Nein, Max H. Böhm war nicht vollends zufrieden. Anders als Carl Schmitt, der Die moderne Nation als ein »sehr gutes Buch« empfand, war Böhm mit einigen Thesen des Werkes nicht einverstanden. Hatte doch der Verfasser, der Soziologe Heinz O. Ziegler, die Versuche, Nation und Volk anhand von objektiven, »seinshaften« Faktoren zu bestimmen, verworfen und die konstruktivistischen, insbesondere die machtpolitischen Elemente, die in beiden Erscheinungen stecken, betont.
Böhm dagegen wollte nicht so weit gehen, sondern näherte sich etwas später in seinem Hauptwerkt Das eigenständige Volk mithilfe der Begriffe »das Völkische«, »das Volkhafte«, »das Nationale« und »das Volkliche« dem Phänomen »Volk« an.
Ob Ziegler der erste deutschsprachige Autor war, der die Position des Konstruktivismus in Zusammenhang mit sozialen Gruppen vertrat, kann hier nicht entschieden werden. Sein Werk nahm aber die Frage vorweg, bei deren Beantwortung sich heute Politiker, Journalisten und Wissenschaftler unversöhnlich gegenüberstehen: Wieviel Konstruktion steckt im Volk?
Die Stoßrichtung in der öffentlichen Diskussion ist dabei eindeutig. Es vergeht kaum eine Woche, in der Vertreter des Mainstreams nicht betonen, wie halt- und substanzlos das ganze Weltbild der neu erwachsenden politischen Konkurrenz von rechts sei.
Die AfD hänge einer veralteten, wissenschaftlich längst widerlegten Vorstellung von Kultur an, die deutsche Kultur beschränke sich ohnehin nur auf die deutsche Sprache, und mit Biologie habe Volk rein gar nichts zu tun.
Kurz: Diejenigen, die sich für den Erhalt des Volkes einsetzen, würden einem Phantom nachjagen, einer nur gedanklich erschlossenen sozialen Struktur, der keine objektive Realität zukomme.
Für die metapolitische Arbeit interessanter als diese durchsichtigen Versuche, den politischen Gegner als wirklichkeitsfremden Ideologen zu diskreditieren, sind die unter dieser Oberfläche herrschenden konstruktivistischen Theorien der Anthropologie und Soziologie, aus denen sich die etablierten Politiker (bruchstückhaft) bedienen.
Unumstrittener Pionier dieser Richtung ist der ehemals in Boston lehrende norwegische Anthropologe Fredrik Barth, dessen Einleitung zum Sammelband Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organization of Cultural Difference im Jahr 1969 eine neue Epoche in der Ethnologie einleitete.
Ausgangspunkt seiner Untersuchung war die durchaus legitime Frage, was denn ein Volk ausmache und was die geschichtliche Analyseeinheit »Volk« sei, wenn davon ausgegangen werden könne, daß sich Kultur im Laufe der Zeit ändere.
Er hinterfragte damit die bis dato in der Anthropologie vorherrschende Gleichsetzung von Volk und Kultur und stellte als Ergebnis einiger Feldstudien folgende Hypothese auf: Die Einheit »Volk« beruht nicht (so sehr) auf einer gemeinsamen Kultur, sondern auf »sozialer Organisation«, d. h. auf einem Prozeß der »Dichotomisierung«, der das Eigene vom Fremden trennt.
Entscheidendes Mittel für die Grenzziehung ist die auf Interaktion mit den Fremden basierende Zuschreibung und Selbstidentifikation. Demzufolge ist Volk keine diskrete, anhand von objektiven, primordialen Merkmalen bestimmbare Größe, sondern es sind vielmehr subjektive Bestimmungs- und Identifizierungsprozesse entscheidend, im Rahmen derer sich eine Gruppe von Individuen als ein bestimmtes Volk bezeichnet.
Erst wenn dieser Schritt erfolgt ist, sind die Voraussetzungen für eine von den Volkzugehörigen geteilte Kultur geschaffen. Wurde traditionell die gemeinsame Kultur als bestimmend für ein Volk angesehen, geht realiter die Dichotomisierung der Kultur vor. Gemeinsame Kultur sei das Ergebnis und nicht die Ursache des Abgrenzungsprozesses.
Die Wissenschaftsgemeinde nahm diesen Gedanken begeistert auf und stellte in den folgenden Jahren unzählige Volkstheorien auf, in denen der Faktor »Kultur« zunehmend an Bedeutung verlor. Auf große Widerhall stieß in diesem Zusammenhang ein weiterer von Barth zur Diskussion gestellter Gedanke: der des strategisch handelnden Individuums, welches – je nach historischer Situation und je nachdem, ob es opportun ist – die Identität wechselt.
Durch ein solches Verhalten, das Barth in den Feldstudien beobachtet zu haben glaubte, konnten die Wissenschaftler zu ihrer Erleichterung nun auch ausschließen, daß kulturelle Differenzen eine biologische Grundlage haben könnten.
Denn wenn Individuen tatsächlich in der Lage sind, die Grenzen eines Volkes zu überschreiten und die Volkszugehörigkeit zu wählen, kann es sich unmöglich beim Volk um eine biologische Einheit mit »unveränderbarem Wesen« handeln.
Als gemeinsamer Nenner der verschiedenen konstruktivistischen Theorien schälte sich der Ansatz heraus, daß Ethnizität oder volkliche Identität nicht mehr etwas ist, das man fest und unveränderlich besitzt, sondern etwas, das durch rational agierende Akteure (aus Machtinteresse) mittels Zuschreibung oder Mobilisierung situativ konstruiert wird.
Völker stellen demnach keine realen, d. h. feststehenden geschichtlichen Einheiten dar, sondern sind instrumentalisierbar, formbar und fluid. Ist das überzeugend?
Barths bleibendes Verdienst ist es sicherlich, auf die Bedeutung der Grenzziehung für das Bestehen von Völkern hingewiesen zu haben. Volk hat immer auch eine identifikative Seite. Fraglich ist aber, ob das zwangsläufig mit der heute modischen Aussage verbunden sein muß, Volk komme keine Realität zu.
Oder anders gefragt: Ist die dahinterstehende – unausgesprochene – Annahme sachgerecht, Volk könne nur real sein, wenn es als biologische Einheit real ist? Der Akt der Zuschreibung selbst ist zunächst viel weniger beliebig, als es auf den ersten Blick erscheint.
Wird die Eigenzuschreibung eines Einzelnen zu einem bestimmten Volk nicht von der Mehrheit dieses Volkes geteilt, ist sie bedeutungslos; wird die Selbstidentifikation eines Volkes nicht von anderen Völkern geteilt, besteht zumindest die Gefahr ihrer Bedeutungslosigkeit.
Erst die Anerkennung durch andere, die Übereinstimmung von Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung, verleiht der Zuschreibung die Bedeutung, die Barth ihr zukommen läßt. Kollektive Intentionalität ist die unbedingte Voraussetzung für status functions, wie John R. Searle zurecht sagt.
Der subjektive Akt der Zuschreibung bedarf mithin einer Objektivierung, d. h. sie muß zur geteilten Wirklichkeit, zu einem Fakt geworden sein, der nicht ohne weiteres aus der Welt zu schaffen ist. Diese Erkenntnis führt zu den Merkmalen, die die Akteure der Zuschreibung zugrunde legen, denn ohne identische – oder zumindest ohne eine große Schnittmenge zwischen den – Kriterien für Volkszugehörigkeit gäbe es keine Deckung bei den Zuschreibungen.
Die Antwort auf die Frage nach den herangezogenen Kriterien liefern Arbeiten von Wissenschaftlern, die sich der Größe »Volk« psychologisch nähern. Ihr Untersuchungsgegenstand ist weniger die Frage, wie unterschiedlich verschiedene Völker die Welt wahrnehmen und in ihr handeln, als vielmehr der universalmenschliche kognitiven Prozeß der Kategorisierungen, durch den die Welt als eine Ansammlung von Völkern interpretiert und strukturiert wird.
Dieser »ethnische Essentialismus« ist insbesondere mit dem Namen des Anthropologen Francesco Gil-White verbunden, der aufbauend auf der Arbeit des Psychologen Lawrence Hirschfeld und seinen eigenen Feldstudien zu dem Schluß kam, daß als Folge der Evolution das menschliche Gehirn »Volk« wie eine biologische Spezies verarbeitet.
Dies sei zwar ontologisch falsch, führe epistemologisch aber zu der richtigen Erkenntnis, welches Verhalten »adaptive Vorteile« erziele. Ausgelöst werde dieser Prozeß immer dann, wenn eine Gruppe durch (1) gemeinsame Marker (Sprache, Kleidung, Hautfarbe usw.), (2) Ähnlichkeit von Eltern und Nachkommen sowie (3) Gruppen-Endogamie gekennzeichnet sei.
Er vertrat daher die These, weltweit verbreitet sei ein angeborenes, »streng primordialistisches« kognitives Modell, dem zufolge Volkzugehörigkeit allein an der biologischen Abstammung festgemacht werde. Selbst wenn ein weniger anspruchsvolles kognitives Modell angenommen wird, nach welchem Volkszugehörigkeit auch durch Enkulturation in besonderen Fällen möglich ist, bleibt es dabei: Im Laufe der menschlichen Evolution hat sich eine ethnische Psychologie herausgebildet, in der Abstammung die wesentliche Rolle spielt.
Stellt sich nun eine Gruppe von Individuen als eine vertikal reproduzierende Einheit dar, wird diese Selbstdarstellung von anderen Gruppen akzeptiert und zieht schließlich diese Selbst- und Fremdzuschreibung kongruentes Handeln nach sich, ist durch die angeblich subjektive Wende in Folge von Barth wenig gewonnen.
Es macht dann kaum noch einen Unterschied, ob die Menschen nun in bezug auf das Volk so handeln, als ob oder weil es sich um eine Abstimmungsgemeinschaft handelt. Für die Handelnden ist Volk wegen der angeborenen Psychologie real. Dadurch, daß sie angeboren ist, ist ferner die relative Konstanz des Kriteriums im Zeitablauf gewährleistet.
Andernfalls wäre die menschliche Größe »Volk« ständig neu zu verhandeln; sie könnte quasi über Nacht aus der Welt verschwinden oder ex nihilo entstehen – ein offensichtlich unrealistischer Zustand. Nun ist es aus evolutionstheoretischer Sicht unwahrscheinlich, daß sich eine solche Psychologie quasi im luftleeren Raum herausgebildet haben sollte.
Der Vorwurf, es handele sich dabei um eine Spielerei der Natur, ohne jegliche Verbindung zur materiellen oder kulturellen Welt, ist nicht überzeugend. Vielmehr ist davon auszugehen, daß es die Struktur dieser Welt war, in der die ethnische Psychologie als vorteilhafte Verhaltensweise selektiert wurde (womit nicht gesagt werden soll, es gebe keine Rückwirkung auf die Umweltstruktur).
Ergänzend zur psychologischen Ebene bedarf es also auch einer Analyse dieser Strukturen, um das Phänomen »Volk« zu verstehen. Hierzu bietet sich besonders der Theoriestrang innerhalb der Anthropologie an, der die Weitergabe von kulturellen Eigenschaften zwischen den Generationen zu erklären versucht.
Diese Forschungsrichtung, die mit L. L. Cavalli-Sforza, Mark Feldman, Rob Boyd oder Peter J. Richerson ihre wohl bekanntesten Vertreter und mit dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig auch in Deutschland eine gewichtige Vertretung besitzt, führt gewissermaßen den Weg Arnold Gehlens, den er mit seinem Werk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt in den 1940er Jahren eingeschlagen hat, im Zeitalter des Genoms fort.
Ihr Ausgangspunkt ist die Plastizität und Weltoffenheit des Menschen. Im Gegensatz zu anderen Primaten besitzt demnach der Mensch die – genetisch bedingte – psychologische Voraussetzung, die ihn befähigt, kulturelle Leistungen zu erbringen.
Durch seine kulturellen Leistungen ändert der Mensch die Umwelt, die ihn umgibt, indem er mit der Kultur als eine auf Gruppenebene wirkende Erscheinung eine soziale Umwelt (von ihnen cultural niche construction genannt) schafft, durch die langfristig ein auf die Gene wirkender (geänderter) Selektionsdruck ausgeübt und der Prozeß einer Gen-Kultur-Koevolution angestoßen wird.
Die Kultur wird so zu einem wesentlichen Treiber der menschlichen Evolution. Diese Forscher betrachten »Volk« als einen sozialen Großverband, dessen Mitglieder derartig viele kulturelle Merkmale teilen, daß der Unterschied zwischen ihnen kleiner ist als der zu anderen sozialen Großverbänden, und die sich als eine stabile, eindeutig abgrenzbare historische Einheit verstehen. Auch wenn für sie »Volk« in erster Linie ein kulturelles Phänomen ist, das seinesgleichen in der Tierwelt sucht, kämen diese Wissenschaftler nicht auf die Idee zu behaupten, »Volk« sei nicht real, und zwar aus zwei Gründen:
- 1. Kultur wird (zumindest) auf Gruppenebene vererbt. Die Fähigkeit des Menschen zum sozialen Lernen ermöglicht die Weitergabe kultureller Merkmale von einer Generation zur nächsten (vertikales soziales Lernen) sowie die Weitergabe innerhalb einer Generation (horizontales soziales Lernen).
- Im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelte Heuristiken wie die Vorliebe, von erfolgreichen Individuen, der Mehrheit (Konformität) oder von Gleichen zu lernen, erhöht die Homogenität innerhalb der Gruppe. Die Eigenschaft menschlicher Kultur, sich intergenerationell zu akkumulieren, funktionale Abhängigkeiten verschiedener Merkmale sowie Gruppenrivalität verstärken die kulturelle Clusterung und die Differenzen zu anderen Gruppen.
- So kommt es, daß »[v]iele Werte und Überzeugungen, welche in einer Gruppe zu einem Zeitpunkt üblich waren, (…) auch den Nachfahren derselben Gruppe gemeinsam [sind]« (Rob Boyd / Peter J. Richerson).
- 2. Institutionen kommt eine besondere Bedeutung für das Bestehen eines Großverbandes zu. Normen (Präferenzen, Werte, mentale Modelle, Entscheidungsregeln oder Glaubenssätze) stellen mentale Repräsentationen innerhalb des individuellen Gehirns dar, die vorgeben, wie man sich selbst und wie andere sich zu verhalten haben.
- Durch soziales Lernen und Bestrafung von Abweichlern nähern sich die Normen der Individuen soweit an, daß sie von den Mitgliedern einer Gruppe weitgehend geteilt werden und auf Gruppenebene als Institutionen erscheinen, die wiederum auf die Individuen zurückwirken.
- Das Resultat ist ein sich selbstverstärkendes, dieser Gruppe spezifisches Erwartungs- und Verhaltensgleichgewicht, das die Mitglieder veranlaßt, vornehmlich mit Mitgliedern des eigenen Verbandes zu interagieren bzw. zu kooperieren, wodurch sich der Unterschied zu den Institutionen anderer Verbände vergrößert.
So kommt es, daß kulturell unterschiedliche Verhaltensweisen von sozialen Gruppen (die Völker) innerhalb derselben Umwelt bestehen können, die aus der Vergangenheit kommend in die Zukunft vorgetragen werden. »Kulturelle oder institutionelle Innovatoren« haben mit dieser Tatsache bei ihren Reformen zu rechnen.
Sie können sie zwar verwünschen, sicher aber nicht wegwünschen. Daß »Volk« darüber hinaus auch eine biologische Seite hat, hat etwa Andreas Vonderach bereits in Sezession 52 (»Wir selbst – anthropologisch«) dargelegt. An dieser Stelle kam es nur darauf an, im Zusammenhang mit dem menschlichen Phänomen »Volk« zu zeigen, wie offensichtlich falsch es ist, »von Menschen gemacht« mit »imaginär« gleichzusetzen, nur weil etwas nicht direkt biologisch im engen Sinne ist.
Menschliche Realität erschöpft sich nicht in biologischer Realität. Biologie ist keine Voraussetzung dafür, daß soziale Gruppen im allgemeinen und Volk im besonderen real sind. Dem widerspricht nicht, daß Zuschreibung bzw. Identifikation eine große Rolle für das Bestehen eines Volkes besitzen und daß politische Machtgruppen sie häufig für Mobilisierungszwecke nutzen.
»Realität« und »Konstruktion« erweisen sich so als falscher Gegensatz. Und Fredrik Barth? Wie reagierte Barth auf seinen Erfolg? Er, der 2016 verstorben ist, zog anläßlich des 25. Jahrestages des Erscheinens seines Aufsatzes ein eher bitteres Fazit und erteilte seinen Epigonen eine schwere Abfuhr.
Die Bedeutung der subjektiven Seite des Volkes zu betonen heiße nicht, der gemeinsamen Kultur komme in diesem Zusammenhang keinerlei Bedeutung zu. Im Gegenteil:
(…) zentrale und kulturell geschätzte Institutionen und Aktivitäten in einem Volk sind möglicherweise tief in den Erhalt der Abgrenzung involviert (…)
Die Frage, inwieweit Barth selbst zu diesem Mißverständnis beigetragen haben könnte, braucht hier nicht beantwortet zu werden. Es reicht festzuhalten, daß der geistige Großvater der heute gebetsmühlenartig vorgetragen Argumente der Volksleugner eben diesen Argumenten bereits vor fast 25 Jahren den Boden entzogen hat.