»Der Bekenntniszwang wird größer.«

Im Gespräch mit dem Schriftsteller Uwe Tellkamp
PDF der Druckfassung aus Sezession 93/Dezember 2019

Herr Tell­kamp, möch­ten Sie uns zum Ein­stieg das Benn-Gedicht nen­nen, das Ihnen auf Ihrem bis­he­ri­gen Lesens­weg den größ­ten Ein­druck hin­ter­las­sen hat?

TELLKAMP: Ganz klar »Schlei­er­kraut«. Mich hat der unver­kenn­ba­re Benn-Rhyth­mus sofort beein­druckt. Mir ist dann in mei­nem Stu­di­um auf­ge­fal­len, daß die Pro­fes­so­ren der Medi­zin, wenn sie denn Lyrik lasen, vor allem Benn gut kann­ten. Ich weiß noch: Ein Ana­tom, Paul Rother, der selbst auch Gedich­te geschrie­ben hat und sei­ne Vor­le­sun­gen teil­wei­se in Vers­form hielt, der zitier­te beim Sezie­ren immer Benn. Vor allem die Klas­si­ker aus der Mor­gue und den Gang durch die Krebs­ba­ra­cke. Auch eini­ge Patho­lo­gen und Haut­ärz­te kann­ten ihn.

Auf­grund der Mor­gue-Gedich­te?

TELLKAMP: Natür­lich auch, aber viel­leicht liegt es auch dar­an, daß Benn einer der weni­gen Lyri­ker ist, den erwach­se­ne Män­ner mögen – wo der Vor­wurf des Kit­sches oder des Puber­tä­ren voll­kom­men ins Lee­re läuft.

Liegt das an sei­ner äuße­ren Kälte?

Tell­kamp: Die Käl­te gibt es bei Benn vor allem in den Essays und in der Hal­tung, die Gedich­te hin­ge­gen sind sen­ti­men­tal grun­diert. Es gibt eine Sehn­sucht nach der Süd­see (etwa im Palau-Gedicht). Auch in den Mor­gue-Gedich­ten ist es nicht unbe­dingt Käl­te. Es ist ein­fach der Stoff, der ihm zur Ver­fü­gung steht und dem er dann in lyri­scher Form Aus­druck ver­lie­hen hat. Nach außen hin mag das sehr kraß wir­ken, aber für jeman­den, der das prak­ti­ziert, ist es Alltag.

Den­ken Sie aber an die dun­kel­hell­li­la Aster, ein Anflug von Romantik …

TELLKAMP: … genau, aber den bricht er ja sofort wie­der weg. Die dun­kel­hell­li­la Aster, die gemein­hin als die letz­te Blu­me der Roman­tik gilt, wird sofort weggestopft.

Uns leuch­tet ein, daß Sie Benn den Dich­ter der erwach­se­nen Män­ner nen­nen. Es grenzt viel­leicht an Gemein­heit, aber Geor­ge könn­te man in Anleh­nung dar­an zum Dich­ter der Jüng­lin­ge küren und Ril­ke zu dem der Schwiegermütter. 

TELLKAMP: So weit wür­de ich gar nicht gehen, aber die Häu­fung von gestan­de­nen Män­nern in Ben­ns Leser­schaft ist zumin­dest auf­fäl­lig. Ob die Pro­fes­so­ren ande­re Lyri­ker kann­ten, weiß ich nicht. Wenn sie mal etwas zitier­ten, dann meis­tens Benn. Nicht immer nur aus dem medi­zi­ni­schen Aspekt her­aus. Wenn man die Mög­lich­keit hat­te, mit den Pro­fes­so­ren direkt zu sprechen,
zeig­te sich oft eine umfas­sen­de Benn-Kennt­nis, die mich erstaun­te. Gegen­pro­be: Bei jun­gen Frau­en habe ich Benn nie­mals zitiert gefun­den. Da wür­de dann wahr­schein­lich eher Ril­ke ins Spiel kom­men. Es gibt offen­bar einen Vorbehalt.

Oft wur­de Benn gegen­über der Vor­wurf erho­ben, er sezie­re die Din­ge so unter­kühlt, daß auch sei­ne Distanz zur Moral eine erheb­li­che sei.

TELLKAMP: Das kann sein. Viel­leicht habe ich da eine zu ärzt­li­che Per­spek­ti­ve, weil der mora­li­sche Blick für einen Arzt nicht taugt. Wenn Ihnen als Chir­urg die Moral durchs Skal­pell fließt, geht’s schief. Da soll­te man klar trennen.

Kein Zufall also, daß Benn Medi­zi­ner war?

TELLKAMP: Wenn ich mich mit ande­ren Ärz­ten über ihn unter­hielt, war das Attri­but der Käl­te nie gegen­wär­tig. Im Gegen­teil. Als ich so alt war wie Sie, war er mir sehr nah, manch­mal sogar ein wenig onkel­haft. Unver­geß­lich sind mir die­se unfaß­bar hei­ßen Leip­zi­ger Som­mer geblie­ben. Som­mer­zeit war immer Prü­fungs- und nie Ferienzeit.
Unheim­li­cher Druck gepaart mit größ­ter Hit­ze, mit Schüs­seln auf dem Boden, wo wir durch­ge­gan­gen sind, damit es ein biß­chen küh­ler wur­de – und dann Benn als Figur, die dich das aus­hal­ten gelehrt hat, die auf ganz ele­men­ta­re Grund­tat­sa­chen zurück­ver­wies: Was ist das Leben? »Brü­cken­schla­gen / über Strö­me, die ver­ge­hen.« »Ein­sa­mer nie als im August: / Die roten und die gol­de­nen Brände …«.
Wenn Sie als Stu­dent in irgend­ei­ner Bude hock­ten mit fast vier­zig Grad und für Mikro­bio­lo­gie ler­nen muß­ten, da war Benn der Pate und nie Ril­ke oder sonst jemand. Das ist eine Ele­men­tar­er­fah­rung von Lyrik überhaupt.

Ril­ke hock­te auch nicht in Buden, son­dern krän­kelnd auf irgend­wel­chen Schlös­sern von Freunden.

Tell­kamp: Es ist bei Benn ein­fach här­ter und ver­bürg­ter. Er hat natür­lich auch eine pathe­ti­sche Lyrik, wobei ich glau­be, Pathos wird von Kri­ti­kern mit Grund­satz ver­wech­selt. Benn hat eher eine grund­sätz­li­che Lyrik. Er bricht die gesam­ten Aktua­li­tä­ten, die einen umschwir­ren, run­ter: Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß, Rose, Duft, Him­mel, Schwal­be, Süd­see, Tod. Das beschäf­tigt und beein­druckt natür­lich einen jun­gen Medi­zin­stu­den­ten, der mit Grund­la­gen kon­fron­tiert ist: Was ist das Leben über­haupt? Was ist Krank­heit über­haupt? Was ist eine Geburt? Wenn Sie das ers­te Mal zugu­cken und das Kind dort raus­flutscht, mehr tot als leben­dig, wenn Sie den Damm dann nähen, der blu­tet wie Schwein, wenn sie eine gro­ße Wun­de vor sich haben, wie
bei einem geköpf­ten Rind … das alles ist Benn.
Ich fin­de ihn auch des­halb fas­zi­nie­rend, weil ich kaum ein Leben ken­ne, das gestopf­ter gewe­sen wäre. Er hat alles erlebt, er war im Ers­ten Welt­krieg, er war im Nut­ten­spi­tal in Brüs­sel, hat dort geschrie­ben, hat die Infla­ti­on mit­ge­macht, er kann­te Hinz und Kunz, egal ob Brecht, Becher, Bron­nen oder Jün­ger … Er hat sogar noch Ernst von Berg­mann ope­rie­ren gese­hen, eine Chirurgenlegende.

Es muß ja einen Wen­de­punkt in Ben­nsn­Le­ben gege­ben haben, denn es gibt einen unver­kenn­ba­ren Bruch zwi­schen den ganz frü­hen und den spä­te­ren Gedich­ten, wo ein Sehn­suchts­ge­fühl hin­zu­tritt, das womög­lich durch den Ver­lust eines hei­len, geis­ti­gen Raums zu erklä­ren wäre. Für den geal­ter­ten Benn war die Gegen­wart ja nur mehr gesta­pel­te Faktenwirklichkeit.

TELLKAMP: Ich weiß nicht, ob es für Benn die­sen hei­len Raum je gab. Wenn ich ihn lese, dann stellt sich die­ses Gefühl nicht ein. Er kam aus einem Pfarr­haus und hat­te größ­te Pro­ble­me mit sei­nem Vater. Der Vater hat­te ja der Mut­ter, als sie im Ster­ben lag, das Mor­phi­um ver­wei­gert, da er Schmerz für gott­ge­wollt hielt. Dafür woll­te der jun­ge Benn ihn erschla­gen. Ich weiß nicht, ob für ihn Heil je außer­halb des Gedichts bestan­den hat.

Die Fra­ge wäre, um viel­leicht auch die Par­al­le­le zu unse­rer Zeit zu zie­hen, ob Benn die­se Sehn­sucht nach einem hei­len, geis­ti­gen Raum schon immer in sich trug …

TELLKAMP: … die gab es immer, auch wenn man sie in den Mor­gue-Gedich­ten noch nicht fin­det, son­dern eher in dem, wor­auf sie wei­sen. Die Mor­gue-Gedich­te kom­men mir vor wie Scher­ben eines sehr häß­li­chen Nacht­topfs, aber den Nacht­topf muß einer gefüllt haben, mit sei­nen Sehn­süch­ten und Hoff­nun­gen. Sie schwei­gen und spre­chen gera­de des­we­gen davon.

Sie fühl­ten sich vom »Schlei­er­kraut« direkt berührt. Mei­nen Sie, das ist eine Grund­ei­gen­schaft, die man in sich haben muß, das Sich-Berüh­ren-Las­sen-Wol­len, um Benn über­haupt ver­stän­dig lesen zu kön­nen, oder kann man das lernen?

TELLKAMP: Es ist die Fra­ge, ob einem per­sön­lich Lyrik zugäng­lich ist oder nicht, es ist kei­ne Fra­ge von Benn allein. Das Schlei­er­kraut-Gedicht kommt zwar bei Benn vor, ist aber viel­leicht nicht das typischs­te für ihn.

Wel­che wären typischer?

TELLKAMP: Die »Klei­ne Aster«: der frü­he, der kras­se Benn; »Zwei Din­ge«: der lako­ni­sche Benn; »Ein­sa­mer nie«: der roman­ti­sche Benn.
Was mich beim »Schlei­er­kraut« ein­fach ange­rührt hat, war die Musi­ka­li­tät und die voll­kom­me­ne Rück­füh­rung. Man hat das Gefühl, man hört ein Zeit­ge­räusch und von die­ser Schall­plat­te fährt einer den Ton­ab­neh­mer run­ter auf eine viel grund­sätz­li­che­re Schall­plat­te, die drun­ter spielt und in die­ser aktu­el­len Ton­la­ge nur punk­tu­ell noch zu hören ist. Ein ewi­ges Gedicht der Gegenwart.

Das legt ein Kon­ti­nu­um des Daseins frei. Auch wenn wir von geschlos­se­nen geis­ti­gen Räu­men spre­chen: Allein, daß das Gedicht mög­lich ist, ver­weist ja dar­auf, daß die­se Räu­me noch vor­han­den sind, zumin­dest auf den Ein­zel­nen bezo­gen. Was Sie gera­de beschrie­ben haben, die Ver­ge­gen­wär­ti­gung eines trans­his­to­ri­schen Moments im Gedicht, die­ses Motiv ist auch bei Ste­fan Geor­ge all­ge­gen­wär­tig. Doch hat Benn im Gegen­satz zu ihm kei­nen kul­ti­schen Bann­kreis um sei­ne Lyrik gezo­gen. War­um eigent­lich nicht?

TELLKAMP: Es gibt dar­auf eine dras­ti­sche und eine lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Antwort …

… wir wol­len natür­lich zunächst die drastische.

TELLKAMP: Benn war nicht schwul genug. Außer­dem war Benn immer noch im Äuße­ren Arzt, das erzieht zu einer Form von Demo­kra­tie, Sie sind dadurch mit einer Lebens­wirk­lich­keit kon­fron­tiert, in der Sie sich herr­scher­li­ches Geba­ren gar nicht leis­ten können.

Sie mei­nen also, Benn gehört auch als Figur ins 20. Jahr­hun­dert? Das könn­te man von Geor­ge näm­lich nicht behaupten.

TELLKAMP: Ich hat­te bei Geor­ge immer das Gefühl, er will etwas von Höl­der­lins Archi­pe­la­gus wie­der­erwe­cken, also eine geis­ti­ge, mit Grie­chen­land kon­ta­mi­nier­te Uto­pie, die mit­tel­al­ter­li­che Züge trägt. Da gibt es ja von Grün­bein die­ses Dik­tum, nach dem Geor­ge »der größ­te Dich­ter des Spät­mit­tel­al­ters im 20. Jahr­hun­dert« gewe­sen sei – wobei hier nur ein Spät­mit­tel­al­ter eher Wag­ner­scher Prä­gung gemeint sein kann, denn es ist ja nicht real, son­dern ein Sehn­suchts­ort, der mit gewis­sen Insi­gni­en ver­setzt ist.

Sicher, aber dem hät­te Geor­ge auch nie wider­spro­chen. Ihm war bewußt, daß alles, wor­auf sein geis­ti­ges Reich sich grün­de­te und berief, real und objek­tiv schwer­lich auf­zu­fin­den gewe­sen wäre, weil es ganz eige­ne Fin­dun­gen, viel­leicht Erfin­dun­gen­wa­ren. Im direk­ten Ver­gleich geht Benn sicher­lich als modern durch.

TELLKAMP: Ja, auch als all­täg­li­cher. Das Unmo­der­ne an Geor­ge hebt vor allem auf sei­ne Fremd­heit in der Zeit ab. Der geis­ti­ge Hall- und Lebens­raum von Stauf­fen­berg und Geor­ge etwa, der ist uns heu­te äußerst fremd, was ihn nicht unin­ter­es­san­ter macht – zumal die­se heu­ti­ge Fremd­heit noch lan­ge nicht die Unmög­lich­keit erneu­ter Annä­he­run­gen besiegelt.

Eine inter­es­san­te Fra­ge wäre, wenn man auf die Fremd­heit in sei­ner jewei­li­gen Zeit zu spre­chen kommt, auch die­se: War es nicht in bestimm­ten Zei­ten oppor­tun, sich von der jewei­li­gen Gegen­wart los­zu­sa­gen? Das war nicht zuletzt Brechts Vor­wurf an Geor­ge. Wer 1920 deut­lich mach­te, mit dem eige­nen tech­no­ma­nen und vul­gä­ren Zeit­al­ter nichts am Hut zu haben, der ging in Wirk­lich­keit mit der Zeit und wuß­te Mehr­hei­ten hin­ter sich.

TELLKAMP: Mich wür­de inter­es­sie­ren, wie ein gebil­de­ter Mus­lim Geor­ge liest. Ob es von dem her, was ich als Laie aus dem Koran ver­ste­he, ob es nicht dort sol­che Vor­stel­lun­gen des Jen­seits­rei­ches oder über­haupt des Got­tes­glau­bens gibt, die Geor­ge sehr nah kämen.

Das könn­ten wir ja mal in der Fuß­gän­ger­zo­ne aus­pro­bie­ren: »Sind Sie gebil­de­ter Mus­lim – und was hal­ten Sie von Ste­fan George?«

TELLKAMP: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das zum Affront füh­ren wür­de. Da urtei­len wir vor­nehm­lich aus unse­rer Zeit und aus unse­rem Kul­tur­kreis her­aus, anstatt ernst­haft zu fra­gen, wie in ande­ren Kul­tur­räu­men dar­über gedacht wird: Ob die­ser eli­tä­re Ansatz von Geor­ge viel­leicht als etwas Zeit­lo­ses wahr­ge­nom­men wür­de, das durch­aus auch in Koran­schu­len bestehen könn­te. Am Ende gibt es dort womög­lich mehr Geor­ge­sche Hal­tung als in unse­rer ver­wal­te­ten Kultur.

Was wir heu­te ver­mis­sen und bei Benn sowie eini­gen sei­ner Zeit­ge­nos­sen noch vor­fin­den, dürf­te doch nicht zuletzt dies sein: Aus dem Gefühl der eige­nen Zeit­fremd­heit rebel­li­sche Schöp­fer­kraft abzu­lei­ten, sich vor­zu­wa­gen mit neu­en For­men. Oder sehen sie der­glei­chen auch heute?

TELLKAMP: Ehr­lich gesagt nicht. Mir ist immer schlei­er­haft geblie­ben, war­um ein so star­ker Kon­for­mis­mus herrscht und man sich offen­bar auch noch wohl­fühlt dabei.

Glau­ben Sie denn, daß Benn zu Grö­ßen wie Volk oder Gesell­schaft Bezug hatte?

TELLKAMP: Das den­ke ich weni­ger – wobei man klar sagen muß, daß gera­de der spä­te Benn, der Benn des Büch­nerprei­ses und der Sta­ti­schen Gedich­te, Demo­krat war. Alles kommt in sei­nen Gedich­ten gleich­be­rech­tigt vor: der Pro­fes­sor, der dort raucht, das Bier, die Quer­flö­te, alles. Er kon­ta­mi­niert sei­ne Tex­te ganz bewußt mit All­tag. Ich fin­de es inter­es­sant, daß gera­de die­ser Benn eine Brei­ten­wir­kung in der Bun­des­re­pu­blik erlangt, wo sein Umschwen­ken gewis­ser­ma­ßen in den Zeit­geist paßt. Der frü­he Benn, der Radi­ka­lin­ski, kommt dort nicht vor und hät­te auch in der frü­hen Bun­des­re­pu­blik kei­nen Anklang gefunden.

Und der spä­te­re fügt sich naht­los ins Adenauer-Biedermeier?

TELLKAMP: Es ist die­se stoi­sche Hal­tung, die mich immer fas­zi­niert hat: Du bist letzt­lich bei den ele­men­ta­ren Din­gen allein, egal ob auf dem Toten­bett oder bei der Geburt. Das Ich und die Welt, die sich rings­um dreht. Das ist ein­fach eine Fra­ge der Stim­mung. Die Schla­ger, die vor­über­we­hen, die Hit­ze, die Groß­stadt im Som­mer, wenn alle im Urlaub sind. Eigent­lich eine
wun­der­bar pro­duk­ti­ve Zeit. Alle sind auf Mal­lor­ca oder Use­dom und du bist in der Groß­stadt, die Wän­de strah­len die Hit­ze ab. Du gehst in die Knei­pe, zischst ein Bier, wie Benn schreibt, und beob­ach­test die­se Wüs­te, die dort ent­stan­den ist.
Benn ver­mit­telt für mich Stim­mun­gen, die anders­wo in die­ser Inten­si­tät kaum wie­der­zu­fin­den sind.

Benn nen­nen Sie inso­fern demo­kra­tisch, als er kei­nen Gegen­stand von sei­nen Gedich­ten aus­schließt. Aber ist er auch Demo­krat in der Form?

TELLKAMP: Nein. Lyrik ist immer aris­to­kra­tisch, das ver­steht sich von selbst. Lyrik ist nie ein Mas­sen­phä­no­men. Des­we­gen wirkt die »Erklä­rung der Vie­len«, um für einen Augen­blick in die Tages­po­li­tik zu schwen­ken, für mich um so absur­der, wenn dort Lyri­ker unter­schrei­ben. Lyri­ker sind immer Aristokraten.

Um unse­rer­seits einen Bogen zur Gegen­wart zu schla­gen: Sie schrie­ben einst, »im guten Kunst­werk fehlt der Ter­ror der Ein­deu­tig­keit«. Die kunst­not­wen­di­ge Ambi­va­lenz fin­den wir bei Benn sicher­lich vor.
Wenn wir hin­ge­gen heu­te auf den Kul­tur­be­trieb bli­cken: Gibt es da noch etwas, das sich der Ver­eindeu­ti­gung ent­schla­gen kann?

TELLKAMP: Das kann ich pau­schal nicht sagen, neh­me die Ver­en­gung aber wahr. Das gute Kunst­werk ist nie ver­ein­nahm­bar. Das gute Kunst­werk hat nicht recht.

Sie haben selbst ein Buch geschrie­ben, das in der Öffent­lich­keit sehr wohl­wol­lend rezi­piert wur­de. Daß die­ses Werk nun in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung durch Ihre poli­ti­schen Äuße­run­gen beschä­digt wur­de, schmerzt Sie das?

TELLKAMP: Das tut weh und das stört mich auch, aber es ist unver­meid­bar. Das ist das Spiel des Lebens.

Das Schö­ne bei Ihnen ist doch: Sie bekom­men Ihre Bücher bloß zivi­li­siert zurück­ge­schickt und nicht wie der kom­pro­mit­tier­te Knut Ham­sun sei­ner­zeit wut­ent­brannt über den Gar­ten­zaun geworfen.

Tell­kamp: Doch, ich habe auch schon Wer­ke geschred­dert zurück­be­kom­men. Eins wur­de durch den Reiß­wolf geschickt, nur das Titel­blatt blieb unbe­schä­digt, damit ich sehen konn­te, wel­ches es ist.

Das ist ja abartig.

TELLKAMP: Das ist schon fast Lie­be. Das hat mir wirk­lich zu den­ken gege­ben. Die­ses Paket voll mit Reiß­wolf­schred­der, das dau­ert ja auch eine Wei­le bis man es da durch­ge­schickt hat. Das hat Mühe gemacht. Aber es ist unver­meid­bar, das muß man wis­sen, wenn man in die Are­na steigt in einer der­art auf­ge­heiz­ten Zeit. Alles ande­re wäre naiv.

Vor 2017 haben Sie sich eher zurück­ge­hal­ten. Als wir in jun­gen Jah­ren im Freun­des­kreis Ihren Turm lasen, da war uns schon klar, daß hier einer schreibt, der wahr­schein­lich kon­ser­va­tiv ist oder zumin­dest nicht dog­ma­tisch links. Wie­viel Über­win­dung hat Sie das gekos­tet, sich in die poli­ti­sche Debat­te einzumischen?

TELLKAMP: Eini­ges an Über­win­dung. Ich habe das ja schon­mal aus­ge­ba­det, beim Eis­vo­gel oder auch zu mei­ner Stu­di­en­zeit in Leip­zig beim Stu­Ra. Man fragt sich ja schon: Willst du dir das noch­mal antun, du hast Lite­ra­tur zu schreiben.
Natür­lich wäre es auch klü­ger, sich so zu ver­hal­ten, als gäbe es gewis­se Pro­ble­me nicht. Und man muß sich außer­dem fra­gen: Wie ergeht es dei­nen Kin­dern dabei, was hat das für Kon­se­quen­zen? Kriegst du ’nen Molo­tow ins Fens­ter geschmis­sen? Wenn man sich aller­dings ein­mal ent­schie­den hat, dann soll­te man die Sache auch ohne Zögern und Zurück­wei­chen angehen.

Haben Sie Ihre Ent­schei­dung ganz aus per­sön­li­chen Moti­ven getrof­fen oder woll­ten Sie auch für die im öffent­li­chen Diskurs
viel­ge­schmäh­ten Dresd­ner lokal­pa­trio­tisch Par­tei ergreifen?

TELLKAMP: Das habe ich pri­mär aus per­sön­li­chen Grün­den gemacht, weil es mich ein­fach ange­stun­ken hat, wie die Debat­te in Deutsch­land läuft: Die Ver­lo­gen­heit, die Heu­che­lei und das Elend des Jour­na­lis­mus. Der immer schlim­mer wer­den­de Umgang auch mit mei­ner Freun­din Susan­ne Dagen. Gewis­se Selbst­er­mäch­ti­gun­gen und Selbst­er­hö­hun­gen. Da habe ich mir irgend­wann gesagt: Jetzt reicht es mir, nun kann ich ein­fach nicht mehr still im Elfen­bein­turm sit­zen bleiben.

Haben Sie das bereut?

TELLKAMP: Nein.

Freu­en Sie sich denn auch ein wenig über die tur­bu­len­ten Zei­ten oder hät­ten Sie es lie­ber ruhiger?

TELLKAMP: Ich per­sön­lich habe es eigent­lich ger­ne ruhig, wie die meis­ten Leu­te. Eigent­lich wol­len die Leu­te in Ruhe gelas­sen wer­den – wer­den sie aber nicht. Hier bre­chen alte Dis­kur­se auf, drei­ßig Jah­re nach der Wen­de. Vie­le Bür­ger­recht­ler fra­gen sich, wofür sie über­haupt damals auf­ge­stan­den sind, wenn der glei­che Spuk jetzt wiederkommt.

Wür­den Sie denn sagen, daß es einen qua­li­ta­ti­ven Unter­schied gibt zu dem, was Sie aus DDR-Zei­ten ken­nen? Im Turm
beschrei­ben sie sehr detail­liert eine Nische, in die man sich mit Lite­ra­tur und Musik zurück­zie­hen konn­te. Die­se Nische
scheint es heu­te in die­ser Form nicht mehr zu geben.

TELLKAMP: Das hat aber auch ande­re Grün­de. Damals hat­ten vie­le Leu­te ein­fach viel Zeit, da dau­er­te der Arbeits­tag sechs oder acht Stunden.
Mei­ne Eltern und mein Onkel, die haben um 16 Uhr immer Deutsch­land­funk gehört, dann kam danach der Onkel in Pan­tof­feln rüber und frag­te, ob man die­ses oder jenes gehört habe.
Da gab es die­sen Jour­na­lis­ten aus Baut­zen in »Deutsch­land­funk-Hin­ter­grund«. Der hat­te in der DDR geses­sen, ein Pflicht­pro­gramm für jeden. Sol­sche­ni­zyns Archi­pel Gulag zir­ku­lier­te, wur­de abge­schrie­ben. Oder man fuhr auf die Buch­mes­se, um Bücher zu klau­en und sie dann am Bahn­hof im Schließ­fach zu verstecken.

Sie beschrei­ben noch eine rich­ti­ge Lust und Ener­gie, sich am kul­tu­rel­len Aus­tausch zu betei­li­gen. Wenn man heu­te sieht, wie
alles zuneh­mend gleich­gül­tig behan­delt wird, könn­te man in die­ser Hin­sicht fast nost­al­gisch wer­den gegen­über einer Zeit,
die man selbst nicht erlebt hat.

TELLKAMP: Das kommt aber wie­der. Da müs­sen Sie nur mal hier nach Dres­den ins Kul­tur­haus Losch­witz gehen. Da kom­men mitt­ler­wei­le sogar Leu­te aus West­deutsch­land. Eine ähn­li­che Stim­mung wie ’89.

Sicher­lich ken­nen Sie auch ande­re zeit­ge­nös­si­sche Schrift­stel­ler. Gibt es denn im Lite­ra­tur­be­trieb auch Bewegung?

TELLKAMP: Naja, alle Schrift­stel­ler sind Indi­vi­dua­lis­ten. Natür­lich sind da bekann­te Namen wie Botho Strauß oder Mar­tin Mose­bach zu nennen.

Aber es gibt auch vie­le jun­ge Leu­te, die tat­säch­lich schrei­ben können.

TELLKAMP: Klar, die gibt es. Ich schät­ze aber bei­spiels­wei­se auch Jen­ny Erpen­beck sehr, obwohl sie in der Flücht­lings­fra­ge mit Sicher­heit ande­rer Mei­nung ist als ich. Auch das, was Gün­ter Grass poli­tisch abge­son­dert hat, strotz­te nicht gerade
von Klug­heit. Das hin­dert mich aber nicht dar­an zu erken­nen, daß er mit der Blech­trom­mel ein genia­les Buch geschrie­ben hat.

Die­se Trenn­schär­fe im Urteils­ver­mö­gen scheint aller­dings aus der Mode gekommen.

TELLKAMP: So ist es, aber man darf sich von sol­chen Ten­den­zen nicht ver­ein­nah­men las­sen. Den­noch gibt es natür­lich auch eini­ge, die unter wirt­schaft­li­chen Zwän­gen lei­den. Auch wie sich das Ver­lags­we­sen ent­wi­ckelt, bleibt abzuwarten.
Der Bekennt­nis­zwang wird größer.

Wie sagt Klo­novs­ky: »Die Demo­kra­tie endet, wo ein Bekennt­nis zu ihr gefor­dert wird.«

TELLKAMP: Abso­lut.

Wenn Sie drei Per­so­nen nen­nen müß­ten, die Sie am nach­hal­tigs­ten beein­flußt haben, wel­che wären das? Ganz gleich, ob Lyriker,
Roman­ciers oder andere.

TELLKAMP: Benn ist schon­mal gesetzt, klar. Sicher­lich auch Frie­de­ri­ke May­rö­cker, die ist völ­lig frei. Und dann viel­leicht noch Hei­mi­to von Dode­rer, Tho­mas Mann, Proust und Juli­en Gracq, das wäre so eine Väter­ga­le­rie. Ich habe immer ein Pro­blem mit Kon­ser­va­tis­mus, wenn es um das Vor­der­grün­di­ge geht, um das, was man sofort erken­nen kann. Bei Micha­el Triegel
oder Mar­tin Mose­bach zum Bei­spiel, da fin­de ich wenig Ver­wand­tes. Wenn das Kon­ser­va­tis­mus ist, bin ich nicht konservativ.

Es gibt einen Unter­schied zwi­schen Kunst und bil­dungs­bür­ger­li­chen Turn­übun­gen, wie Gün­ter Maschke sagen wür­de. Zur
Kunst gehört immer noch etwas ganz Anderes.

TELLKAMP: Für mein Ver­ständ­nis ist es schon so, daß man mit ewi­gen Prin­zi­pi­en die Gegen­wart erfaßt, so daß sie erkenn­bar bleibt und aber trotz­dem das Grund­sätz­li­che, das Über­zeit­li­che durch­schim­mert. Trotz­dem liegt dei­ne Aufgabe
in der eige­nen Zeit.

Suchen Sie aktu­ell eine neue Form für Ihren Stoff?

TELLKAMP: Die Fra­ge ist immer, wie man mit Zeit umgeht und Zeit­lich­keit. Unse­re Gegen­wart ist für mich eine Zeit, die durch­schos­sen ist von Resi­du­en. Das war ver­mut­lich zu jeder Zeit so, aber viel­leicht bemer­ken wir das heu­te stär­ker durch die Ver­füg­bar­keit die­ser Residuen.
Das heißt: Was wir als Gegen­wart defi­nie­ren, ist durch­split­tert von Ver­gan­gen­heits­re­lik­ten. Wie stellst du dann eine Gegen­wart dar, die einer­seits tech­nisch eine ist und gleich­zei­tig drum­her­um aus einer Land­schaft von Über­bleib­seln besteht?
Ist es dann gestat­tet, relik­tuös zu schrei­ben? Ist es statt­haft, über Pun­ker wie Jean Paul zu schrei­ben? Ist das modern? Wo ist der Punkt bei Jean Paul? Mich inter­es­siert nur, wie ich die­se Fra­gen und Pro­ble­me in den Griff krie­ge, alles andere
ist für mich nach­ran­gig. Ich habe dabei kei­ner­lei Angst vor poli­ti­schen Kon­ven­tio­nen, egal ob ich Indy­me­dia lese oder TUMULT. Das ist die Ruch­lo­sig­keit des Arztes.

Das neh­men wir uns auch ohne Medi­zin­stu­di­um her­aus. Wenn Sie aller­dings vor­ge­ben, kein Kon­ser­va­ti­ver zu sein und zugleich in ihrem Essay­werk bedau­ern, daß kei­ner mehr Ama­de­us Weber­sin­ke kenne …

TELLKAMP: …klar, das ist Kon­ser­va­tis­mus. Ja, kon­ser­vie­ren, aber in wel­cher Form? Sie kön­nen die bewähr­ten Mit­tel zum Kon­ser­vie­ren neh­men oder las­sen sich etwas ande­res ein­fal­len – und genau da fängt ja der Avant­gar­dis­mus an: Wie kon­ser­vie­re ich? Aber das tun wir ja alle, das ist für mich das Para­do­xe an der Dis­kus­si­on. Wel­cher Künst­ler, wel­cher Autor ist denn nicht kon­ser­va­tiv? Wovon leben wir denn, wenn nicht von Erin­ne­run­gen, von der Kind­heit, der Jugend? Wer schreibt, konserviert.

Ohne­hin müß­te man in der poli­ti­schen Dis­kus­si­on zumin­dest für West­eu­ro­pa viel­leicht »kon­ser­va­tiv« durch »restau­ra­tiv«
erset­zen, weil es ein­fach nicht mehr so viel zu bewah­ren gibt. In Ost­eu­ro­pa reicht es einst­wei­len noch aus, kon­ser­va­tiv zu sein. Andern­orts ist die Sub­stanz bereits zu sehr ver­braucht, doch wo von neu­em anknüp­fen, ohne sich dabei in natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­rer Roman­tik zu verlieren?

TELLKAMP: Ich sehe guten Grund zum Opti­mis­mus im Pes­si­mis­mus. Je schlech­ter es einer Gesell­schaft geis­tig und mate­ri­ell geht, des­to eher fin­den Rück­be­sin­nun­gen statt und kommt der Kul­tur­hun­ger zurück. Zu mei­ner Stu­di­en­zeit habe ich danach gesucht, aber nie­man­den gefun­den, mit dem man dar­über hät­te reden kön­nen. Ich war voll­kom­men iso­liert. Heu­te gibt es ja schon eini­ge Gegen­ten­den­zen, gera­de hier in Dres­den. Und doch wird die­ses Tra­die­ren letzt­lich immer eine Sache von Weni­gen bleiben.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)