weil ich davon schrieb, daß Konservative und Rechte eigentlich an einer Aufweichung des Gewaltmonopols interessiert sein müßten? Dann wäre diesen Lesern entgangen, daß ich bei der Aufzählung der konservativen Werte, denen der Staat seiner Natur nach feindlich gegenübersteht, einen Wert nicht genannt habe, nämlich das Privateigentum.
Libertäre gehen in ihren Überlegungen davon aus, daß der Staat der größte Gegner des Privateigentums sei, und daß er durch seine permanenten Eingriffe in den freien Markt die Vorteile zunichtemache, die sich ergeben würden, wenn das Privateigentum freien Lauf hätte. Daher ist für Libertäre der Kampf für eine freie Gesellschaft auf Basis des Privateigentums gleichzeitig ein Kampf gegen den Staat. Sie übersehen dabei, daß Privateigentum nichts weniger ist als eine Institution, die mit dem Staat unvereinbar wäre. Genau das Gegenteil trifft zu.
Was bedeutet der Zusatz „Privat“ denn anderes, als daß Privateigentum nicht politisch oder öffentlich ist? Der Privateigentümer ist Eigentümer einer Sache. Mit dieser Sache kann er grundsätzlich alles machen, was er will, solange er das Privateigentum anderer nicht verletzt. Privateigentum begründet allerdings keine politischen Rechte innerhalb des Gemeinwesens und gewährt keine politische Herrschaft oder Autorität über andere Personen. Genau diesen (zumindest scheinbar) unpolitischen Charakter des Eigentums – die Voraussetzung für eine freie Marktwirtschaft – hat der moderne Staat herbeigeführt und wäre ohne ihn undenkbar.
Der moderne Staat hat die Verwaltung der politischen Funktionen an sich gezogen, die zuvor bunt in der ganzen Gesellschaft verteilt waren. Der Grundherr des Mittelalters war nicht reiner „Privat“-Eigentümer seines Landes, sondern er hatte politische Rechte und Pflichten gegenüber denjenigen, die ihm das Land zum Lehen gegeben hatten, und denjenigen, die auf seinem Land wohnten, seien es Vasallen, Hörige oder Hintersassen. Auch die Gerichtsbarkeit war verteilt in verschiedene Hände. Indem der Staat diese Funktionen in sich bündelte und zentralisierte, befreite er die Individuen aus den mittelalterlichen Abhängigkeitsverhältnissen und schuf die bürgerliche Gleichheit vor dem (staatlichen) Recht, die Vertragsfreiheit und den freien Markt.
Erst das Gewaltmonopol des Staates ermöglichte die Konstituierung einer individualistischen Gesellschaft, die auf Grundlage des Privateigentums und des freien Handels den Reichtum erschaffen konnte, für den Libertäre so gerne ausschließlich den Markt verantwortlich machen würden.
Wenn Libertäre also für eine Abschaffung des Staates kämpfen, arbeiten sie gleichzeitig an der Abschaffung des Privateigentums. Eine staatenlose Gesellschaft würde keine Marktgesellschaft sein, da der Staat die Voraussetzung für Privateigentum und Märkte ist.
Jenseits von Utopien gibt es keine herrschaftsfreie Welt. Wenn dem Staat die Herrschaft entrissen und das Gewaltmonopol beseitigt würde, dann würde die Herrschaft – bestenfalls ohne Bürgerkrieg – eben wieder woanders landen, d.h. sie würde wieder ein integraler Bestandteil der Gesellschaft werden. Vom „Privat“-Eigentum bliebe vermutlich nicht viel übrig.
Mit großem Glück würde es wieder so aussehen wie im Mittelalter, wobei ich sehr im Zweifel bin, ob es nach dem Absterben einer allgemein akzeptierten Religion noch möglich ist, ein stabiles, nicht-staatlich organisiertes Gesellschaftssystem auf die Beine zu stellen.
Von libertärer Seite sehe ich den Einwand voraus, die Erfahrungen mit den sozialistischen Staaten des 20. Jahrhunderts widerlegten die Behauptung, der Staat sei Ursprung und Herold des Privateigentums. Aber die Tatsache, daß sozialistische Staaten das Privateigentum regelmäßig aufheben und die sozialdemokratischen Staaten des Westens es zumindest beschneiden, ändert nichts daran, daß das Privateigentum ohne den modernen Staat undenkbar ist. Der Staat hat’s gegeben, der Staat hat’s genommen.
Außerdem zeigt sich der Staat darin nur ein weiteres Mal als Katalysator des Fortschritts und der Moderne. Der sozialistische Staat bekämpft das Privateigentum nämlich aus demselben Grund, aus dem der liberale Staat gegen den Feudalismus und gegen die Kirche gekämpft hat: Er will Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse beseitigen. Er hält das Privateigentum an den Produktionsmitteln bekanntermaßen für ein Herrschaftsinstrument der Kapitalistenklasse gegenüber der Arbeiterklasse. Er schafft das Privateigentum im Namen der Emanzipation und der Freiheit ab. (Was dabei historisch herauskam, wissen wir, aber das gehört jetzt nicht hierher.)
Libertäre mögen daher richtig liegen, wenn sie sich gegen den Sozialismus wenden. Trotzdem müßten sie eigentlich für das Gewaltmonopol und damit für den Staat eintreten. Zumindest müßten sie das tun, solange sie an ihren individualistischen Idealen festhalten und eine möglichst freie Marktgesellschaft anstreben. Gegen das Gewaltmonopol dürfen sie sinnvollerweise nur dann argumentieren, wenn sie akzeptieren, daß eine Gesellschaft, in der es zu einer starken Dezentralisierung und Aufweichung der Staatsmacht kommt, eher dem Mittelalter ähneln würde. Zum Abschluß möchte ich mit Hans-Hermann Hoppe (ef 189) eine libertäre Autorität zitieren, die hierzu das Nötige gesagt hat:
„Während sich viele Libertäre eine anarchische Gesellschaftsordnung als weitgehend horizontale Ordnung ohne Hierarchien und unterschiedliche Autoritätsebenen vorstellen – also als ‚antiautoritär‘ –, lehrt uns das mittelalterliche Beispiel einer staatenlosen Gesellschaft etwas anderes. … Tatsächlich war das Mittelalter im Gegensatz zur gegenwärtigen Ordnung, die im Wesentlichen nur eine Autorität, die des Staates, anerkennt, durch eine große Vielzahl konkurrierender, kooperierender, überlappender und hierarchisch geordneter sozialer Autoritäten gekennzeichnet. … Darüber hinaus, und von größter Bedeutung, gab es die Autoritäten des örtlichen Priesters, des entfernteren Bischofs und des Papstes in Rom.“
Als Ergebnis meiner Untersuchung möchte ich festhalten: Die Konservativen und Rechten täuschen sich darin, daß die Institution des modernen Staates ihnen helfen könnte, ihre Werte zu verwirklichen. Die Libertären täuschen sich darin, daß eine weitestgehend staatsfreie Welt einer reinen Marktwirtschaft ähneln würde. Es ist also im Grunde unsinnig, daß sich die beiden Lager darüber streiten, ob mehr Markt oder mehr Staat die richtige Lösung für die Probleme unserer Gesellschaft sei. Weder das eine noch das andere ist der Fall.
Vielmehr kämen die Konservativen ihrem Ideal näher, wenn sie ihre fixe Idee vom Staat fallenließen, und die Libertären, wenn sie dasselbe mit ihrer fixen Idee vom Markt täten. Vielleicht könnte man sich dann sogar einigen, denn was übrigbliebe, ist die Vorstellung von einer Gesellschaft mit möglichst dezentralisierter Verwaltung, in dem konservative Werte und traditionelle Institutionen die Lücken auffüllen, die der Staat hinterläßt. Das Subsidiaritätsprinzip könnte sich dann als der gemeinsame Nenner von Liberalen und Konservativen, Libertären und Rechten herausstellen.
Ein gebuertiger Hesse
Herr Lichtschlag! Ihr Typ wird verlangt ...
Gelegenheit, an diesen denkwürdigen Dialog zu erinnern:
https://sezession.de/7792/fuer-die-libertaer-konservative-sezession
https://sezession.de/7797/verfuegungsraeume-antwort-auf-lichtschlags-angebot
Würden das beide heute noch so schreiben, 17 Jahre später?