Ende 1992 veröffentlichte der damalige Zeit-Redakteur Dieter E. Zimmer einen Artikel, in dem er über die »sinnlose Erweiterung des Kulturbegriffs« nachdachte. Der bezeichnende Titel dieses Artikels lautet: »Kultur ist alles. Alles ist Kultur«.
Zimmer führte diese Erweiterung auf den »antibürgerlichen« und »antielitären« Impuls zurück, der die 68er-Bewegung bestimmte. Hinter der Dehnung des Kulturbegriffes steckten indes nicht nur antibürgerliche Ressentiments, sondern auch handfeste finanzielle Interessen. Warum, so die Frage der »anarchofidelen Erst-Jugend um 1968« (Botho Strauß), sollten nur die etablierten Kulturinstitutionen (Opern, Theater, Museen etc.) »Staatsknete« erhalten und nicht auch die »Subkultur« unterhalb dessen, was in bürgerlichen Kreisen als Ausdruck von Kultur galt? »Subkultur«, das waren damals zum Beispiel die freie Theaterszene (auch »Off-Theater« genannt), Musikkapellen, die in Garagen oder stillgelegten Fabriken probten oder auch der »Malkindergarten in der alten Backstube«, wie
Zimmer schreibt.
Tatsächlich regnet seit 1968 mehr und mehr »Staatsknete« über derartigen Projekten ab, mit der Folge, daß der Kulturbegriff bis heute immer weiter gedehnt wurde. Was als Versuch begann, für die eigene Klientel Fördermittel einzuwerben, hat mittlerweile eine ganz eigene Dynamik angenommen. Im Zuge dieser Dehnung des Kulturbegriffes ist es nämlich zu einem dialektischen Umschlag gekommen; mittlerweile bedient sich der deutsche Staat der ganzen bunten Vielfalt der von ihm ausgebauten kulturellen Landschaft, um seine ganz eigenen Projekte zu fördern.
Kultur wird immer mehr Mittel zum Zweck, was zur Folge hat, daß künstlerisch-qualitative Maßstäbe kaum mehr eine Bedeutung haben. Vielmehr ist die transportierte Botschaft das Ziel: Kultur sei, so steht es auf den Netzseiten der Bundesregierung unter »Kultureller Bildung und Integration« (Stand März 2018) zu lesen, »ein Integrationsmotor, die Teilhabe an Kunst und Kultur wichtiger Baustein einer zeitgemäßen Einwanderungsgesellschaft«. »Kulturelle Integration« sei als »Kern- und Querschnittsaufgabe in der Organisationsstruktur« der vom Bund »geförderten Kultureinrichtungen zu verankern«.
Ein »Netzwerk Kulturelle Bildung und Integration« soll die »Diversitätsentwicklung in Kunst- und Kulturinstitutionen« vorantreiben.
Mit anderen Worten: Der Staat formatiert die Kultur und ihre Träger mit seinen Förderprogrammen nach seinen Interessen. Das wird in dem Kapitel »Kultur« des weithin ungelesenen, desungeachtet aber weiterhin gültigen »Nationalen Aktionsplans Integration« (Stand Dezember 2011), der »grand strategy« der Umformung Deutschlands in ein Eldorado der »Diversität«, auch unmißverständlich zum Ausdruck gebracht.
»Kunst und Kultur«, so steht hier zu lesen, »bieten besondere Chancen zur Integration«; die »interkulturelle Öffnung« sei eine »gesamtgesellschaftliche Aufgabe«. Die »Kulturpolitik der Länder« sei »bereits heute konsequent international ausgerichtet«. Die »Internationalisierung« sei ein wichtiger, »wenn auch nicht ausreichende[r] Baustein auch für die interkulturelle Öffnung der Kultur«. Mit welchem Nachdruck hier vorgegangen wird, zeigen Passagen wie die folgende: »Über Zielvereinbarungen mit freien Kultureinrichtungen wird die Öffnung gegenüber Migrantinnen und Migranten vorangetrieben …
Gegenüber den Leitungen von Landeskultureinrichtungen werden interkulturelle Öffnung und Diversity-Management eingefordert, bei der Umsetzung erhalten sie Unterstützung.« Um ein »gesellschaftliches Mainstreaming des Themas Diversity« herbeizuführen, »müssen Modellprojekte« auch »außerhalb ihrer Nischen Aufmerksamkeit und damit Relevanz erlangen«. Auch Kultureinrichtungen wie beispielsweise Museen sind gehalten, »die Geschichte von Migration und Integration darzustellen und einem breiten Publikum zugänglich zu machen«.