Wie das wimmelt, in diesem Bienenstock oder Ameisenhaufen »Feuilleton«:
Da wird einer »seit Jahren gehandelt« als Anwärter auf den Literaturnobelpreis, und kaum hat er ihn, soll »dieser größte Sieg seine größte Niederlage« sein (heißt es im Cicero).
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Vor dem Einsatz als Offizier der Bundeswehr in Sarajewo gründliche Lektüre der Winterlichen Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina und des Sommerlichen Nachtrags aus der Feder Peter Handkes. Auf Grund dessen und nur deshalb war ich mit anderen Augen in der Republika Srpska unterwegs, um Bestandsaufnahme zu machen und »mit allen Seiten zu sprechen«, so kurz nach diesem furchtbaren Krieg.
Die Lektüre war ja erst nach anfänglichem Zögern (Gerechtigkeit für »Serbien«? Ausgerechnet!) gelungen, dann aber zur schlagähnlichen literarischen Aufklärung darüber geworden, daß da tatsächlich wieder ein ganzes Volk zur düsteren Projektionsfläche hinter den moralisch glänzenden Waffentaten der Guten gemacht worden war!
Handke: Seite für Seite dagegen, Zeile für Zeile ein suggestives Zerschlagen einer ungerechten Großerzählung, einer eindeutigen Deutung, und so war mir, gottlob, vor den Einsatzfahrten bis nach Srbinje, Miljevina oder Kalinovik hinein »der Feind« abhanden gekommen.
Dann: Handkes Bericht Unter Tränen fragend (2000), in dem er Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg zusammenfaßte: kein literarischer Schock mehr, sondern erwartbar aus dieser Feder. Handke hatte seine beiden »Durchquerungen« im März und im April 1999 unternommen, also in jenem Frühjahr, als die NATO Serbien bereits bombardierte.
Das »westliche Verteidigungsbündnis« war zu einem »westlichen Angriffsbündnis« geworden, einem moralisch aufgeladenen Akteur, der »Luftschläge« austeilte, ohne daß jemand zurückschlagen konnte. Uns Deutschen bescherte die Rechtfertigungsrede des Außenministers Joschka Fischer eine Debatte über die Frage, ob im Namen der »Lehren aus dem Holocaust« ein Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung erlaubt sei.
Wie so oft in Deutschland ist diese Debatte nicht sachlich, sondern ihrerseits moralisch geführt worden, also enggeführt, aufgeladen, eingesperrt in einen Gesinnungskorridor. Diejenigen, die das abgrundnahe Argument anführten, man könne mit der zivilreligiösen Parole »Nie wieder Holocaust« sehr profane Ziele verfolgen, wurden »niedergeschrien« von denen, die einen geringeren Kriegsgrund als den, einen dräuenden Holocaust zu verhindern, nicht in Betracht ziehen wollten.
Und so sind die Fragen von damals bis heute nicht beantwortet: Durften wir Deutsche uns an einem Angriffskrieg beteiligen, weil wir meinten, damit einen Völkermord im Kosovo verhindern zu helfen? Durften wir von nun an für moralisch aufgeladene und damit der Diskussion entzogene Ziele lügen?
Durften wir als diejenigen, die »aus der Geschichte gelernt haben«, die Angelegenheit anderer auch kriegerisch zu unserer Sache machen? War dieses Intervenieren überhaupt »unsere« Sache, oder anders: Waren wir überhaupt souverän zu entscheiden, woran wir uns als Deutsche beteiligen wollten und woran nicht oder sind wir als Nation nur die Erfüllungsgehilfen einer Weltmacht, die das internationale Recht nicht interessiert, wenn sie souverän entscheidet, wo sie Krieg führen will und wo nicht?
Warum beteiligten und beteiligen wir Deutsche uns an solchen US-geführten Kriegen, die (um mit Carl Schmitt zu sprechen) eigentlich keine Kriege mehr sind, sondern Polizeiaktionen, Erziehungsaktionen gegen »schlechte« Nationen, in denen »schlechte« Menschen leben, die »gute« Menschen sein könnten, wären sie nicht in ihrer »schlechten« Nation eingesperrt?
Warum beteiligen wir Deutsche uns nach all unserer historischen Erfahrung an weltanschaulichen Kriegen? Wollen wir – auf Kosten neuer, aktuellerer Schuldiger – endlich auf der Seite der Guten kämpfen?
Das ist wohl der Kern: Wollen wir den uns anerzogenen Selbsthaß dadurch in den Griff bekommen, daß wir uns den neuen, den nächsten Feind als den hassenswerten Feind einreden lassen und ihn von da an aus ganzem Herzen und sehr selbstbewußt mithassen?
Müssen wir uns, die wir so eindeutig auf die Seite des ganz Bösen gestellt worden sind, nun eindeutig auf die Seite des völkergemeinschaftlichen ganz Guten schlagen, um in uns und sichtbar für die Staatengemeinschaft eine weitere Form (wieviele noch?) der Wiedergutmachung zu leisten? Oder sollten mit solchen Eindeutigkeiten nicht gerade wir besonders vorsichtig sein?
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Handke ist der prominenteste Autor des Auslands, der sich gegen die einhellige Verdammung der Serben als den eigentlichen Kriegstreibern, Kriegsverbrechern und Bösen des jugoslawischen Bürgerkriegs wandte. Dieses Nicht-Mitmachen beschreibt Handke zunächst als eine Art Instinkt:
Ein Teil von ihm (Handke beschreibt gern und stets sein intellektuelles Innenleben), ein Teil von ihm wollte »diesem Krieg und dieser Kriegsberichterstattung nicht trauen. Allzuschnell nämlich waren für die sogenannte Weltöffentlichkeit auch in diesem Krieg die Rollen des Angreifers und des Angegriffenen, der reinen Opfer und der nackten Bösewichte, festgelegt und fixgeschrieben worden.«
An einer anderen Stelle schreibt Handke von einem »unverwüstlichen und geradezu beneidenswert selbstbewußten Haß gegen alles Serbische«, den er bei Korrespondenten großer Zeitungen in Paris und anderswo staunend bemerkt habe. Und er leitet daraus einen Mechanismus ab, der sich – wir Deutsche wissen das! – beim Blick auf ein Volk oder eine politische Gruppe festfressen kann wie die Kolben in einem Auto:
Es sei beim Blick auf die Serben zu einer »Voraus-Schuldzuweisung« gekommen, und solche auf eine seltsame Weise »festgelegten« oder (Handke präzisiert dieses Wort) »starrgestellten« Zuschreibungen führten stets dazu, daß es zu »vielfach vorgestanzten Guck-Löchern auf das Land« komme, bis in die Bildsprache und Bildinterpretation hinein.
Wir wissen das, wir kennen das. Wir wissen, wie dieses Festlegen und Starrstellen der Deutschen nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg betrieben wurde: die Deutschen – starrgestellt auf ihre Rolle als Völkermörder, Kriegstreiber, Rassisten, Antisemiten, Wegschauer, Duckmäuser, als widerlegte Nation, als im Kern böses Volk, als Volk, das von sich selbst, also von seinen bösen, gefährlichen, stets virulenten Charaktereigenschaften befreit werden müsse, die Deutschen als Volk, das umerzogen werden müsse, sprich: seine Identität wenigstens in Teilen aufzugeben und die Neugestaltung dieser Identität fremden Kräften zu überlassen habe.
Zu dieser Identität gehört die Gründungserzählung, also: der Gründungsmythos Auschwitz, und wie wir Deutschen nach dem Krieg (seltsamerweise mit voller Wucht erst sehr weit nach dem Krieg) auf die Rolle der Schuldigen und Grausamen festgelegt worden sind, wurden »die Serben« seit 1992 und bis in die Kriegsverbrecherprozesse von Den Haag hinein auf die Rolle der Schuldigen und Grausamen der jugoslawischen Erbfolgekriege festgelegt, wenn auch in anderer Dimension als »die Deutschen«.
Der Deutschen Auschwitz ist den Serben Srebrenica, die nationalsozialistischen KZs sind die serbischen Lager in der Republika Srpska, und daraus wurde abgeleitet, daß – so leid es uns tue und so schwer es uns falle – die deutsche Beteiligung am Angriffskrieg auf Serbien unumgänglich sei: eine (»Hände an Stacheldraht«, »Auschwitz«) historische Pflicht der Guten gegen das Böse.
Die Guten gegen die Bösen, das heißt auch immer: die Schönen gegen die Häßlichen, die Ehrlichen gegen die Lügner, die Edlen gegen die Verschlagenen. Mit häßlichen, bösen, grausamen Lügnern aber kann man keinen Frieden machen: Man muß sie entweder ausrotten oder umerziehen, also: zu anderen Menschen machen.
Daß aufgrund einer solchen Haltung der Gegner kein Gegner mehr ist, sondern ein Verbrecher, zeigt uns die Kriegspropaganda – und ich bin mir sicher, daß diese Kriminalisierung einer der Gründe für Handke war, sich ganz auf die Seite Serbiens, nein besser: der Serben zu werfen – gegen die Rhetorik der Eindeutigkeit.
Es ist eine solche jede Differenzierung und jede politische Vernunft ausblendende Rhetorik in Deutschland nicht nur Rhetorik, sondern tatsächlich tiefe Überzeugung, oder besser: eine der verhängnisvollen Spielarten der von Sloterdijk so bezeichneten »zynischen Vernunft«:
In Deutschland will man gerade in solch moralisch aufgeladenen Fragen belogen, und das heißt: eindeutig eingenordet werden. Dahinter stecken Entlastungsvorgänge, vor allem für das intellektuelle Milieu mit seinen zwei Gesichtern: einem pastoralen Gesicht, das dem Ausdruck nach tatsächlich schwer an der eigenen abstammungsbedingten Teilhabe am Tätervolk leidet und zugleich von der Existenz eines Tätergens überzeugt ist; zum anderen einem zynischen, berechnenden Gesicht, das weiß, wie man aus historischen Schulderzählungen in der Gegenwart politisches und finanzielles Kapital schlagen kann – daß man die Vergangenheit also bewirtschaften kann, und zwar wie! Man kann in einem Land wie Deutschland sozusagen die Preise diktieren!
Entscheidend ist, daß über dem entlastenden Belogen-werden-wollen der realistische Blick auf den Menschen und seine historischen Lagen verlorengeht, ersetzt wird durch passende Behauptungen, und dies ist der Punkt, an dem wir in Deutschland den in seiner Suche nach der Gerechtigkeit für Serbien ungerechten Handke zu lesen beginnen müssen, und zwar existentiell interessiert:
Wenn Außenminister Joschka Fischer Auschwitz zum Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland erklärte und mit diesem Gründungsmythos die Bombardierung Belgrads und den Einmarsch im Kosovo unter deutscher Beteiligung rechtfertigte, dürfen wir in Deutschland die Auseinandersetzung um ein differenzierteres Geschichtsbild nicht scheuen.
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Nun also: Literaturnobelpreis für Handke. Sprechen wir aber nicht über sein Werk, sondern über diejenigen, die es nach der Bekanntgabe der Ehrung entlang von Maßstäben neu bewerteten, die außerhalb von Werken liegen. Dies ist, das vorweg, legitim, und wir tun es auch: Als die konservative Jüdin Salcia Landmann aus der Schweiz für eine von mir verantwortete Literaturreihe in der Jungen Freiheit Mitte der Neunziger Jahre Werke von Ilja Ehrenburg vorstellen wollte, lehnte ich ab, weil ich seine Mord- und Schändungsaufrufe kannte, mit der er die Rote Armee gegen die Deutschen in Ostpreußen zu treiben half. Daneben war mir sein restliches, womöglich literarisch grandioses Werk völlig egal.
Und Hemingway? Suchte krasse Stoffe, verwechselte den Krieg mit Diskobesuchen und brachte Wehrlose um (oder brüstete sich zumindest damit). Steht ungelesen neben den Zeile für Zeile durchgearbeiteten Werken Jüngers.
Gerechtigkeit für Handke (I): Auf spiegel.de durften am 20. Oktober die beiden Schriftsteller Tijan Sila (als Jugendlicher aus dem belagerten Sarajewo geflohen) und Arno Frank (Handke-Leser, fast 50) über die Auswirkung der »existentiellen Kränkung« sprechen, die Sila durch die Verleihung des Nobelpreises an den »Serbenfreund« erlitt. Wir bewegen uns auf folgendem Niveau:
Frank fragt Sila: »Stößt es Dich ab, wenn ich weiterhin Handke lesen möchte?« Sila antwortet großzügig kritisch: »Nein, das ist okay. Was ich aber erwarten würde, das wäre eine Differenzierung.« Darin versucht sich Frank ein paar Dialogteile später, indem er angibt, für ihn seien Handkes Notate und Tagebucheinträge »groß«.
Und warum? Frank:
Nenn’s meinetwegen auch Innerlichkeit. Ich gerate da ins Stammeln. Mich hat es berührt auf eine Weise, wie es kaum eine andere Literatur jemals getan hat. Wenn er etwa beschreibt, dass er das Masturbieren abbricht, weil ihm ›die Sehnsucht‹ dazwischenkommt.
Sila ist werkfest:
Das ist aus Der kurze Brief zum langen Abschied, das habe ich erkannt!
Frank winkt den Alltag heran:
Vielleicht, darüber schreibt er aber häufiger. Vermutlich ist er einfach ein Wichser.
Jetzt sind wir im Keller angelangt, und Sila bleibt gleich dort, spult aber nochmal zurück an den Anfang des Gesprächs, stellt die Grundsatzfrage und legt die Bandbreite fest:
Wieso gerade Handke? Was ist es an ihm, das Leute in die Bereitschaft versetzt, dieses krasse Nebeneinander von Werk und Scheiße auszuhalten?
Wenig später blüht er in diesem krassen Nebeneinander von Frage und Antwort geradezu auf:
Sein Frühwerk aber ist groß. Irgendwann gab es einen Riss, und das hat auch mit Serbien zu tun.
Nach dieser Biographie in zwei Sätzen stehen die beiden minder bedeutenden Autoren noch ein bißchen am geistigen Tresen herum. Sila bitter:
Ich will keinen Boykott. Was mich ärgert, das ist der Preis, diese Anerkennung. Sie signalisiert mir als Überlebendem: Was du aushältst, ist eigentlich wertlos.
Frank tröstend:
Ich hoffe noch immer, dass er den Preis nicht annimmt.
Gerechtigkeit für Handke (II): Auf perlentaucher.de erschien am 7. November ein Essay des bosnischen Germanisten Vahidin Preljević, Jahrgang 1975. Preljević lehrt in Sarajewo und nimmt in seinem Text »Handkes Serbien« den 8. April unter die Lupe – den Tag, an dem Handke in Belgrad »gleich drei Ehrungen entgegennehmen muss«: Aus der Hand des serbischen Präsidenten Tomislav Nikolić empfängt Handke die Goldene Verdienstmedaille für das, was er aufgrund seines Einsatzes für die serbische Sache an Anfeindungen undsoweiter erlitten habe.
Im Stadtparlament erhält Handke dann den Momo-Kapor-Preis (benannt nach einem Maler), und am Abend wird er noch in die Akademie der Republika Srpska berufen.
Vahidin Preljević listet nun zu jedem dieser drei Termine jene Kontaktschulden auf, von denen er meint, daß Handke sie besser nicht hätte anhäufen sollen: Auf einem Foto, das Handke neben Präsident Nikolić zeigt, analysiert Preljević den Bücherschrank im Hintergrund und findet die Werke eines Autors namens Šešelj, der von einem Großserbien träumte und die Kroaten für katholisch verirrte Serben hielt.
Und unter Laudatoren und Jury-Mitgliedern des Tages waren, laut Preljević, auch Verfasser serbisch-nationalistischer Pamphlete, und für die Republika Srpska sprachen sogar Aleksa Buha (ehemaliger Außenminister Radovan Karadžićs) und ein Dichter namens Gojko Đogo, von dem es den Mittschnitt eines tatsächlich sehr krassen Telephongesprächs gibt, das er mit eben jenem Karadžić führte – dem Belagerer von Sarajewo und politisch Verantwortlichen für den tausendfachen Mord in Srebrenica und Goražde an bosnischen Männern.
Gut: Die Sache mit dem Bücherschrank ist albern, aber diese enge Verschränkung einer literarischen Suche nach der Gerechtigkeit für ein zum Tätervolk erklärtes Volk (wie Handke sie unternahm) und der Annahme von Ehrungen aus der Hand und im Namen von Männern, die tatsächlich Täter oder Betreiber waren (solche also, die sich an der schmutzigsten Seite des Krieges beteiligten – als Anstifter, Anführer, Vertuscher): Diese Verschränkung von Werk und Politik war ein ganz unliterarischer Schritt, und es ist wichtig, daß Vahidin Preljević in seiner detaillierten Analyse auf dieses stets und im Fall Handkes eben auch sehr problematische Verhältnis hinweist.
Gerechtigkeit für Handke (III): Die stellte der Kolumnist Thomas Fischer am 24. Oktober wiederum im Spiegel her, und zwar indem er konstatierte, daß die Moral eine prächtige Sache sei, vor allem hierzulande:
Es gibt kein Volk auf der weiten Welt, das so oft, so gern und so überzeugt auf der jeweils richtigen Seite steht wie das der Deutschen.
Fischer, Jahrgang 1953, war Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, und mit seinem Text zieht er die nun plötzlich lautstark über Handke oder die Preisverleihung Empörten (also diejenigen, die Ähnliches oder Vergleichbares nie und nimmer gemacht hätten oder machen würden) vom hohen Roß ihrer nachgereichten Moral herunter. Fischers eigentlich unglaubliche Hiebe ausführlich dokumentiert:
›Sollte jemand, der mit Kriegsverbrechern sympathisiert, einen Nobelpreis bekommen?‹, fragt eine Kolumnistin. Sie meint damit natürlich nicht das Verhältnis zwischen dem Preisträger Kipling und dem Brigadegeneral Reginald Dyer, auch nicht das zwischen dem Preisträger Churchill und dem Marshal of the Royal Airforce Arthur Harris.
Beide gehen uns nichts an. Gemeint ist die Sympathie Handkes für Slobodan Milošević. Das ist natürlich eine gute Frage, vor allem in einem Land, in dem schon so mancher Künstler auf 50 langen Jahren goldener Amnesie entschwebt ist.
Andererseits könnte man einwenden, daß man sich vielleicht zunächst um die Preise der Kriegsverbrecher als um die Preise derjenigen kümmern sollte, bei denen man vom Verbrechen der Sympathie ausgehen muss. Die kleine Differenzierung zwischen Kriegsverbrechern und solchen, die (mit ihnen) ›sympathisieren‹, sollte uns moralisch Einwandfreien ein kurzes Innehalten wert sein.
Kennen wir in unserer Umgebung Personen, die einmal mit Kriegs- oder sonstigen Verbrechern, Bürgerkriegsanführern, Massakerverantwortlichen sympathisiert haben? Gibt es aktuelle oder verflossene Stalin‑, Mao‑, Pol Pot‑, Rommel‑, Ludendorff-Sympathien im erweiterten Familienkreis oder vielleicht im eigenen lieben Tagebuch?
Das Sympathisieren ist, wie man im Laufe der Zeit lernt und mit 66 einfach besser weiß als mit 36, eine gefährliche Sache, und man braucht eine Menge klebrige Moral, um sich aus allen Sympathiesümpfen des Lebens nachträglich ans Licht zu ziehen.
Am leichtesten geht das, wenn man sich von Anfang an mit den Sachproblemen der Welt nicht allzu sehr befaßt und sich gleich aufs Wesentliche konzentriert, also auf eine lösungsmittelfreie Moral. Keine Angst, ich will natürlich nicht das furchtbare Gedankenverbrechen des ›Relativierens‹ begehen oder Sie dazu anstiften!
Ich möchte nur einmal vorsichtig daran erinnern, dass zwischen einem Verbrecher und einem Sympathisanten in der wirklichen Welt ein gewisser Unterschied besteht.
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Bleibt, eine kleine Geschichte zu erzählen, eine, die nicht in jenes Buch aufgenommen wurde, das ich zusammen mit einem anderen Offizier über unseren Bosnieneinsatz geschrieben habe und das unsere »Karrieren« letztlich die Köpfe kostete.
Das, was ich jetzt also zum ersten Mal aufschreibe, habe ich ein paar Mal schon erzählt, wenn das Gespräch auf die Einsatzfahrten durch Bosnien kam, und diese kleine Geschichte, die sich in Srbinje zutrug (das vor dem Krieg Foča hieß und seit 2004 wieder so heißt), ist eigentlich eine ulkige Anekdote – wenn man eine Ungeheuerlichkeit nicht miterzählt, die mir zum Zeitpunkt des Erlebnisses gar nicht bewußt war, sondern erst Monate später, als ich eins und eins zusammenzählte.
Also: Wir waren mit zwei Fahrzeugen nach Srbinje / Foča gefahren, um zu sehen, wie es um die bosnisch-serbischen Flüchtlinge stünde, die zu Tausenden aus den serbischen Vierteln Sarajewos, aber auch aus bosnisch oder kroatisch eroberten serbischen Dörfern in diese Stadt geflohen waren, aus der wiederum die muslimischen Bosniaken von serbischen Truppen vertrieben worden waren – in die Flucht getrieben, in Internierungslagern festgehalten, etliche gefoltert, viele vergewaltigt, manche umgebracht.
Ich betrat damals an einem klirrendkalten Tag Ende Januar 1998 mit meinem Fahrer und einer Dolmetscherin das Schulgebäude, um mich über die in solchen Regionen überlebenswichtige Minenkunde zu informieren, die mittels simpler Berichte, Comics, Opferphotos (Kinder mit zerfetzten Beinen oder Händen) sehr eindringlich unterrichtet wurde.
Der Klassenraum: überfüllt, vollgestopft mit Schülern aller Altersstufen, ohne Heizung, und so saßen alle in ihren Jacken und mit ihren Pudelmützen auf dem Kopf in den Bänken und auf den Fensterbrettern. Die Lehrerin: jung, blond, eingepackt wie auf einer winterlichen Reise.
Ich stellte mich vor, die Dolmetscherin übersetzte, die Lehrerin lachte auf und sagte ein paar Worte zu ihren Schülern. Ich ließ mir das übersetzen: Ich sei also zwar ein deutscher Offizier, aber früher sei meine Familie »eine von uns« gewesen, das höre man an meinem Namen.
Ich deutete auf meinen Fahrer und erklärte, daß also auch der Obergefreite Igicz »einer von uns« sei, und die Dolmetscherin übersetzte ins Gelächter der Kinder und vor allem das der Lehrerin hinein diesen glücklichen Umstand plötzlicher Nähe. Es klopfte, und als kurz danach mein Stabsunteroffizier Koschinski und der tatsächlich erst kurz nach der Wende spätausgesiedelte Feldwebel Sludjek vor der Klasse standen, gab es kein Halten mehr.
Der Lehrer aus dem Nebenraum, vom Lärm angelockt, trat ein, sah unsere deutschen Uniformen, wirkte zornig, lachte aber nach den Erläuterungsversuchen der Lehrerin mit, erst recht natürlich, als mein anderer Obergefreiter mit einer Meldung für mich ins Zimmer trat: Er, das Resultat einer Nacht, die ein schwarzer US-Soldat mit einer Deutschen verbracht hatte, war soldatisch sehr begabte und seinem Vater “wie aus dem Gesicht geschnitten”, trug aber den Mädchennamen seiner Mutter: Baumann.
Nun schüttelte der Lehrer, ein Mathematiker, wie ich erfuhr, den Kopf über diesen für ihn unfaßbaren Zustand der deutschen Armee, und dann lud er mich und seine Kollegin auf einen Schnaps in sein ebenfalls kaltes und außerdem halb abgedunkeltes Büro ein. Wir tranken im Stehen, gaben uns die Hand, und ich erhielt eine Einladung zu einem Stadtrundgang, die ich für einen zweiten Besuch im voraus annahm.
Denn natürlich war ich über die Kriegsgeschichte Srbinje / Fočas informiert, auch über die brutale Vertreibung der Moslems und die Zerstörung der Moscheen. Nur hatte es sich gezeigt, daß es nicht sinnvoll war, gleich beim ersten Treffen derlei Dinge anzusprechen.
Ich kam dann aber während meiner Einsatzzeit nie wieder nach Srbinje / Foča zurück. Es ergab sich nicht mehr, wir erhielten plötzlich andere Schwerpunkte zugewiesen. Aber kurz vor dem Ende meines Einsatzes wurde ich noch von zwei Offizieren einer »Fernmeldeeinheit« sehr präzise und ausführlich über meinen Schul-Besuch in Srbinje / Foča befragt.
Fünf Monate nach meinem Schnäpschen, am 15. Juni 1998, wurde der Mathematiklehrer Milorad Krnojelac von Soldaten des deutschen Kommandos Spezialkräfte (KSK) gestellt, gefangengenommen und nach Den Haag an das Kriegsverbrechertribunal überstellt.
Er hatte von 1992 bis 1993 ein Gefangenenlager in Srbinje / Foča geleitet. Unter seiner Aufsicht und Duldung waren hunderte Muslime gefoltert und vergewaltigt worden.
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Gerechtigkeit für Serbien, Gerechtigkeit für Deutschland, wie könnte das gehen? Leicht zu leben, leicht zu nehmen, leicht daherzuerzählen – damit muß man aufhören. Wie unstatthaft leicht es nämlich ist, wie unangemessen breitbeinig man plötzlich steht, wenn die Zuweisungen von Schuld und Unschuld, gut und böse so eindeutig ausfallen, so entlastend nahegelegt werden! Die eine Seite ist dann ganz und gar schwarz anpinselt, die andere weiß übertüncht.
So ist es zwar immer, weil es so am einfachsten ist. Aber so ist es nie richtig. Das hat Handke verstanden, und das hat ihn dazu gebracht, die Kehrseite der Medaille zu zeigen. Vermute ich. Hoffe ich
Lotta Vorbeck
Chapeau!
Ein grandioser Kubitschek-Artikel!
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Ohne Bewertung, ergänzend zum Kapitel VII:
https://www.icty.org/x/cases/krnojelac/cis/en/cis_krnojelac_en.pdf