Dabei wissen wir es gleich in doppelter Hinsicht nicht. Wir segeln zwischen Skylla und Charybdis und wissen weder wie groß sie sind, noch wo sie eigentlich genau liegen. Da ist auf der einen Seite das Virus, dessen Auswirkungen heute niemand einschätzen kann, auf der anderen Seite die ebenso unbekannten Folgen der Seuchenschutzmaßnahmen. Es sind zwei Gleichungen mit viel zu vielen Unbekannten. Es sollte niemanden verwundern, daß so stark voneinander abweichende Zahlen durch die Öffentlichkeit schwirren. Und niemand kann wissen, ob da nicht noch die eine oder andere unbekannte Unbekannte ist, die alle Modellrechnungen durcheinander wirft.
Das gilt wohlgemerkt in beide Richtungen. Der Kurzschluß, Informationsmangel bedeute die Ungefährlichkeit der Seuche, ist hirnrissig. Gleichzeitig ist es mindestens ebenso verantwortungslos, wenn Autoritäten sich über die Grenzen ihres Wissens nicht ehrlich machen.
Daß man dem Präsidenten des Robert Koch Instituts, Lothar Wieler, aus der Nase ziehen mußte, daß seine Statistik jeden Toten als Corona-Todesfall zählt, bei dem eine Infektion nachgewiesen wurde, obwohl längste bekannt war, daß der überwältigende Anteil der Toten hochbetagt war und an Vorerkrankungen litt, ist auch dann ein Skandal, wenn diese Zählweise dem wissenschaftlichen Standard entspricht. Wenn Institute gegenüber der Öffentlichkeit wichtige Informationen über ihre Arbeitsweise verschweigen, dann brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn bei besagter Öffentlichkeit das Vertrauen schwindet.
Doch genug davon. Am 17. März faßte Prof. John Ioannidis von der Universität Stanford das Datenproblem bezüglich der Coronaepidemie zusammen. Die Situation damals: Auch wenn der unbezähmbare Drang von Instituten zur Veröffentlichung von Zahlen das Gegenteil suggerierte. Kein Land verfügte über Daten aus einer repräsentativen Stichprobe von ausreichender Größe, um die Anzahl der nichterfaßten Fälle zuverlässig zu schätzen.
Als Ausnahme wurde bisweilen der Fall des Kreuzfahrtschiffes Diamond Princess angeführt. Dort wurde eine abgeschlossene Gruppe vollständig getestet. Ioannidis rechnet die Sterblichkeitsrate von 1% unter den weitgehend älteren Passagieren auf die Altersstruktur der Vereinigten Staaten um. Die statistische Ungenauigkeit aufgrund der geringen Fallzahl führt zu einer Sterblichkeitsrate zwischen 0,025% und 0,625% der Infizierten. Das ist Unsicherheit um den Faktor 25! Unter Berücksichtigung, daß die endgültige Sterberate auf dem Kreuzfahrtschiff höher sein könnte und die Touristen möglicherweise weniger Vorerkrankungen haben als der Bevölkerungsdurchschnitt, kam er auf Schätzwerte zwischen 0,05% und 1%. Immer noch Faktor 20!
Soweit die Situation am 17. März. Meines Wissens und wegen der Flut an Informationen und der Geschwindigkeit der Ereignisse kann ich mich hier leicht irren, hat sich an der statistischen Front noch nicht viel geändert (hier jedoch am 26. März der Statistiker Gerd Bosbach unverändert zum selben Thema). Was sich allerdings geändert hat, ist die Anwendung der Triage, erst in der Lombardei, jetzt auch in Straßburg. Wenn Ärzte alten Patienten die Behandlung aus Ressourcengründen verweigern, dann ist die Situation, zumindest lokal, sehr ernst.
Auf der Gegenseite steht eine mögliche Wirtschaftskrise. Die von Kollege Bosselmann erwähnte Studie des Ifo-Instituts stellt selbst vorneweg klar, daß die Schätzungen ihrer unterschiedlichen Szenarien mit sehr hohen Unsicherheiten belastet sind. Die Studie solle einen Überblick über die Größenordnungen verschaffen, keine belastbaren Zahlen liefern. Interessant ist jedoch, womit gerechnet wird.
Die Studie dreht sich um Wertschöpfungsverluste. Sie versucht die Schäden durch Produktionsausfall abzuschätzen. Es geht also nur um den unmittelbaren Schaden durch die Stillegung. Zwar berücksichtigt sie als sogenannten „Post-Shutdown“ die Zeit, die zwischen dem Ende der Stillegung und der Wiedererreichung der vorherigen Auslastung, aber sie befaßt sich, trotz der astronomischen Zahlen von bis zu 729 Milliarden Euro, streng genommen nicht mit der Möglichkeit einer Wirtschaftskrise.
Das hat einen guten Grund. Die internen Wechselwirkungen, die ein solcher Einbruch innerhalb der Wirtschaft nach sich ziehen würde, sowohl national, als auch über die Grenzen hinweg, lassen sich nicht prognostizieren. Schon allein deshalb nicht, weil das kein deterministisches System ist. Es geht nicht nur um Bilanzzahlen, sondern vor allem um das Vertrauen der Marktteilnehmer untereinander und in den Staat. Alles was sich sagen läßt ist, daß das Risiko steigt, je länger die Stillegung andauert.
Wir stehen also vor der Tatsache, daß niemand die Lage kennt. Nicht der Regierungssprecher, nicht Prof. Dr. Dr. Dr. h. c., nicht die Kommentarspaltenkrieger und noch nicht einmal ein Journalist des öffentlichen Rundfunkes, obwohl er sich gerade selbst zur „Systemrelevanten Infrastruktur“ erklärt hat.
Läßt sich mit dieser doppelten Unsicherheit umgehen, oder muß man sich blind für irgendeinen Kurs entscheiden und auf das Beste hoffen? In den letzten Tagen erlangte ein Text mit dem Titel „The Hammer and the Dance“ weltweit höchste Beachtung und wurde von einer Reihe medizinischer Autoritäten und einer viel größeren Zahl nichtmedizinischer Halbberühmtheiten verbreitet. Ich befasse mich deshalb mit ihm, weil es so scheint, als ob der Kurs der meisten westlichen Regierungen, darunter auch der deutschen, nach langer Planlosigkeit in etwa der dort vorgeschlagenen Strategie entsprechen wird.
Die Idee ist relativ einfach. Thomas Pueyo, der Autor, sieht die einzige Möglichkeit, einen unlösbaren Zielkonflikt zwischen öffentlicher Gesundheit und wirtschaftlicher Systemstabilität zu vermeiden darin, in den Monaten oder gar Jahren bis zur Entwicklung von Impfstoffen oder Medikamenten die Art Maßnahmen anzuwenden, die in mehreren ostasiatischen Ländern zu einer erfolgreichen Eindämmung des Virus geführt haben, ohne das öffentliche Leben stillzulegen. Also: Massenhafte Tests und individuelle Überwachung von Infizierten, die Rückverfolgung aller ihrer Kontakte und schnelle Quarantänemaßnahmen (siehe hier für Singapur).
Das Problem ist offensichtlich: Diese Maßnahmen sind sehr ressourcenintensiv. Sie können nur bei sehr kleinen Fallzahlen angewandt werden und diesen Punkt haben die westlichen Regierungen bereits verpaß. Also muß der Hammer zum Einsatz. Der Hammer ist eine kurze Zeit maximaler Schutzmaßnahmen der die Anzahl der Fälle drastisch reduziert. Sobald die Fallzahl klein genug ist, beginnt der Tanz. Das öffentliche Leben wird wieder aufgenommen und die Seucheneindämmung erfolgt durch individuelle, wo nötig durch regionale Maßnahmen.
Entscheidend ist folgendes: Während der Zeit des Hammers muß die Übertragungsrate so weit wie nur möglich gesenkt werden. Während der Zeit des Tanzes genügt es, wenn sie 1 nicht überschreitet damit die Seuche kontrollierbar bleibt. Das, in Verbindung mit individueller Rückverfolgung von Infektionswegen, ermöglicht weit geringere Eingriffe in das öffentliche Leben.
Pueyo und seine Unterstützer gehören zu denjenigen, die Corona für besonders gefährlich halten. Das aus meiner Sicht interessanteste an seinem Ansatz ist aber, daß er, ohne es bewußt darauf angelegt zu haben, das Unsicherheitsproblem weitgehend löst.
Die Kürze der Zeit unter dem Hammer minimiert nicht nur allgemein die wirtschaftlichen Schäden, sie minimiert vor allem das Risiko, daß es durch die Ausfälle zu Kettenreaktionen innerhalb des Wirtschaftssystems kommt. Diese Kettenreaktionen, nicht die Aussicht ein Jahr lang den Gürtel enger schnallen zu müssen, sind die eigentliche Gefahr von der wirtschaftlichen Seite.
Vom Standpunkt des Seuchenschutzes liegt das Schöne daran, daß es zunächst nicht notwendig ist die Dunkelziffer der Fälle in Erfahrung zu bringen. Sofern das Verhältnis der Dunkelziffer zu den erfaßten Fällen im Verlauf der Zeit nicht explodiert, kann man von einem Rückgang der erfaßten Fälle auf einen in etwa ebenso großen Rückgang der Dunkelziffer schließen. Der Erfolg ist also meßbar, auch wenn man nicht weiß, in welcher Größenordnung sich die nichterfaßten Fälle bewegen! Schließlich sollte die Fallzahl gering und die vorhandenen Testmittel groß genug für eine weitestgehende Erfassung sein.
Daß das funktionieren kann, haben Singapur, Japan, Hongkong, Südkorea und vor allem China gezeigt, das ja zunächst am schwersten von der Seuche betroffen war. Ob die westlichen Staaten, dazu auch in der Lage sein werden, darf als wichtiger Indikator dafür gelten, wie es um ihre Funktionsfähigkeit gegenüber der fernöstlichen Konkurrenz bestellt ist.
Gracchus
"Zur Zeit blühen, von renommierten Professoren bis zu anonymen Internetkommentatoren, diejenigen auf, die es ganz genau wissen."
Ich wette, diejenigen werden auch in der Kommentarspalte hier aufblühen.
Etwas Ähnliches wie Pueyo hat auch Kekule auf ZON bei Sinken der Fallzahlen vorgeschlagen, um aus dem Shutdown zu kommen.