß sich in einem intakten, funktionierenden Sozialstaat „der Einzelne in seinen egoistischen Interessen mitunter zugunsten der Stärke, der Gesundheit und der übergeordneten Interessen der Solidargemeinschaft und damit seiner Mitbürger zurück[stellt]“, ist nämlich nichts weiter als eine wohlklingende, hohle Phrase.
Wer Solidarität an den Sozialstaat auslagert, schafft damit an bürokratisch nachvollziehbare Kriterien geknüpfte Rechtsansprüche der einzelnen Bürger auf Geldleistungen, die auf dem Markt nach Belieben ausgegeben werden können. Wie das die Rolle der Familien, Gemeinden, Kommunen oder gar der Nation stärken soll, ist mir ein Rätsel. Wer einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Unterstützung hat, ist nicht mehr auf Solidarität angewiesen. An Stelle von persönlichen Beziehungen zwischen Familien- und Gemeindemitgliedern treten anonyme und kalte Beziehungen zwischen dem Staat einerseits und dem einzelnen Transferempfänger andererseits.
Hier wird wieder einmal deutlich, was Johannes Poensgen vor kurzem so richtig auf SiN bemerkt hat: Theorie ist Mangelware. Man läßt sich lieber vom Wort „sozial“ täuschen, weil es so schön kuschelig warm klingt, fast wie ein Willkommensteddy am Münchener Hauptbahnhof. Nein, auch der Sozialstaat ist ein Teil des kältesten aller kalten Ungeheuer. Man denke an die Lüge, die laut Nietzsche aus dem Munde des Staates kriecht: „Ich, der Staat, bin das Volk.“ Lüge ist’s. Während der Markt die Gemeinschaften von innen heraus zersetzt, entreißt ihnen der Sozialstaat von außen her ihren Sinn und ihre Funktion.
Nun möchte ich keinesfalls ausschließen, daß man unter Sozialpolitik auch etwas anderes verstehen kann als den Zentralstaat, der in Form von Sozialgesetzen und Sozialbürokratie den einzelnen Bürgern als kalter Koloß gegenübertritt. Vielleicht kann man unter Sozialpolitik auch etwas verstehen, dessen Organe nicht die staatlichen Bürokratien sind, sondern die sogenannten Zwischeninstanzen, also die Gemeinschaftenund Sorgeverbände, die zwischen dem Staat und dem Bürger liegen.
Um ein Beispiel dafür zu nennen, was hiermit gemeint ist: Die Familie als Gemeinschaft ernst zu nehmen, kann nicht heißen, Ansprüche einzelner Familienmitglieder (Väter, Mütter, Kinder) gegenüber dem Staat zu begründen. Dadurch wird der einzelne ja gerade aus der Solidargemeinschaft Familie herausgerissen. Vielmehr müßte die Familie, wenn sie eine stabile soziale Funktion ausüben soll, als Ganzes, als Einheit adressiert werden. Ein letztes Überbleibsel dieser Politik kann (noch) im Ehegattensplitting gesehen werden. Im Rahmen des Splittings wird das Paar steuerrechtlich als Einheit behandelt, nicht als zwei Einzelpersonen. Nicht die Familienmitglieder werden besteuert, sondern die Familie. Die Gemeinschaft Familie wird hier im Gesetz als Gemeinschaft anerkannt.
Eine Sozialpolitik, welche die Zusammengehörigkeit und die Solidarität zwischen den Deutschen fördern will, muß die natürlich gewachsenen Gemeinschaften als solche anerkennen und ihnen ihre Funktion belassen bzw. sie ihnen zurückgeben. Immerhin ein erster, zögerlicher Schritt in diese Richtung würde darin bestehen, das Subsidiaritätsprinzip wieder ernst zu nehmen und die Verantwortung für sozialen Ausgleich wieder so nah wie möglich an den Bürger heranzutragen, d.h. sie insbesondere in die Kommunen zu verlagern.
Nun mag ich gar nicht bestreiten, daß das ein schwieriger und dorniger Weg wäre. Stattdessen jedoch, wie Herr Sander das tut, dem Sozialstaat in der heutigen Form den Auftrag zu erteilen, die Solidargemeinschaft zu stärken, mag kurzfristig zu Wahlerfolgen führen (gerade auch, wenn man es schaffen sollte, Staatsbürger deutlich besser zu behandeln als Ausländer), es ist langfristig jedoch ein Irrweg. Diese Politik wird genau das Gegenteil von dem bewirken, was sich ihre Befürworter erhoffen. Sie wird die deutsche Solidargemeinschaft weiterzerstören, die der Ausländer aber stärken.
zeitschnur
Die Polarisierung zwischen "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" habe ich noch nie so richtig verstanden. Je nachdem, was gerade wirksam ist und seine Schatten auf den Menschen wirft, wird er das eine oder andere idealisieren. Bedrückende Enge können beide Modelle hervorrufen. Spotartig tritt mir vor Augen, wie mörderisch gerade auch der Gemeinschaftsbezug sein kann: kein ethnokultureller Italiener, der eine Gaststätte eröffnen will, der nicht bald die Mafia, die "cosa nostra" auf dem Hals hat einfach nur deshalb, weil er in eine "Gemeinschaft" hineingeboren ist, die erstickende Ansprüche an ihn hat, dafür aber Schutz garantiert. Prima - genau darauf waren wir einmal stolz, uns aus solchen Zusammenhängen befreit zu haben. Ich weiß nicht, was besser ist - vereinzelte, einsame Singles in Miniappartments oder in Klöster abgeschobene überzählige Kinder, wo sie in einer ebenfalls künstlichen "Gesellschaft", die sich als "Gemeinschaft" tarnte (oder ist es umgekehrt?), auf Unterwerfung getrimmt wurden oder als ewige alte Jungfer oder eine Art Dorfdepp Hilfsarbeiten verrichten durften.
Ich denke, die nicht-libertäre Rechte verkennt vollkommen, dass das gesamte Abendland im Grunde auf der christlichen Vorstellung des "Hinaus-Gerufenwerdens" ("conversio"), des "Hinausgeführtwerdens" (Exodus), der Sammlung der Freien außerhalb der Gemeinschaften dieses Äons ("ecclesia") beruht. Ein Abendland ohne das gibt es zumindest nicht "ethnokulturell".
Unser Problem ist v.a., dass wir in den letzten 200 Jahren gründlich verlernt haben, diese Leitvorstellung immer noch fruchtbar zu machen.
Eine Rettung Europas kann aber nur seitens solcher Christen geschehen. Andernfalls ist es eben nicht das kulturelle Europa, das wir kannten.
In einem solchen Gebilde flossen spätestens seit Benedikt von Nursia immer beide Aspekte ein: "Gemeinschaft" UND noch viel mehr "Gesellschaft". Anders als fast alle Kulturen bot das Abendland dem einzelnen einen Lebensentwurf jenseits der Gemeinschaften, in die man hineingeboren wird und entwickelte in dieser Dichotomie enorme geistige und ökonomische Kräfte.