Götz Kubitschek plädiert für die „Arbeit am Möglichen in der Sicherheit des Schweigens“. So unterschiedlich ihre Texte sind, sie haben einen gemeinsamen Nenner: sie desillusionieren. Sie markieren das Ende einer Illusion.
Desillusionierung ist nicht gleichbedeutend mit Resignation – auch dies, der Widerstand gegen die Sirenengesänge der Resignation, wird in allen drei Texten deutlich. Desillusionierung zählt dagegen zum Kerngeschäft echter Philosophie.
Philosophie treiben, das hieß im herkömmlichen abendländischen Zusammenhang: die Welt interpretieren. Die Welt also verstehen, und zwar nicht aus nutzloser Spekulationslust, sondern um das Gute zu erlangen. Dieses Gute ist nicht zu verwechseln mit allgemeiner Moral, vielmehr ist es ein Bereich, der dem unabänderlich der Tragik unterworfenen Leben abgerungen werden muß.
Ebenso ist die Ethik, das Ziel des philosophischen Denkens, nicht mit christlicher Ethik wie z.B. der Nächstenliebe gleichzusetzen – sie ist Verhaltenslehre angesichts eines unausweichlichen, bedrängenden und bedrückenden Schicksals. Tragik, Schicksal, Verhängnis, wie immer man es nennen will, das Unabänderliche und Unausweichliche ist der konkrete Rahmen für das philosophische Denken allgemein und speziell für die Frage: Wie kann ich ein richtiges Leben im falschen führen?
Wenn Karl Marx 1845 schreibt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“, zeigt das eine Zeitenwende für die Philosophie an. Bisher gab es für die Philosophie eine Notwendigkeit, die es jetzt nicht mehr gibt, von nun an gibt es eine Möglichkeit, die es bisher nicht gab.
Dank der Ergebnisse der bürgerlichen und der industriellen Revolution kann man von nun an darauf verzichten, sich irgendeinem Schicksal stellen zu müssen. Man kann das Bedrängende und Bedrückende zunehmend handhaben. Die Tragik wird eingehegt, die Zumutung herunterreguliert zum Problem, das gelöst, oder zur Aufgabe, die erledigt werden kann – Marx wird zum ersten Philosophen des Machbaren, und er geht ohne zu zögern in die Vollen: Die Welt verändern!
Mit einem Schlag ist die Arbeit des Verstehens, einhergehend mit der Arbeit am eigenen Verhalten, an sich selbst und seinen Grenzen, erledigt und vergessen; es ist nurmehr der Bodensatz alter, veralteter Philosophie.
Das Schicksal ist eine Kategorie, die wir uns (unbewußt Marx folgend) kaum noch denken können. Es ist die unausweichliche geistige, moralische und politische Eigendynamik einer Epoche; der Strom, gegen den man sich zwar stellen und mit viel Kraft auch schwimmen kann, den man aber nicht umlenken kann; die Last, die man tragen, die Zumutung, die man bewältigen muß; die höhere Gewalt, die man nicht per Knopfdruck abstellen kann.
Es gibt keinen Hebel, der umgelegt werden könnte, keine Feineinstellung, die man finden müsste – die Logik des Machbaren scheitert. Wir kennen das Verhängnis nicht mehr, wir waren „in eine Atmosphäre falscher Ahnungslosigkeit gehüllt wie in Wattewolken“ (Chaim Noll). Diese Zeit ist nun vorbei, die Machbarkeit kommt zunehmend an ihre Grenzen, und die Möglichkeit des tragischen Lebens zieht wieder ein.
Nietzsche hat sich diese Möglichkeit gewünscht und tief bedauert, dass es in seiner Zeit keinen Platz mehr dafür gab. Mich hat das immer irritiert: Warum sollte sich jemand ein tragisches Leben wünschen? Nietzsche war der Ansicht, dass ein Mensch zu Größe, Ehre, Würde überhaupt nur dort kommen kann, wo er das Unausweichliche zu bewältigen hat.
Im Bürgertum seiner Zeit, das alles durchreguliert hatte, gab es solche Möglichkeiten nicht mehr. Die Bahnen waren vorgezeichnet, und wenn man sich von ihnen abwandte, war das nichts Heroisches, sondern eher etwas Bedauernswertes. Es genügte ihm nicht, in einer Welt ohne Schicksal, ohne Bestimmung und daher ohne Bedeutung zu leben – das war in seinen Augen Wüste.
Diese Welt des wohltemperierten Bürgertums hat 1918, 1933, 1945, 1968 und 2015 einen Schlag nach dem anderen versetzt bekommen, man könnte trefflich spekulieren, welcher der schwerste war. Schläge, die Lücken hinterlassen haben, Breschen, durch die das Schicksal in Form der Ströme einer neuen Völkerwanderung, der Auflösung der Ordnungen und Institutionen, des kulturellen Selbsthasses, des Systemcrashs der atlantischen Zivilisation, des moralisch-politischen Totalitarismus wieder eindringt. Es ist unser Schicksal, in dieser Epoche zu leben, ohne mit ihr übereinstimmen noch etwas an ihr ändern zu können. Es ist unsere Bestimmung, einen Weg zu finden, nicht darum herum, sondern mitten hindurch.
Das Bergen in einer gnädigen Illusion ist die normale, nachvollziehbare menschliche Reaktion auf jenen Vorgang, bei dem das Schicksal die Hüllen abstreift, wieder in den Bannkreis tritt und wir seiner angesichtig werden. Eine der vornehmsten Aufgabe des Philosophen ist es, zu desillusionieren: die falschen Fluchtwege zu versperren, die Panikräume nutzlos und die Täuschung kenntlich zu machen, so zum Beispiel
1. Die Illusion der Schönredner, die der Tragik einfach ausweichen, indem sie sie zum Fortschritt, zu einer historischen Chance etc. erklären, aber damit müssen wir uns nicht befassen, darüber sind wir längst hinaus.
2. Die instrumentelle Illusion, die sich eben darin ausdrückt, dass man den entscheidenden Hebel sucht und zu finden hofft, mit dem man auf „alles wieder gut“ stellen kann. Es ist vielleicht die Illusion, die wir am tiefsten verinnerlicht haben, zu der wir uns gar keine Alternative mehr denken können. „Irgendwas muss man doch tun können.“ Also organisiert man, etwa Demonstrationen oder eine Partei, oder argumentiert in der Hoffnung, überzeugen zu können, oder setzt auf diese oder jene Strategie. Wie viele Kräfte wurden dafür mobilisiert, und wie seltsam ist es, dass all dies nichts Wesentliches auszutragen scheint! Wie oft hat man in den letzten Jahren das Bild der Lemminge bemüht! Es gibt eine Art Zugzwang, an dem nichts zu ändern ist. Der Blick auf die USA bestätigt diese Ahnung: Trotz oder vielleicht auch gerade wegen eines erfolgreichen rechten Präsidenten, der Möglichkeiten hat, von denen man hierzulande höchstens träumen kann, wird die Linksdrift nicht etwa aufgehalten, sondern noch erheblich verstärkt.
3. Die apokalyptische Illusion, die sozusagen das Gegenteil zur instrumentellen Illusion bildet. Man geht davon aus, dass nun alles nichts mehr nützt und der Untergang beschlossene Sache ist. Es gibt die gallige Variante, nach deren Urteil der Untergang verdient ist, weil das Volk zu dekadent, zu angepasst, zu weich und zu dumm etc. ist, und die Variante mit einer Resthoffnung, nach der unter genügend harten Schlägen das Volk seine Kraft wiederentdecken und schlussendlich doch aufstehen werde. Die Schreckensszenarien, die den Untergang bildhaft werden lassen, sind unterschiedlich: Zusammenbruch der Wirtschaft, Islamisierung, Volkstod, Rassenkrieg, letztlich säkulare, politische Varianten der Hölle.
4. Die Illusion der unerschütterlichen Standhaftigkeit zu irgendeiner Wahrheit, zu einer Räson oder einem Kurs. Je wilder die Gesellschaft von Fieberschüben geschüttelt wird, umso unbeweglicher und statischer will man selbst werden, keinen Millimeter nach einer Richtung abweichen, niemals nachgeben, der heiligen Wahrheit unbedingt ergeben sein. Verhandelt wird nicht mehr. Man mauert sich in seiner Wahrheit ein, betoniert sich geradezu ein, man macht sich selbst zum Mahnmal.
Das Schicksal (oder das Verhängnis, oder die Tragik der Epoche, wie immer man es auch nennen will) ist kein Problem, das man lösen könnte. Es ist kein Punkt auf einer To-do-Liste, der irgendwann abgehakt werden könnte. Es geht auch nicht vorbei – es tritt an uns heran. Wenn es an uns herantritt, erfordert es als Antwort nicht die Flucht in die Illusion, etwa in die Vorstellung, den Schaden instrumentell beheben zu können, sondern die individuelle und existentielle Bewältigung.
Nicht „Was tun?“ ist die richtige Frage, die wir uns angesichts des Schicksals zu beantworten haben, sondern „Wie sein?“.
Was soll das nun heißen? Es heißt nicht weniger, als das Private politisch aufzufassen und inmitten des Niedergangs der Ordnung im öffentlichen Bereich zeichenhaft die Ordnung im eigenen Leben zu verwirklichen; sich selbst als Repräsentanten des Wahren, Guten und Schönen zu begreifen, ohne dabei nach Effekt oder Erfolg zu schielen; auch nicht irgendetwas „bewahren“, sondern vielmehr etwas schaffen in den Kreisen, in denen man wirken kann, dem Trend zum Trotz.
Das richtige Leben im falschen führen, damit das falsche seiner Falschheit überführt werde. Das kostet innere Kraft, Disziplin und Mühe, aber es führt einen auch in größere Freiheit.
Ein gebuertiger Hesse
Sehr, sehr gute Einsichten. Runter wie Öl.