Über die Versöhnung abendländischer Schicksalsgemeinschaften

David Engels im Gespräch. Die Fragen stellte Erik Lehnert.

PDF der Druck­fas­sung aus Sezes­si­on 86/Oktober 2018

SEZESSION: Vor eini­gen Jah­ren wur­de ein Arti­kel des Alt­his­to­ri­kers Alex­an­der Demandt, der sich mit dem Unter­gang des Römi­schen Rei­ches und der Rol­le der Ein­wan­de­rung befaß­te, von der Zeit­schrift, die ihn bestellt hat­te, abge­lehnt. Der Grund: er kön­ne in der aktu­el­len poli­ti­schen Situa­ti­on miß­in­ter­pre­tiert wer­den. Waren da Speng­le­ria­ner am Wer­ke, die um ihr Herr­schafts­wis­sen fürch­te­ten, oder sind die Par­al­le­len so offen­sicht­lich, daß der Unter­gang der EU besie­gelt ist?

ENGELS: Haha­ha – eine aus­ge­zeich­ne­te Fra­ge. Ich fürch­te aller­dings, die Grün­de waren erheb­lich pro­sa­ischer: Die gegen­wär­ti­ge »Moralisierung«der Poli­tik, hin­ter wel­cher sich nichts ande­res als die zuneh­men­de Hege­mo­nie eines bestimm­ten Seg­ments poli­tisch kor­rek­ter Mei­nungs­äu­ße­rung ver­birgt, hat Demandts Ana­lo­gie als »wenig hilf­reich« emp­fun­den und, das »all­ge­mei­ne Inter­es­se« vor­schüt­zend, auf eine Ver­öf­fent­li­chung des übri­gens ja völ­lig unge­fähr­li­chen Tex­tes verzichtet.

Ich sel­ber ste­he, wie ich kürz­lich auch anläß­lich einer Bam­ber­ger Podi­ums­dis­kus­si­on mit dem von mir außer­or­dent­lich hoch­ge­schätz­ten Kol­le­gen Demandt ver­sucht habe zu erklä­ren, dem Ver­gleich zwi­schen Gegen­wart und Spät­an­ti­ke ein wenig skep­tisch gegen­über: Was uns in den nächs­ten zwan­zig oder drei­ßig Jah­ren zumin­dest in West­eu­ro­pa bevor­steht, ist nicht der mate­ri­el­le Unter­gang der abend­län­di­schen Kul­tur (der wird noch ein wenig län­ger auf sich war­ten las­sen), son­dern viel­mehr ihre Umwand­lung in einen auto­ri­tä­ren Staat ana­log zum römi­schen Prin­ci­pat als letz­tem Boll­werk vor der völ­li­gen inne­ren Auflösung.

SEZESSION: Sie haben in Ihrem Buch Auf dem Weg ins Impe­ri­um (die deut­sche Über­set­zung erschien 2014) noch ande­re Indi­ka­to­ren als die Ein­wan­de­rung unter­sucht, um die Par­al­le­len deut­lich zu machen, die zwi­schen spä­ter römi­sche Repu­blik und EU bestehen. Bei wel­chen hat sich bei Ihnen in den letz­ten Jah­ren der Ein­druck ver­stärkt, daß wir es hier mit Par­al­lel­ent­wick­lun­gen zu haben?

ENGELS: Nun, das Manu­skript zu mei­nem Buch war bereits 2011 abge­schlos­sen, nach­dem es in sei­nen Umris­sen schon seit 2009 kon­zi­piert war. In die­sen nahe­zu zehn Jah­ren hat sich in der Tat vie­les abge­spielt, das mich in dem Ein­druck bestärkt hat, lei­der auf der rich­ti­gen Fähr­te zu sein.

In mei­nem Buch habe ich nicht nur gezeigt, wie sehr sich Fak­to­ren wie Glo­ba­li­sie­rung, gesell­schaft­li­che Pola­ri­sie­rung, Ver­fall der tra­di­tio­nel­len Fami­lie, Mas­sen­ein­wan­de­rung, Nie­der­gang alter­erb­ter Reli­gi­ons­for­men, sin­ken­de Gebur­ten­ra­te, asym­me­tri­sche Krie­ge, Tech­no­kra­tie, Wirt­schafts­dik­ta­tur, Eli­ten­de­mo­kra­tie und vie­le ande­re zu einem toxi­schen Gebräu ver­mischt haben, das unse­re gegen­wär­ti­ge Gesell­schaft genau­so sehr wie die der spä­ten römi­schen Repu­blik an den Rand der Implo­si­on brin­gen wird.

Ich habe auch ange­kün­digt, daß die­se Ent­wick­lung über­all in Euro­pa, ana­log zur römi­schen Repu­blik, not­ge­drun­gen zum Auf­stieg soge­nann­ter »popu­lis­ti­scher« Par­tei­en füh­ren müs­se, daß mit einer Ver­här­tung fun­da­men­ta­lis­ti­scher Posi­tio­nen zu rech­nen sei, daß die Exe­ku­ti­ve und die Legis­la­ti­ve auf Kon­fron­ta­ti­ons­kurs gehen wür­den und die EU sel­ber sich zuneh­mend auto­ri­tär in ihrer Ver­fol­gung mul­ti­kul­tu­ra­lis­ti­scher und ultra­li­be­ra­ler Vor­stel­lun­gen gerie­ren wür­de, bis es schließ­lich zum vor­über­ge­hen­den Zusam­men­bruch käme.

Lei­der hat mir die Geschich­te in allen Punk­ten bis­her recht gege­ben, und auch der ange­kün­dig­te Tief­punkt euro­päi­scher Geschich­te wird, so fürch­te ich, nicht mehr all­zu lan­ge auf sich war­ten las­sen, bis sich dann aus den Scher­ben unse­rer immer noch im Nach­kriegs-Para­dig­ma ver­haf­te­ten Gesell­schaft ein schon jetzt über­all spür­ba­rer auto­ri­tä­rer Staat erhe­ben wird.

SEZESSION: Wür­den Sie Ihre Auf­fas­sun­gen als pes­si­mis­tisch bezeichnen?

ENGELS: Im Ver­gleich zu der Ide­al­ge­sell­schaft, die ich mir für mei­ne Fami­lie und mich erträu­men wür­de, ist die­se Aus­sicht sicher­lich sehr pes­si­mis­tisch. An den Erfah­run­gen der Welt­ge­schich­te gemes­sen, wür­de ich sie lei­der viel­mehr als äußerst rea­lis­tisch und prag­ma­tisch bezeichnen.

SEZESSION: Wenn wir Speng­lers Dik­tum, daß wir es bei der Anti­ke und dem Abend­land um voll­kom­men selb­stän­di­ge Kul­tu­ren han­delt, deren Ver­lauf nur gleich­ar­tig geglie­dert ist, ernst neh­men, beschäf­ti­gen wir uns dann bei der Anti­ke mit etwas Frem­den, mit dem wir so gut wie nichts zu tun haben?

ENGELS: Ja, das ist die not­wen­di­ge Kon­se­quenz aus Speng­lers Vor­stel­lung von der Welt­ge­schich­te als Gesamt­heit der Geschich­te der gro­ßen Hoch­kul­tu­ren, die sich inner­lich unab­hän­gig von­ein­an­der ent­fal­ten und par­al­le­le Ent­wick­lun­gen durchlaufen.

Ich wür­de mich sel­ber als einen der weni­gen gegen­wär­ti­gen Speng­le­ria­ner betrach­ten, wenn ich sei­ne Theo­rie auch in wesent­li­chen Tei­len zu modi­fi­zie­ren und ver­voll­stän­di­gen suche. In der Tat ist die anti­ke Geschich­te uns, genau betrach­tet, inner­lich über­aus fremd und nur durch die jahr­hun­der­te­lan­ge Gewohn­heit ihrer geis­ti­gen Rezep­ti­on und Adap­ti­on durch die abend­län­di­sche Welt­sicht vertraut.

Wer die radi­ka­le Kör­per­haf­tig­keit der anti­ken Kunst mit dem Abs­trak­ti­ons­drang der abend­län­di­schen ver­gleicht, wer das grie­chi­sche und römi­sche, in ganz kon­kre­ten, mate­ri­el­len Kate­go­rien ver­haf­te­te Staats­den­ken neben die tran­szen­den­te Staats­theo­rie des Wes­tens setzt, wer die Lebens­freu­dig­keit der Anti­ke mit der rigo­ro­sen mora­li­schen Selbst­zer­flei­schung des Abend­lands kon­fron­tiert, kann gar nicht anders, als den gewal­ti­gen Abgrund zu emp­fin­den, der uns von der grie­chisch-römi­schen Welt trennt, und der letzt­lich wohl eben­so schwer zu über­brü­cken ist wie der, wel­cher uns von der alt­chi­ne­si­schen oder ägyp­ti­schen Kul­tur scheidet.

SEZESSION: Ist nicht auch das Chris­ten­tum ein Phä­no­men, das bei­de mit­ein­an­der ver­bin­det und das Nietz­sche mein­te, wenn er die Geschich­te Euro­pas seit der römi­schen Kai­ser­zeit als einen durch­ge­hen­den »Sklavenaufstand« bezeichnete?

ENGELS: Selbst­ver­ständ­lich exis­tie­ren jen­seits jener in sich abge­schlos­se­nen Kul­tur­mo­na­den auch ande­re geschicht­li­che Phä­no­me­ne, die das Inter­es­se des His­to­ri­kers ver­die­nen. Grund­le­gen­de Kul­tur­tech­ni­ken wie das Rad, der Acker­bau, die Schrift oder die Spra­che kön­nen manch­mal von Kul­tur zu Kul­tur wei­ter­ge­ge­ben wer­den, eben­so wie reli­giö­se Vorstellungen.

Aller­dings gilt es zu beach­ten, daß jede Kul­tur die­sen »Erfah­rungs­schatz« ihrer eige­nen Welt­sicht ent­spre­chend rezi­piert und umwan­delt. Die Anti­ke kann­te etwa die Dampf­ma­schi­ne, hat sie aber bis auf eini­ge Spie­le­rei­en nie prak­tisch genutzt.

Die Chi­ne­sen waren dem Wes­ten in der Ent­wick­lung des Schieß­pul­vers lan­ge vor­aus, haben sie aber nie so weit per­fek­tio­niert wie die­ser. Die Ara­ber haben Pla­ton und Aris­to­te­les bis in die feins­ten Klei­nig­kei­ten kom­men­tiert und ana­ly­siert, aber – für uns Abend­län­der unver­ständ­li­cher­wei­se – die demo­kra­ti­sche Lebens­welt die­ser bei­den Phi­lo­so­phen voll­stän­dig ausgeblendet.

Spä­te­re Kul­tu­ren wer­den mit Sicher­heit mit ähn­li­chem Erstau­nen ana­lo­ge blin­de Fle­cken auf der kulturellen Netz­haut der gegen­wär­ti­gen abend­län­di­schen Kul­tur entdecken.Um auf Nietz­sche zurück­zu­kom­men: Die sich abzeich­nen­de kul­tu­rel­le Mise­re des 19. Jahr­hun­derts auf »das« Chris­ten­tum zurück­zu­füh­ren, war natür­lich eben­so naiv und pole­misch wie gegen­wär­ti­ge Ver­su­che, die kata­stro­pha­len Zustän­de des Nahen Ostens auf »den« Islam zurückzuführen.

Bereits das Chris­ten­tum des ers­ten Jahr­tau­sends, wie es sich heu­te noch ansatz­wei­se in der grie­chisch-ortho­do­xen Kir­che erhal­ten hat, mit dem Chris­ten­tum des Abend­lands, wie es sich seit den Otto­nen ent­wi­ckelt hat, zu ver­glei­chen, ist eine gro­be Naivität.

Und wer das mili­tan­te christ­li­che Rit­ter­ide­al der Kreuz­zugs­ge­ne­ra­tio­nen mit dem Renais­sance-Chris­ten­tum oder dem Chris­ten­tum des 19. Jahr­hun­derts ver­gleicht – von der betrüb­li­chen Schwund­stu­fe der nach­kon­zi­lia­ren Zeit ganz zu schwei­gen –, kann gar nicht anders, als sich der enor­men Diver­gen­zen bewußt zu wer­den, mit der die jewei­li­gen Lebens­pha­sen einer Kul­tur auch den Geist der jeweils bevor­zug­ten Reli­gi­on beeinflussen.

SEZESSION: Was spricht eigent­lich für die Zyklen­theo­rie? Der Lebens­lauf ist in jeder Hin­sicht davon geprägt und von daher sind zykli­sche Kos­mo­lo­gien natür­lich auch im Blick auf die Geschich­te nahe­lie­gend. Sie haben aber auch immer etwas Gewalt­sa­mes, fast steriles.

ENGELS: In der Tat, Zyklen­theo­rien sind gewalt­sam. Aber das ist lei­der, wie Sie ja zu Recht schon erwäh­nen, auch der Fall des Lebens­laufs jedes ein­zel­nen Men­schen: Die ein­zi­ge Sicher­heit, die Sie haben kön­nen, ist die Ihres Todes. Das ist zwar betrüb­lich und, legt man die heutzutage geläu­fi­gen Stan­dards an, denen zufol­ge jeder Mensch sich sozu­sa­gen in alle Ewig­keit hin los­ge­löst von jedem äuße­ren Ein­fluß frei ent­fal­ten soll, ideo­lo­gisch gera­de­zu »ver­werf­lich«.

Aber lei­der ist das Gesetz des Wer­dens und des Ver­ge­hens allen Sei­en­den die abso­lu­te Grundkonstante einer jeden leben­di­gen Erfah­rung, wie schon Pla­ton fest­stell­te – wie­so soll­te es also mit einer Kul­tur anders sein?

Übri­gens han­delt es sich bei der his­to­ri­schen Zyklen­theo­rie ja kei­nes­wegs um ein neu­ar­ti­ges, gewis­ser­ma­ßen zur all­ge­mei­nen wis­sen­schaft­li­chen Dis­po­si­ti­on ste­hen­des intel­lek­tu­el­les Kon­strukt, son­dern um eine grund­le­gen­de, all­ge­mein­mensch­li­che Geschichts­er­fah­rung, die man viel­leicht eben­so wie den Tod zeit­wei­se igno­rie­ren, aber nicht irgend­wie »wider­le­gen« kann: Ob es nun die Zyklen­theo­rie Pla­tons oder Sene­cas im Rah­men der anti­ken Geschichts­theo­rie ist, die Leh­re von der sym­me­tri­schen Abfol­ge der chi­ne­si­schen Dynas­tien bei Sima Qian, die Über­zeu­gung von der logi­schen Auf­ein­an­der­fol­ge der gro­ßen Welt­rei­che im Alten Ori­ent, die Gene­ra­tio­nen­leh­re Ibn Khal­duns im isla­mi­schen Den­ken – und die Lis­te lie­ße sich nahe­zu end­los fort­set­zen –: Über­all auf der Welt ist die Bedingt­heit und Begrenzt­heit des mensch­li­chen Lebens auch auf die­je­ni­ge grö­ße­rer gesell­schaft­li­cher Kör­per über­tra­gen worden.

Es ist nur ein typi­sches Sym­ptom für Spät­zei­ten, dies vor­über­ge­hend igno­rie­ren zu wol­len, ein wenig wie der Alters­starr­sinn tod­ge­weih­ter Per­so­nen, die das nahe Ende nicht wahr­ha­ben wol­len, bevor sie sich schließ­lich grol­lend in das Schick­sal fügen …

SEZESSION: Bei Speng­ler dient die Beschäf­ti­gung der Vor­her­sa­ge für das Schick­sal der eige­nen Kul­tur. Ande­re sehen in der Anti­ke die Maß­stä­be ange­legt, die bis in die jüngs­te Ver­gan­gen­heit Gül­tig­keit bean­sprucht haben und nicht sel­ten als Kor­rek­tiv her­an­ge­zo­gen wur­den, wenn es galt, gegen­wär­ti­gen Fehl­ent­wick­lun­gen ein posi­ti­ves Bild ent­ge­gen­zu­set­zen. Gilt das nur für die Griechen?

ENGELS: Alle mensch­li­chen Kul­tu­ren, so mei­ne eige­ne Über­zeu­gung in Anleh­nung an die­je­ni­ge Speng­lers, sind in radi­kals­ter Wei­se unterschiedlich und dadurch wie­der eben­so radi­kal gleich­wer­tig. Es gibt kein ein­zi­ges schlüs­si­ges Argu­ment jen­seits blo­ßer Ober­flä­chen­phä­no­me­ne, um eine wie auch immer gear­te­te »Über­le­gen­heit« der einen über die ande­re Kul­tur zu postulieren.

Sicher, die Abend­län­der haben als ers­te Rake­ten in den Welt­raum geschickt – aber sind die­se Rake­ten wirk­lich in irgend­ei­ner grund­sätz­li­chen Art und Wei­se »mehr« oder »bes­ser« als die Tie­fe der indi­schen Phi­lo­so­phie, die Schön­heit einer anti­ken Sta­tue oder die Har­mo­nie eines chi­ne­si­schen Gar­tens? Quan­ti­fi­zie­rung hat kei­ner­lei Sinn, wo es in ers­ter Linie um Qua­li­tät und Umset­zung grund­sätz­li­cher mensch­li­cher Erfah­run­gen in kon­kre­tes kul­tu­rel­les Schaf­fen geht.

Alles, was wir heu­te als ernst­zu­neh­men­de His­to­ri­ker ver­mö­gen, ist es, dem inne­ren Geist jener Kul­tu­ren nach­zu­spü­ren und, unge­ach­tet der gewal­ti­gen Abgrün­de, die uns von ihnen tren­nen, aus der Sum­me mög­li­cher Welt­sich­ten die best­mög­li­che Annä­he­rung an das Phä­no­men des Mensch­li­chen all­ge­mein und natür­lich auch und beson­ders des Gött­li­chen zu ent­wi­ckeln – ein Unter­fan­gen, das frei­lich alles ande­re als zeit­ge­mäß ist, gilt doch ech­te Geschichts­phi­lo­so­phie und wis­sen­schaft­li­che Kul­tur­mor­pho­lo­gie in Zei­ten angeb­li­chen »Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus« absur­der­wei­se als eine Art ver­pön­te Disziplin.

Die beson­de­re Beschäf­ti­gung mit der klas­si­schen Anti­ke ist zum einen für uns Euro­pä­er die nächst­lie­gen­de, da das Wis­sen um jene Kul­tur im Wes­ten bis vor kur­zem all­seits so hoch­ge­hal­ten wur­de, daß sich die grie­chisch-römi­sche Zivi­li­sa­ti­on als Ver­gleichs­maß­stab gera­de­zu auto­ma­tisch aufdrängt.

Das bedeu­tet aber frei­lich zum ande­ren nicht, daß es sich um die ein­zi­ge sinn­vol­le Ana­lo­gie han­delt. So lie­ße sich wohl behaup­ten, daß die staat­li­che Ent­wick­lung der klas­si­schen chi­ne­si­schen Kul­tur des ers­ten Jahr­tau­sends v.Chr. erheb­lich mehr der­je­ni­gen des Abend­lands gleicht als die der anti­ken Polis-Welt.

Und auch die theo­lo­gi­schen Debat­ten der byzan­ti­nisch-ara­bi­schen Welt dürf­ten den­je­ni­gen des christ­li­chen Den­kens erheb­lich näher sein als der anti­ke Polytheismus.

SEZESSION: Wir befin­den uns nach Speng­ler im zwei­ten Sta­di­um der Zivi­li­sa­ti­on, das er mit den Stich­wor­ten »Cäsa­ris­mus. Wach­sen­der Natu­ra­lis­mus der poli­ti­schen Form. Zer­fall der Volks­or­ga­nis­men in amor­phe Men­schen­mas­sen; deren Resorp­ti­on in ein Impe­ri­um von all­mäh­lich wie­der pri­mi­tiv-des­po­ti­schen Cha­rak­ter« cha­rak­te­ri­siert hat. Das Sta­di­um reicht in der Anti­ke von 100 v. bis 100 n.Chr. und betrifft im Abend­land die Jah­re 2000 bis 2200, mit­hin einen Zeit­raum, der noch fast voll­stän­dig vor uns liegt. Wie lie­ße sich der Cäsa­ris­mus heu­te umschreiben?

ENGELS: Der »Cäsa­ris­mus«, wie wir ihn bei Clo­di­us, Pom­pei­us und natür­lich Cae­sar ken­nen, ist ja nur die gewis­ser­ma­ßen »popu­lis­ti­sche« Vor­stu­fe zur end­gül­ti­gen Fes­ti­gung eines auto­ri­tä­ren Sys­tems, das neben ple­bis­zi­tä­rer Bestä­ti­gung auch und vor allem auf mili­tä­ri­scher Macht und der Schaf­fung einer neu­en Ver­wal­tungs­eli­te beruht, wie wir sie in Rom seit der Fes­ti­gung der Herr­schaft des Augus­tus kennen.

So weit sind wir heu­te noch nicht; denn par­al­le­li­sie­ren wir den lin­ken wie rech­ten Totalitarismus jeweils mit den Grac­chen und mit Sul­la, wür­den wir gegen­wär­tig »nur« in der Anfangs­pha­se des Cäsa­ris­mus leben. Das paßt eigent­lich ganz gut auf die Gegen­wart mit ihren aus den Trüm­mern des Sozia­lis­mus auf­ste­hen­den rechts- wie links­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en, so daß ein Staats­mann wie Trump etwa mit einem popu­lis­ti­schen Dem­ago­gen wie Clo­di­us und ein über­par­tei­li­cher »Mann der Stun­de« wie Macron ganz gut mit einem Poli­ti­ker wie Pom­pei­us ver­gleich­bar wären.

Dem­entspre­chend wür­den die nächs­ten zwei bis drei Jahr­zehn­te die Aus­ar­tung des poli­ti­schen Kamp­fes zwi­schen »Sys­tem­par­tei­en« und »Popu­lis­ten« sehen, wie in Rom ange­heizt durch bren­nen­de sozia­le Fra­gen wie Arbeits­lo­sig­keit, Migra­ti­on oder sozia­ler Pola­ri­sie­rung, bevor es dann zu einer grund­le­gen­den auto­ri­tä­ren Reform ana­log der­je­ni­gen des Augus­tus käme, in deren Fol­ge die EU, oder was von ihr übrig­blie­be, sich in ein poli­ti­sches Sys­tem ver­wan­deln wür­de, das dem der heu­ti­gen rus­si­schen Föde­ra­ti­on oder der chi­ne­si­schen Volks­re­pu­blik durch­aus ähneln könn­te, um sich dann in den nächs­ten 100 Jah­ren zuneh­mend in Rich­tung jenes »pri­mi­tiv-des­po­ti­schen Cha­rak­ters« wei­ter­zu­ent­wi­ckeln, den Speng­ler in Ana­lo­gie zur Umwand­lung des Prin­ci­pats in das Adop­tiv­kai­ser­tum und dann das Sol­da­ten­kai­ser­tum beschrie­ben hat.

SEZESSION: Speng­ler schrieb 1921: »Zu einem Goe­the wer­den wir Deutschen es nicht wie­der brin­gen, aber zu einem Cäsar.« Das hat er mit Blick auf die nächs­ten 200 bis 300 Jah­re geschrie­ben, so daß wir ihn viel­leicht nicht fest­na­geln wol­len. Aller­dings ist die Zwi­schen­kriegs­pha­se so deut­lich von eini­gen Cäsa­ren geprägt gewe­sen, daß die Atem­pau­se, die sich der Cäsa­ris­mus nach 1945 zumin­dest im Wes­ten noch ein­mal gegönnt hat, erklä­rungs­be­dürf­tig ist. Haben wir den Bür­ger­krieg schon hin­ter uns?

ENGELS: Ich fürch­te lei­der nicht. Auch in Rom sehen wir ja zwi­schen dem Tod Sul­las 78 v.Chr., den man wohl als »kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­tio­när« im Stil Mus­so­li­nis und Fran­cos bezeich­nen könn­te, und dem erneu­ten Auf­flam­men der Bür­ger­krie­ge 49 v.Chr., eine län­ge­re Atempause.

Bedenkt man zudem, daß das Zeit­al­ter des Kal­ten Krie­ges in vie­ler­lei Hin­sicht zahl­rei­che der sich schon vor dem Zwei­ten Welt­krieg abzeich­nen­den Pro­ble­me gewis­ser­ma­ßen künst­lich »ein­ge­fro­ren« und durch den immensen wirt­schaft­li­chen Nach­hol­be­darf der Nach­kriegs­zeit ent­schärft hat, schrumpft der tat­säch­li­che zeit­li­che Abstand zu 1945 um so mehr, und es ist nicht ohne Grund, daß die Gegen­wart jener der Wei­ma­rer Repu­blik so auf­fäl­lig ähnelt.

Das »dicke Ende« wird daher in Euro­pa erst noch kom­men, genau­so wie die Römer, die nach dem Tode Sul­las erhofft hat­ten, end­lich von den seit Jahr­zehn­ten schwä­ren­den Bür­ger­krie­gen befreit zu sein, nach gera­de ein­mal einer Gene­ra­ti­on sich auf eine zwei­te, 20jährige Zeit schlimms­ter Unru­hen gefaßt machen mußten.

Inwie­weit frei­lich aus die­sen kom­men­den Umbrü­chen tat­säch­lich ein »deut­scher« Cäsar her­vor­ge­hen wird, wie Speng­ler in der typisch natio­nal­kon­ser­va­ti­ven Gesin­nung der spä­ten deut­schen Kai­ser­zeit erhoff­te, bleibt abzu­war­ten. Daß vie­le Euro­pä­er schon heu­te den Ein­druck habe, die gegen­wär­ti­ge Kanz­le­rin zwän­ge dem Rest des Kon­ti­nents ihren Wil­len auf, und über­zeugt sind, ihr Bruch des Dub­lin-Abkom­mens und ihr Allein­gang in der Flücht­lings­fra­ge sei­en wesent­lich mit­ver­ant­wort­lich für die gegen­wär­ti­ge Kri­sen­zeit Euro­pas und para­do­xer­wei­se nicht nur den Brexit, son­dern auch den Auf­stieg des Popu­lis­mus, sprä­che jeden­falls sehr dafür, die Kla­gen um die gegen­wär­ti­ge Macht­po­si­ti­on der deut­schen Füh­rungs­schicht als heim­li­cher Hege­mon des Kon­ti­nents durch­aus ernst zu nehmen.

SEZESSION: Speng­ler sah einen »End­kampf zwi­schen Wirt­schaft und Poli­tik«: »Man ist der Geld­wirt­schaft müde bis zum Ekel. Man hofft auf eine Erlö­sung irgend­wo­her, auf einen ech­ten Ton von Ehre und Rit­ter­lich­keit, von inne­rem Adel, von Ent­sa­gung und Pflicht.« Das ist ein Phä­no­men, das einem immer wie­der begeg­net, ob bei der Reform­be­we­gung um 1900 oder auch heu­te in – aller­dings sehr klei­nen Tei­len – der Jugend. Die Suche gilt einem abso­lu­ten Wert, dem man sich unter­ord­nen möch­te. Sehen Sie sol­che Bewe­gun­gen, und wel­che Bedeu­tung haben sie für die Zukunft Europas?

ENGELS: Sie haben lei­der völ­lig damit recht, daß ein sol­ches Phä­no­men zur Zeit nur einen klei­nen Teil der Jugend berührt. Trotz­dem bin ich, wenn man so will, »opti­mis­tisch«. Die gegen­wär­ti­ge Fas­zi­na­ti­on nicht nur für Autoren wie Jor­dan Peter­son, son­dern auch für den Archais­mus Tol­ki­ens, den Pri­mi­ti­vis­mus von Game of Thro­nes, den Apo­ka­lyp­ti­zis­mus der ver­schie­dens­ten Zom­bie- und Fall-Out-Seri­en – all das zeigt nur die tie­fe Sehn­sucht nach der Rück­kehr einer »guten alten Zeit« mit fes­ten, soli­den Wer­ten wie Ehre, Treue, Stolz oder Fami­lie, auch und gera­de um den Preis einer völ­li­gen Zer­stö­rung tech­no­lo­gisch fort­ge­schrit­te­ner Zivilisation.

Wäh­rend ich die­sen ste­tig wach­sen­den Idea­lis­mus, die Suche nach einem Abso­lu­tum inmit­ten einer rela­ti­vis­ti­schen und ato­mi­sier­ten Weg­werf­ge­sell­schaft per­sön­lich völ­lig begrü­ße, kann ich lei­der nicht umhin, die­se Ten­denz aus der Per­spek­ti­ve ihres unwei­ger­li­chen Resul­tats zu analysieren.

Und da fin­den wir natür­lich die unmit­tel­ba­re Mate­ria­li­sie­rung die­ser Suche nach einem »Abso­lu­ten« in der Unter­wer­fung unter ein auto­ri­tä­res poli­ti­sches Sys­tem, das sicher­lich in vie­lem in wün­schens­wer­ter Wei­se an die alt­erprob­ten Wer­te unse­rer gro­ßen abend­län­di­schen Ver­gan­gen­heit anknüp­fen wird, wenn man die Ana­lo­gien zum römi­schen Prin­ci­pat und sei­ner Wert­schät­zung des alten mos mai­orum als Ver­gleichs­maß­stab nimmt, gleich­zei­tig sich aber auch zwangs­staat­li­cher Maß­nah­men bedie­nen wird, um den Rück­fall in die Bür­ger­krie­ge zu verhindern.

Nicht ohne Grund habe ich mein Buch mit einem Zitat aus Titus Livi­us abge­schlos­sen, wel­cher als kon­ser­va­ti­ver, also zutiefst repu­bli­ka­ni­scher Römer und gleich­zei­tig Zeit­ge­nos­se der augus­te­ischen »kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on« betrau­er­te, daß es um sei­nen Zeit­ge­nos­sen schon so bestellt wäre, daß sie weder die Lei­den ihrer Epo­che noch ihre Heil­mit­tel zu ertra­gen wüß­ten – will hei­ßen, daß der Ver­fall der alten Repu­blik durch die spä­te Senats­olig­ar­chie nur um weni­ges schlim­mer war als die ver­meint­li­che, rein äußer­li­che Resti­tu­ti­on der guten Sit­ten der Alt­vor­de­ren durch den neu­en Alleinherrscher …

SEZESSION: Die Euro­päi­sche Uni­on ist im Unter­schied zur römi­schen Republik ein Impe­ri­um, das von Natio­nal­staa­ten getra­gen wird, die über eine eige­ne gewach­se­ne Iden­ti­tät ver­fü­gen. Selbst wenn sich die­se Iden­ti­tät in Auf­lö­sung befin­det und die Eli­ten sich eine über­na­tio­na­le Iden­ti­tät zuge­legt haben, bleibt doch das Fak­tum bestehen, daß der Wider­stand gegen das euro­päi­sche Impe­ri­um hier ganz offen­bar eine Basis hat, die nur durch die gegen­wär­ti­ge Pro­spe­ri­tät abge­mil­dert wird. Wel­che Zukunft haben die Natio­nal­staa­ten im Imperium?

ENGELS: Nun ja, auch das Reich der römi­schen Repu­blik war alles ande­re als mono­li­thisch und wur­de eben nicht, wie dies volks­tüm­lich ange­nom­men wird, getra­gen durch die bedin­gungs­lo­se Unter­ord­nung einer wil­len­lo­sen Unter­ta­nen­mas­se, son­dern viel­mehr durch eine gewal­ti­ge Zahl weit­ge­hend auto­no­mer und oft sogar frei­wil­lig an das Reich ange­schlos­se­ner Stadt­staa­ten, Fürs­ten­tü­mer und König­rei­che, deren inne­re Unab­hän­gig­keit und jewei­li­ge poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Prä­fe­renz regel­mä­ßig dann deut­lich wur­de, wenn Rom von inne­ren Kon­flik­ten geplagt wur­de und die ver­schie­de­nen Reichs­be­stand­tei­le sich unter­schied­li­chen römi­schen Fak­tio­nen anschlos­sen oder sogar die völ­li­ge Unab­hän­gig­keit anstrebten.

Die Ana­lo­gien sind also auch hier über­deut­lich. Zudem: Stammt der »Wider­stand« gegen die EU tat­säch­lich von den Natio­nal­staa­ten? Oder nicht viel­mehr natio­nen­über­grei­fend von kon­ser­va­ti­ven »popu­lis­ti­schen« Par­tei­en, die sich über­all in Euro­pa in ihrem Pro­gramm ideo­lo­gisch zuneh­mend ein­an­der annä­hern, so daß anzu­neh­men ist, daß es im Fal­le all­ge­mei­ner kon­ser­va­ti­ver Wahl­sie­ge in Euro­pa sicher­lich kei­nes­wegs zu einer wie auch immer gear­te­ten »Auf­lö­sung« der EU kom­men wür­de, son­dern viel­mehr nur zu deren »feind­li­chen Übernahme«?

Dies ist um so wahr­schein­li­cher, als sei­tens der »Sys­tem­par­tei­en« ja mit einem völ­lig rela­ti­vis­ti­schen, gänz­lich lee­ren Euro­pa­be­griff ope­riert wird, hin­ter dem letzt­lich nur der Wunsch nach Macht­er­halt und ‑ver­grö­ße­rung einer inter­na­tio­nal agie­ren­den Finanz- und Poli­ti­kel­i­te steht, wäh­rend die »Popu­lis­ten« ganz im Gegen­teil weit­ge­hend gera­de nicht mehr vom aggres­si­ven, expan­sio­nis­ti­schen und exklu­si­ven Nati­ons­be­griff des 19. Jahr­hun­derts aus­ge­hen, des­sen Ver­ir­run­gen wohl kaum jemand zurück­wünscht, son­dern viel­mehr von dem des christ­li­chen Abend­lan­des, des­sen ganz beson­de­ren, spe­zi­fi­schen Mehr­wert zur Welt- und Mensch­heits­ge­schich­te es gegen äuße­re Bedro­hun­gen (Chi­na) wie inne­re Gefah­ren (Isla­mis­mus) zu ver­tei­di­gen gilt – nicht im Sin­ne einer wie auch immer gear­te­ten Supe­rio­ri­tät, son­dern viel­mehr eines simp­len Rech­tes auf Über­le­ben und eigen­ge­setz­li­che Weiterentwicklung.

Unter kon­ser­va­ti­ven Vor­zei­chen lie­ße sich also durch­aus an eine Ent­schär­fung des (schein­ba­ren) Kon­flikts zwi­schen EU und Natio­nal­staat im Sin­ne einer Ver­söh­nung abend­län­di­scher Schick­sals­ge­mein­schaft und regio­nal gewach­se­ner Iden­ti­tät den­ken, ganz ana­log zur Aus­for­mung der Leit­kul­tur des augus­te­ischen Prin­ci­pats, wel­che eine Fusi­on zwi­schen grie­chi­scher und römi­scher Kul­tur einer­seits und einer wech­sel­sei­ti­gen Durch­drin­gung einer über­ge­ord­ne­ten roma­ni­tas und ver­schie­dens­ter loka­ler Iden­ti­tä­ten ande­rer­seits ange­strebt und erfolg­reich ver­wirk­licht hat.

Frei­lich ging auch dies nicht ohne vie­le Opfer von bei­den Sei­ten von­stat­ten, da sich sowohl die römi­sche Kul­tur »inter­na­tio­na­li­sier­te« als auch die loka­len Tra­di­tio­nen roma­ni­sier­ten; immer­hin wäre eine sol­che Aus­sicht für Euro­pa wohl immer noch bes­ser als der Rück- und Zer­fall in ein­zel­ne Natio­nal­staa­ten und deren Aus­ein­an­der­di­vi­si­on, Vas­al­li­sie­rung und Auf­het­zung durch umlie­gen­de Impe­ri­en wie Chi­na, Ruß­land oder die USA …


David Engels neu­es­te Buch­ver­öf­fent­li­chung Was tun? kann direkt hier, bei Antai­os, dem größ­ten kon­ser­va­ti­ven Ver­sand­buch­han­del, bestellt werden.

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