Entlang der alten Grenze zwischen BRD und DDR bricht ein neuer politischer Konflikt auf, dessen Folgen noch nicht absehbar sind. Thorsten Hinz beschreibt den Anlauf in einem – kaum beachteten und doch richtungsweisenden – Thesenbeitrag als ein sukzessives Verlorengehen des »Ursprungsvertrauens, das die Ostdeutschen in die Kompetenz des Westens besaßen«, mit den auslösenden Wegmarken Finanz- und Eurokrise.
Mittlerweile habe die Zuwanderungskrise von 2015 ff. den Vertrauensverlust weiter forciert; ein »deutsch-deutscher Konflikt« entzünde sich an der Frage, »ob man seine Heimat dauerhaft mit einer nicht beherrschbaren Anzahl von Einwanderern aus dem afrikanischen und arabischen Raum teilen und die Risiken und Nebenwirkungen auf sich nehmen will«.
Man kann mit Hinz streiten, ob hier ein apodiktisch-dichotomisches Ost-West-Gleichnis angemessen ist, denn schließlich gibt es auch im Westen ein »Osten« und im Osten ein »Westen«; Insgesamt aber ist Hinz’ mentalitätspolitische Analyse zutreffend, wonach sich im Westen über Jahrzehnte Denkweisen und Kräfteverhältnisse ausformen konnten, die einen ergebnisoffenen Umgang mit Migration (ja, nein, welche?) kaum mehr möglich erscheinen lassen.
Im Osten der Republik – wie auch in den Visegrád-Staaten – ist das noch anders, und hier wird die Weigerung deutlich, die Folgen einer genuin westlichen Einwanderungspolitik mitzutragen. Ostdeutschland, deutet Hinz provokativ wie folgerichtig an, werde einst die Frage beantworten müssen, ob es weiter an die deutsche Einheit glaube (und damit ebenso von »Tribalisierung« und »Barbarisierung« betroffen werde wie die alte BRD als Teil des kippenden Westeuropas) oder ob es eine »europäische Ostverschiebung« stütze, als Teil einer vom Osten ausgehenden »konservativen Revolution«, die in der fernen Zukunft dann rückblickend als eine »Notbremsung« zu bewerten wäre.
Eine ostdeutsche Sezession à la Thorsten Hinz – soweit sind wir noch nicht. Allein in Baden-Württemberg und Bayern gibt es (ein Ergebnis von rund zwölf Prozent angenommen) etwa zwei Millionen AfD-Wähler, und dies entspricht fast der Zahl aller alternativer Wähler in den »neuen Bundesländern« ohne Ost-Berlin (rund 20 Prozent angenommen).
Gleichwohl denken Ost und West auch »rechts« oft aneinander vorbei. Im Osten vergißt der ein oder andere Patriot, daß gewisse Persönlichkeiten, die in einem mitteldeutschen Freistaat reüssieren, im bürgerlich-zaghaften Westen kaum als alternative Galionsfiguren vermittelbar sind. Im Westen (und das ist übergeordnet betrachtet verheerender) vergessen relevante AfD-Akteure, daß sich die Partei seit Bernd Luckes Abgang strukturell wie weltanschaulich verändert hat und über eine neue Wählerschaft verfügt.
Erschloß man bis circa 2015 die quantitativ limitierte Klientel einer national-neoliberalen Professorenpartei (für den Bundestag zu wenig, für den Status einer Splitterpartei zu viel), vollzog sich 2016 und 2017 ein Wandel: Zur Bundestagswahl punktete man überdurchschnittlich bei »Arbeitern« und »Erwerbslosen« (je 21 Prozent), unterdurchschnittlich, einstellig, bei hochqualifizierten Akademikern.
Verschiedene Institute unterschiedlicher politischer Neigung analysierten übereinstimmend, daß Handwerker, Facharbeiter und Kleinunternehmer bundesweit das Wahlgerüst der AfD stellten, kurz: der »kleine Mann«. »Die AfD ist« damit »bezogen auf Einkommen, Bildungsstand und Alter eine Partei der ›Mitte‹«, so der Sozialwissenschaftler Sebastian Friedrich, einer der wenigen gegnerischen Beobachter mit Sachverstand.
Wenn Friedrich recht hat, muß man sich als Sympathisant fragen, wieso die AfD keine Politikangebote für die Mitte formuliert und weshalb die neoliberale Programmatik aus der Lucke-Zeit bis heute unangetastet bleibt. Liest man Verlautbarungen westdeutscher Politiker der AfD zu aktuellen Problemfeldern der Sozial- und Mietpolitik, fühlt man sich an eine in Wortwahl und Ausdrucksweise zugespitzt auftretende FDP erinnert.
Der Jargon der Verachtung seitens liberaler West-AfDler wie Beatrix von Storch zulasten der Prekären (Zeit- und Leiharbeiter, befristet Angestellte, Selbständige usw.), die – wohlgemerkt: auch im Westen – das alternative Wahlreservoir abbilden, stößt insbesondere im Osten auf Unverständnis.
Es ist eine falsche, rohe Bürgerlichkeit, die in Gestalt eines säkularisierten Vulgärcalvinismus daherkommt: Prekarität erscheint hier ausnahmslos als das Produkt individuellen Versagens, sozioökonomische Einordnungen finden nicht statt.
Eine Partei für den »kleinen Mann« könnte das anders handhaben, wenn sie sich an Gründervätern der »sozialgesteuerten Marktwirtschaft« wie Alfred Müller-Armack, Walter Eucken oder an preußischen Konservativen wie Gustav Schmoller orientieren würde (ganz zu schweigen von sozialpolitisch versierten Denkern innerhalb der Konservativen Revolution), die noch wußten, daß das notwendige Primat der Politik vor der Wirtschaft jede marktliberale Flause samt Fokussierung auf eine einzige Klasse ausschließt und immer das gemeinsame Interesse aller Staatsangehörigen im Vordergrund stehen muß.
Westdeutsche AfD-Wirtschaftspolitiker entsprechen damit eher der angelsächsischen Marktideologie als der »klassisch deutschen« nationalen Wirtschaftskultur, was erklären mag, wieso Protagonisten des neoliberalen Flügels der West-AfD die Marktradikalen F. A. von Hayek oder Milton Friedman als Inspiratoren nennen.
Die Lebensrealität samt sozialpolitischem Bewußtseinsgrad der westlich dominierten AfD-Funktionärsriege entspricht selten der Lebensrealität der (möglichen) Wählerschaft in Ost wie West. Dasselbe Mißverständnis stieß vor fast 20 Jahren die Freiheitliche Partei Österreichs vom Sockel.
Die FPÖ verlor die lohnabhängig beschäftigte Mehrzahl (insbesondere Arbeiter und Angestellte), »als sie unter Beifall ihrer mittelständischen Klientel zur Durchführung eines wirtschaftsliberalen Programms ansetzte«, wie Martin Hoschützky in Heft 3 der Sezession (hier lesen) resümierte.
Denn was für die obere Mittelschicht (eine prozentual im Vergleich zu den Arbeitern und Angestellten in Österreich und Deutschland nachrangige Zahl) »den ersehnten Zugewinn an Freiheit bedeutete, nahmen große Teile der Arbeiterschaft als Beschneidung ihres Anteils am Wohlstand wahr«.
Doch da die nationale Frage zu schwach erschien, um die Widersprüche in der FPÖ-Wählerschaft zu verdecken, »zerbrach die Partei an der Frage, welche Rolle der Staat bei der Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse spielen soll«.
Es ist nicht der Ort, um ausführlich darzulegen, daß die Freiheitlichen 2019 denselben Fehler sehenden Auges wieder begehen. Unverzichtbar ist diese austriakische Farce jedoch als schlagende Mahnung für diejenigen in Deutschland, denen es an einer wirklichen Alternative gelegen ist.
Dieser darf es nicht um Klientelpolitik für die Happy Few jetziger Wirtschaftsverhältnisse gehen, in denen nicht Arbeit und Leistung großen Wert schaffen, sondern der Wert sich selbst verwertet. Kaum jemand, der substantielle Änderungen für Deutschland erhofft, benötigt für diese Problematik eine um Islamkritik erweiterte FDP.
Latentes bis offenes Mißtrauen gegenüber dem Sozialstaat an sich – nicht: gegenüber seiner jetzigen defizitären Form – wird beigemengt und stößt auf eine fest umrissene, dafür aufgeschlossene Klientel, weil falsche Kanäle und über eine Million Allochthone aus dem sozialstaatlichen Sockel bedient werden und die ausufernde Bürokratie weitere Probleme schafft.
Die Institutionen werden plötzlich per se abgelehnt, obwohl es falsche Entscheidungen bestimmter Politiker sind, welche die Mißstände verschärfen. Die Solidarinstitutionen an sich funktionieren prinzipiell, sie sind in Deutschland traditionell tragfähig, und mit der Umkehr der unsozial-volksfernen Politik der Altparteien muß in diesem Themenfeld eine Neubesinnung auf einen solidarisch-patriotischen Sozialstaat erfolgen – keine libertäre Staatsfeindlichkeit.
Dabei wäre zumindest die Ausgangssituation (nicht: die Feinabstimmung) im wirtschaftlichen Bereich für eine populistische Partei denkbar einfach: Man müßte auf die ausgepreßte und zunehmend prekäre Mitte – immerhin die Mehrheit im Lande – verweisen und eine entlastende Politik für sie einfordern.
Daß derartiges von der AfD-Wählerbasis erwartet wird, steht nach allem, was Soziologen und Demoskopen an Datenmaterial erhoben haben, außer Zweifel. Martin Hoschützky verwies 2003 in seinem bereits erwähnten Text auf die immanente Schwäche einer denkbaren populistischen Rechtspartei, die sich auf die Oberschicht und den gehobenen Mittelstand festlegte.
Ein Populismus, der »nicht die Stärkung des Gewichts der unterbürgerlichen Schichten im politischen Prozeß in Angriff nimmt, wird keine substantiellen partizipatorischen Impulse hervorbringen, da er eine relativ schmale Bevölkerungsgruppe vertritt«.
Ein derartiger konservativ-neoliberaler Versuch würde zurückfallen in die Sackgassen des besitzbürgerlichen Mainstreams. »Anders könnte es einem Populismus ergehen«, antizipierte Hoschützky auf frappierende Art und Weise, »der sich bewußt auch auf die unterbürgerlichen Schichten stützt.
Er wäre zum Versuch gezwungen, die unterschiedlichen Interessenslagen der vom sozialen Abstieg bedrohten Gruppen des Mittelstandes wie der Arbeiterschaft zu repräsentieren. Ob die Rechte an einem solchen Projekt teilnehmen möchte«, mahnte Hoschützky, »hängt von ihrer Bereitschaft ab, sich als in Opposition zu den derzeitigen politischen und ökonomischen Tendenzen stehend zu begreifen«.
Exakt hier verläuft die Scheidelinie innerhalb der AfD: Begreift man sich in Opposition zu den herrschenden Verhältnissen, oder strebt man sanfte Korrekturen an?
Will man eine »harmlose« Rechte sein oder eine entschiedene, stellt man parlamentarisch mittelfristig eine mehrheitsbeschaffende Rechte für das erodierte »bürgerliche« schwarz-gelbe Lager dar, oder strebt man eine neue Volkspartei quer zu der bisherigen Farbenlehre des bundesdeutschen Parlamentarismus an, was durch die Entkernung der Union ebenso begünstigt würde wie durch den anhaltenden sozialdemokratischen Dilettantismus, der auf die im Volk reichhaltig vorhandenen sozialen Neigungen abstoßend wirken muß?
Letztere Ungewißheit ist für die AfD die Gretchenfrage. Dies gilt um so mehr, als daß der AfD ein Milieu fehlt, das ihr über schwankende Konjunkturlagen hinweg ein solides Gerüst verschafft. Versteht man ein politisches Milieu als »Gruppe von Personen, die sowohl soziale Lebensbedingungen als auch Denk- und Verhaltensweisen miteinander teilen« (Wilhelm Heitmeyer), ist es einerseits ein Vorteil, daß die AfD keine Milieupartei ist.
Andererseits fehlen damit überwiegend »organische« Politiker, die aus demselben Holz geschnitzt sind wie ihre Wähler: Linkspartei und Grüne zeigen, wie erfolgreiche Milieuarbeit aussieht; die Linie Wähler – Mitarbeiter – Parlamentarier ist klar, der nötige inhaltliche Druck auf die Mandatsträger immanent.
Bei der AfD, der westlichen zumal, bleibt die Frage unbeantwortet, was ein prekär beschäftigter Facharbeiter mit dem Akteur der marktradikalen Hayek-Gesellschaft im Bundestag über die Ablehnung der Massenzuwanderung hinaus gemein haben könnte.
Um diese unüberbrückbare Kluft weiß der Gegner, und diesen gewaltigen Widerspruch kann er als Waffe nutzen, spätestens dann, wenn das Alleinstellungsmerkmal Migrationskritik allmählich in der öffentlichen Wahrnehmung versandet. Die über libertäre Auswüchse hinausreichende Problematik, die damit verbunden ist, kann als »AfD-Blase« umrissen werden.
Obschon man der Partei zugestehen muß, daß sie eine junge ist und ihr die jahrzehntelange Basisarbeit der Konkurrenz fehlt, bleibt es unergründlich, wieso im Superwahljahr 2019 keine flächendeckende kommunale Offensive erfolgt. Wendet man etwa im – so oder so umfragestarken – »blauen Sachsen« die kommunale Verankerung als Maßstab für nachhaltige Aufbauarbeit an, fällt eine Bestandsaufnahme bescheiden aus: In vielen Klein- und Mittelstädten tritt man gar nicht erst zur Wahl an.
Sogar in Kommunen, in denen zur Bundestagswahl 2017 circa 30 Prozent AfD wählten, wird die Partei zu Kommunalwahlen nicht auf dem Zettel stehen – zwei Jahre möglicher Kärrnerarbeit vor Ort fanden dort schlicht nicht statt. Gesellschaftliche Isolation kann als Hinderungsgrund in Städten und Gemeinden nicht herangezogen werden, in denen fast ein Drittel der Bürger für die AfD votiert.
Vielmehr ist ein Streben in die Landesmetropolen und »Hauptparlamente« zu vermerken, das ein Engagement auf vermeintlich subalterner Ebene obsolet erscheinen läßt. Dabei ist Dresden für einen Vogtländer fern, nicht aber der unmittelbare Ortsbeirat oder das nächste Stadtparlament.
Es findet keine alternative Nachbarschaftspolitik statt, die freilich die unverzichtbare Grundlage einer jeden basisnahen Bewegung darstellt. Fallen überregional mobilisierfähige Themen weg, kann eine Landtagsfraktion verloren werden; lokale Verankerung hingegen bliebe, versiegten auch die Geldflüsse in der Landeshauptstadt.
Auch hier fehlt es an Weitsicht und einer stufenartigen Planung aus Nah- und Fernziel zur Umwandlung bestehender Verhältnisse, was wiederum »organische« Politiker, die aus einem konkreten Umfeld in die Landespolitik »empor« steigen, ohne ihre Herkunft angesichts neuer Lebensmöglichkeiten dank Mandatsvergütung zu verleugnen, unmöglich macht.
Daß es theoretisch anders geht, zeigt, trotz fehlender Unterstützung durch den westlich dominierten Bundesvorstand (das brandenburgische Wahlkampfbudget ist niedriger angesetzt als das von Splitterparteien!), etwa Christoph Berndt in Cottbus. Dieser wird als Musterbeispiel für aussichtsreiche Vor-Ort-Arbeit über den Listenplatz 2 der Landes-AfD ins Potsdamer Parlament einziehen und bürgt als Garant für die arbeitsteilige, auf Nachhaltigkeit abzielende Strategie der Mosaik-Rechten.
Die 100 000-Einwohnerstadt Cottbus beweist, daß das, was im Kleinen Bedeutung hat, ebenso für das große Ganze Relevanz besitzt: Solidarität kann dort greifen, wo das Zutrauen zueinander groß ist. Diese einfache und bedeutende Maxime wurde von Höcke und Wagenknecht längst in die Politik eingeführt und mittlerweile auch von »unverdächtigen« Forschern wie David Miller und Francis Fukuyama bestätigt, und sie steht in schroffem Widerspruch zur westlerischen Realität von »Multikulti«, wo sich Angehörige einer Community untereinander stärker vertrauen als den Menschen anderer ethnokultureller Kollektive.
Dies steht in Widerspruch zu den Grundbedingungen eines modernen und funktionierenden Sozialstaats. Definiert man »Solidarität« unter Staatsbürgern ohne jedes vaterländische Pathos als Akzeptanz des relativen Ausgleichs zum Wohle aller, bedarf es hierfür anfänglich eines Verständnisses davon, daß überhaupt eine übergeordnete Gemeinschaft existiert, der man Zuneigung oder zumindest Loyalität entgegenbringt und von der man, gewissermaßen als Gegenleistung für die gewährte Solidarität, ein Mindestmaß an innerer und sozialer Sicherheit erhält.
Die offene Marktgesellschaft bedeutet aber weniger Sicherheit in jedem Sinne. Verinnerlicht man diesen Gedankengang, wird es für alternative Politik, die nicht nur einzelne Stellschrauben anders justieren möchte, unvermeidlich, ein gravierendes politisches Umsteuern zu fordern und sich nicht lediglich als Mehrheitsbeschaffer-in-spe in Stellung zu bringen.
Das ist besonders für den Osten relevant, wo man in Thüringen, Sachsen und Brandenburg 2019 über 20 Prozent erreichen könnte. Der Verlust des Urvertrauens und das daraus herrührende Wutpotential ostdeutscher Generationen sorgen für einmalige Chancen des alternativen Oppositionspotentials; einmalig, denn auch in den neuen Bundesländern ist der »geistige Westen« – verstanden nicht als Ortszugehörigkeit, sondern als bürgerlich-opportune Denkweise, die dem »Geist des Ostens« mit seinem intuitiven Widerstandsgestus entgegensteht – auf dem Vormarsch.
Karlheinz Weißmann schrieb einst in seiner Kurzen Geschichte der konservativen Intelligenz (hier bestellen), daß die (west)deutschen Konservativen »niemals zuvor so harmlos, so zahm und zivil« aufgetreten seien – doch gilt das mittlerweile auch für einen markanten Teil des mitunter basis‑, weil landfernen sächsischen AfD-Apparats.
Ausgerechnet im seit 1990 wichtigsten Landeswahlkampf verzichtet man auf einen inhaltlichen Frontalangriff, weil man – wie im übrigen auch Grüne, FDP, SPD und sogar partiell Die Linke – auf ein mögliches Übereinkommen mit der sächsischen Union schielt.
Man will just im sozialen Sachsen keinen sozialpolitischen Wahlkampf führen, da man »keinen Sozialismus predige« (als ob die Befürwortung eines für in Not geratene Landsleute sorgenden Sozialstaates automatisch »Sozialismus« bedeutete), und ebenso verzichtet man auf eindeutige Positionierungen zu Globalisierungserscheinungen und Migration jenseits kurzschlüssiger »Grenzen-zu«-Rhetorik.
Dabei könnte man vom CDU-Fossil Wolfgang Schäuble lernen, der Zuwanderung als unser »Rendezvous mit der Globalisierung« erfaßt. Hier gilt Philip Manows Feststellung im Anschluß an den Harvard-Forscher Dani Rodrik, wonach man zeitgenössischen Populismus mit Erfolgsaussichten als Protestbewegung gegen die Globalisierung denken sollte, als Protest »gegenüber zwei ihrer hauptsächlichen Erscheinungsformen: dem internationalen Handel und der Migration, also der grenzüberschreitenden Bewegung von Geld und Gütern einerseits und von Personen andererseits«.
Entsprechend der unterschiedlichen Gewichtung der beiden Hauptarten der erlebbaren Globalisierungsformen äußern sich linke und rechte Spielarten des Populismus. Für Sachsen (aber auch viele andere, sogar westliche Länder) bräuchte es eine parteipolitische Formation, die beide Stränge bündelt, anstatt einen der beiden Aspekte zu ignorieren.
Wenn man nämlich, so Manow weiter, die Frage nach den beiden bedeutendsten Problemen in der ganzen Bundesrepublik für AfD-Sympathisanten beleuchtet, »ist die kombinierte Artikulation von Sorgen über Migration und soziale Gerechtigkeit die mit sehr weitem Abstand häufigste Antwort«. Erklärend heißt es: »Etwa 44 Prozent der ostdeutschen Befragten und knapp über 50 Prozent der westdeutschen Befragten äußern sich so, während keines der anderen genannten Themen an die 20 Prozent heranreicht«.
Die AfD, in der Mehrzahl der Länder des Westens wie des Ostens, wird sich angesichts solcher Zahlen erst noch zu entscheiden haben, für wen sie künftig Politik machen wird: Für die eigene, in liberalen Denkweisen und meist urbanen Lebenswelten verwurzelte höhere Funktionärsebene, die Migration als selbstlaufenden Evergreen braucht, indes bei monokausalen Erklärungen stehen bleibt und soziale Fragen als propagandistische Hülle für das Wahlvolk lediglich duldet; mithin also Politik für eine Majorität der 91 Bundestagsabgeordneten, die eine (noch nicht verfestigte) Kaste abbildet, die im schlechtesten Falle Anywheres von rechts produziert.
Oder praktiziert man Politik für die Mehrheit der Sympathisanten, die sich für Migrationspolitik und soziale Gerechtigkeit aufgeschlossen zeigen und die in Alexander Gaulands Sinne die Somewheres vertreten, indem sie, konkret verortet, an ihrer Heimat und der bedrohten Normalität ihres Lebens festhalten.
Ohne Zweifel: Nur eine AfD, die für die vernachlässigten Somewheres als Bevölkerungsmehrheit dieser Republik einsteht, hat ihre genuine Existenzberechtigung und das Potential zu einer wirklich gesellschaftsverändernden Alternative für Deutschland.
Setzt sich indes die auf zehn bis zwölf Prozent der Deutschen beschränkte, westgepolte FDP-plus-Islamkritik-Haltung durch, wird Thorsten Hinz’ »langer Weg nach Osten« zur Wiedervorlage fällig.