Es gibt Situationen, die sich im Moment des Geschehens als völlig chaotisch darstellen und die sich später als weltgeschichtliche Schlüsselszenen erweisen. Solch ein Ereignis fand vor dreißig Jahren in Berlin statt: die Öffnung der Berliner Mauer.
Was im Nachhinein als eine logische Konsequenz aus dem Niedergang des Kommunismus in der Sowjetunion interpretiert werden kann, war für manchen der unmittelbar Beteiligten eine Herausforderung ohne jede Logik. Einer von ihnen war ein Stasimitarbeiter, der als Oberstleutnant der Grenztruppen an diesem Abend an der Grenze Dienst tat.
Daß die DDR nicht mehr handlungssicher war, war ihm nicht entgangen. Aber er und seine Vorgesetzten rechneten offenbar nicht mit der Dynamik, die durch die Worte Günter Schabowskis in der legendären Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 ausgelöst wurde.
Die Berliner zogen los, um an der Mauer die Gültigkeit der Aussage, das neue Reisegesetz gelte »unverzüglich«, zu überprüfen. So trafen der bereits erwähnte Oberstleutnant und die reisewilligen Berliner an der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße aufeinander.
Es lag kein Befehl vor, wie solch einer Situation zu begegnen sei. Es ging ja nicht mehr um einzelne Grenzverletzer, sondern um Menschenmassen, die sich auf eine Aussage der Staatsspitze beriefen. Was tut man in solch einer Situation? Weil man als Untergebener eigentlich nur das Falsche tun kann, meldet man nach oben und belastet die Vorgesetzten.
Von denen kam aber nichts zurück, denn dort kannte man die Lage nicht und schenkte den Meldungen keinen Glauben. Also mußte unter anderem an der Bornholmer Straße eine freie Entscheidung getroffen werden. Gänzlich frei war die Entscheidung natürlich nicht, denn die Situation drohte zu eskalieren.
Aber es galt immer noch der alte Befehl, niemanden über die Grenze zu lassen. Aber eben dieser Befehl erwies sich in der Lage vor Ort als lebensfremd, und es regten sich Zweifel, wie sinnvoll die Ausführung dieses Befehls überhaupt noch sei. In welchem Verhältnis würden die absehbaren, fast sicher brutalen Konsequenzen aus der Ausführung zum Nutzen stehen?
Solch eine Abwägung setzt bereits voraus, daß der Vorgesetzte nicht mehr automatische Gefolgschaft einfordern kann. Und so war es zweifellos: In der DDR war in den Monaten zuvor einfach zu viel passiert. Der Oberstleutnant konnte also im Sinne des alten, strikten Grenzbefehls handeln und die Grenze geschlossen halten, notfalls mit Gewalt.
Oder er handelte gegen den Befehl und damit auf die Vermutung hin, daß sich etwas weit jenseits der gewohnten Norm ereignet hatte. Nun, wir wissen: Letzteres geschah, und uns erscheint das heute natürlich folgerichtig: die DDR war am Ende und einer ihrer Büttel hatte das gerade noch rechtzeitig erkannt.
Wenn wir aber bedenken, daß dieser Oberstleutnant fast sein ganzes Leben in diesem Dienst zugebracht hatte, müssen wir feststellen: Es gehörte doch eine Menge gesunder Menschenverstand und auch Mut dazu, gegen Erziehung, Ideologie und Befehl zu handeln, nur weil mutmaßlich eine andere Zeit angebrochen war.
Ganz offensichtlich ist dieses Ereignis auch für unsere Gegenwart wichtig: Es führt uns die Situation des Handelnden vor Augen, der eine Entscheidung gegen seine Gewohnheit und die bislang akzeptierte Norm treffen muß. Das ist wichtig, weil der kritische Zeitgenosse auch heute, wenn er mit seiner Kritik ernst macht, immer und zu jeder Zeit vor so eine Entscheidungssituation gestellt werden kann.
Das Ereignis zeigt uns aber gleichzeitig auch deutlich, daß sich Entscheidungen in historischen Situationen nicht als Schablone für künftige Entscheidungen eignen, denn die Situationen unterscheiden sich. Die Deutschen haben im 20. Jahrhundert zwei Brüche gemeinsam erlebt: zuerst den von 1918, als die Jahrhunderte gültige Gesellschaftsordnung plötzlich nicht mehr galt.
Das hatte eine erste Erschütterung der Ordnung zur Folge, da jede Ordnung auf Vertrauen basiert, das dann schwindet, wenn der geleistete Eid auf einmal nichts mehr gilt und durch einen neuen ersetzt wird. Der zweite Bruch erfolgte 1945, als wiederum eine Ordnung zusammenbrach und eine neue installiert wurde, die den Zeitgenossen zumindest für einige Jahre suggerieren konnte, daß sie länger stabil bleiben würde als lediglich ein Menschenalter.
Die Niederlage und der Umbruch von 45 waren so radikal, die Widerlegung Deutschlands so umfassend und das Angebot der Sieger so verlockend, daß sich seither die Überzeugung etabliert hat, diese Ordnung könne sogar ewig halten, schon einfach aus dem Grund, weil sie die beste aller möglichen sei.
Diese Überzeugung gab es nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR, für einige Zeit sogar auch außerhalb der kommunistischen Führung. Als nur noch die Führung daran glaubte, baute man 1961 die Mauer, um sich gegen das eigenen Volk mehr Zeit für das Experiment Sozialismus zu erkaufen.
Dann kam 1989 und damit für einen kleinen Teil der heutigen Deutschen wieder die Erfahrung, wie es ist, wenn eine Ordnung über Nacht zusammenbricht, aber eben auch die neue Erfahrung, daß es möglich ist, eine Ordnung zu stürzen.
Diese Erfahrung stellt sich in der heutigen Situation als ein entscheidender Unterschied zwischen West- und Mitteldeutschland heraus, der sich offenbar in den Wahlergebnissen für die AfD niederschlägt. Aber nicht nur die Wahlergebnisse sind anders, auch die Partei ist im Osten in Personal und Auftreten kompromißloser und weniger darauf bedacht, bei den Altparteien um Anerkennung zu buhlen.
Die Ossis müssen sich dafür von westdeutschen Eliten als Dunkeldeutsche titulieren lassen, deren ideologischer Fehlstellung nur noch mit der massenhaften Ansiedlung von Ausländern abgeholfen werden könnte. Solche Entgleisungen sind keine Einzelfälle mehr, sie haben ihren Grund in der gesellschaftlichen Zuspitzung der letzten fünf Jahre.
Die Unterschiede, die man überwunden glaubte, treten stärker zutage und werden auch im Osten wieder deutlicher betont. Die Verwerfungen der Wende sind Geschichte. Aber in Krisenzeiten besinnt man sich auf das Eigene und merkt, daß man anders ist.
Daß man nicht so leben möchte wie in Berlin-Kreuzberg, daß man nicht angelogen werden möchte, daß man sich seine Meinung nicht vorschreiben lassen möchte und daß man die Unabhängigkeit der Medien schon immer für ein frommes Märchen gehalten hat.
Man kennt die Versuche der ideologischen Bevormundung und hat keinen Bedarf an einer DDR 2.0, während man sich gleichzeitig nicht einreden lassen möchte, durch seine Herkunft aus der DDR an einem Demokratiedefizit zu leiden. Dieser scheinbare Widerspruch weist in eine Richtung, die aus dem Ossi so etwas wie eine Avantgarde unter den Deutschen macht, weil sie in einer Situation, in der die pluralistischen Eliten den Ton angeben, das multikulturelle Paradies ablehnen und stattdessen lieber unter sich bleiben wollen.
In dieser Frage stehen die Ossis teilweise den anderen Völkern des ehemaligen Ostblocks näher als ihren deutschen Brüdern und Schwestern im Westen. Dort ist der Anteil derjenigen, die bereit wären, einen Preis für eine Alternative zu zahlen, geringer.
Aber die Alternative steht allen offen, vorausgesetzt, man hält den gegenwärtigen Zustand nicht für das Ende der Geschichte. Allerdings bringt das Gerede von der »DDR 2.0« keine neuen Erkenntnisse, da die damaligen Rahmenbedingungen ganz andere waren.
Die DDR war ein Gebilde ohne offizielle Gewaltenteilung und mit einer geschlossenen Außengrenze. Das setzte die Rahmenbedingungen für die Verhältnisse innen, ohne unmittelbar totalitär zu sein. Denn klar war, daß unter solchen Voraussetzungen persönlich gestaltbare Freiräume gewährt werden mußten, wenn das Ganze nicht gleich implodieren sollte.
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Gebilde mit offizieller Gewaltenteilung und ohne geschlossene Außengrenzen. Das sind innere Voraussetzungen, keine Rahmenbedingungen. Geblieben ist von dem ganzen Zauber der Liberalität nur die offene Außengrenze, alles andere hat sich in einem atemberaubenden Tempo verflüchtigt.
Die »Freiheit wozu« hat sich damit verabschiedet zugunsten einer Illusion, die als vermeintliche »Freiheit wovon« alle Wahlmöglichkeiten zu bieten scheint. Damit sind unsere Staaten auf dem Weg »ins Offene«, das kurioserweise totalitäre Züge trägt: Ohne stabilen Rahmen bleiben vom Volk nur »Gesinnungsgemeinschaften« übrig und die tragen, je mehr sie angefeindet werden, zunehmend sektenhafte Züge.
Das hat mit Demokratie nicht mehr viel zu tun, auch wenn die Propaganda das Gegenteil behauptet.
Der Streit um die richtige Freiheit wurde auch damals geführt, als die DDR noch existierte. Denn der Osten hat ja ebenso wie der Westen behauptet, das eigentliche Wesen der Freiheit verwirklicht zu haben – ein Widerspruch, den der Philosoph Wilhelm Weischedel am Begriff der Freiheit selbst festmachte: Wenn man unter Freiheit einen Spielraum versteht, innerhalb dessen man die Wahl hat, eine bestimmte Entscheidung zu treffen, und diese Freiheit zudem als Selbstbestimmung versteht, durch die man Herr über sich selbst ist, dann gibt es offenbar verschiedene Momente von Freiheit, die man gegeneinander ausspielen kann.
Die westliche Lesart der Freiheit bedeutete, den Menschen möglichst auf sich selbst und seine eigene Entscheidung gestellt zu sehen. Das kollidiert nicht selten mit der sozialen Wirklichkeit, in der es besonders starke Konventionen gibt, die diesen Spielraum gerade nicht für alle öffnen.
Der östliche Freiheitsbegriff setzte genau an diesem Punkt an und legte Wert auf die Schaffung eines gesellschaftlichen Spielraums, der für jeden Menschen offen stehen sollte, ohne Blick auf die soziale Herkunft. Was dabei ins Hintertreffen geriet, ist die Tatsache, daß eine Freiheit nur dann als solche empfunden wird, wenn man die Wahlmöglichkeit auch verwirklichen und über sich selbst verfügen kann.
Der Sieg von 1989 hat nun zu der Fehlwahrnehmung geführt, daß der westliche Freiheitsbegriff der einzig richtige wäre. Dieser Absolutheitsanspruch verträgt sich schlecht mit einem wesentlichen Garanten der Freiheit, der Gewaltenteilung. Gewaltenteilung ist das Gegenteil vom absoluten Wissen.
Für die absolute Orientierung, die »absolut richtige Einrichtung des absolut richtigen Lebens, die auf absoluter Wahrheitsfindung beruht« (Odo Marquard), sind wir nicht lange genug auf der Welt. Der große Unterschied zwischen der Situation 1989 in der DDR und der heutigen in den westlichen Industriestaaten liegt darin, daß damals eine Alternative existierte, an der man sich orientieren konnte.
Man ahnte sicher, daß es sich dabei nicht um das Paradies handelte, aber immerhin war es etwas, das existierte und ganz offenbar besser funktionierte. Es fällt uns heute im Vergleich zur Situation in der DDR deutlich schwerer zu sagen, was wir eigentlich anders machen wollen.
Mit der Forderung nach weniger Ausländern und der Schließung der Grenzen ist es ja nicht getan, weil das globalisierte Wirtschaftssystem keine Rücksicht darauf nimmt, wie sich ein einzelnes Volk seine Zukunft vorstellt, sondern mit dem wirtschaftlichen Abstieg droht.
Wenn man sich Japan anschaut, wird zwar deutlich, daß man auch ohne Einwanderung bestehen kann, allerdings wird man dann länger arbeiten müssen und weniger Urlaub machen können. Das heißt, man muß Opfer bringen, um einen Zustand zu erreichen, von dem man gar keine konkreten Vorstellungen hat.
Die Kernfrage lautet: Warum fällt es uns so schwer, unsere eigene Zeit wirklich, mit allen Konsequenzen in Frage zu stellen? Denn eigentlich müßten wir dafür hervorragend gerüstet sein, wird uns doch seit der Grundschule beigebracht, alles, aber auch wirklich alles zu hinterfragen und zu bezweifeln, was der Vergangenheit angehört.
Wir erheben uns über die Vergangenheit, sind jedoch nicht in der Lage, die Gegenwart selbst in Zweifel zu ziehen. Und das, obwohl die DDR ihre Normen wesentlich härter verteidigte als selbst die heutige Bundesrepublik, in der es immer mehr Bereiche gibt, die von Gesinnungswächtern immer schärfer kontrolliert werden.
Aber schon zu Hochzeiten des Kalten Krieges beklagte der rechte Publizist Armin Mohler die »Mauer aus Kautschuk« im Westen. Er meinte damit eine Grenze, gegen die man anlaufen könne, ohne daß sie nachgebe, aber auch ohne daß dem dagegen Anrennenden der Aufprall besonders weh täte.
Das war in der DDR anders, die Konsequenzen waren härter. Auch fiel die Argumentation gegen das System leichter, weil es ja nicht nur den Gegenentwurf, sondern auch eine ausgefeilte Kritik am real existierenden Sozialismus gab, die aus völlig verschiedenen Ansätzen zu dem gleichen Ergebnis kam: Der Sozialismus ist nicht zukunftsfähig.
Heute hat sich das liberale System gegen Kritik immunisiert, indem es sich als Krone der Geschichte begreift und selbst heiligspricht. Diese Auffassung hat der Philosoph Hermann Lübbe einmal mit dem schönen Wort des »demokratischen Dummstolzes« bedacht.
Der zeichnet sich nicht nur dadurch aus, daß er sich selbst als Endpunkt der Geschichte begreift, sondern auch dadurch, daß er allen vor ihm liegenden Zeiten das Eigenrecht abspricht. Ein Zeitalter qualifiziert man heute am einfachsten ab, indem man es als »vordemokratisch« bezeichnet.
Das Paradies ist nach dieser Lesart nur deshalb noch nicht erreicht, weil regelmäßig Widersacher – sei es Putin, sei es Trump, seien es unliebsame Parteien – die Bühne betreten, Vorbehalte anmelden, den Konsens stören. Hier setzt sich etwas fort, was die Alliierten in zwei Weltkriegen vorgemacht haben.
Man gibt nicht nur vor, für die bessere Sache zu streiten, sondern gleich für die ganze Menschheit. Diese Behauptung läßt sich zwar leicht widerlegen, allerdings findet ja kein fairer Kampf der Argumente statt. Das Ergebnis ist dann im Extremfall, daß selbst die freie und geheime Wahl nicht mehr innerlich frei vollzogen wird, weil die Regie dem Kritiker vorzuspiegeln versucht, »daß er sehr einsam sei« (Ernst Jünger).
Nun leitet sich aus dem schlichten Dagegensein noch nicht ab, daß der Kritiker auch richtig liege. Es stellt sich immer wieder das Problem des obersten Wertes, an dem man sein Dagegensein ausrichtet. Wer aus purem Egoismus bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen ablehnt, weil jetzt gerade sein Vorgarten betroffen ist, wird kaum beanspruchen können, auf dem Pfad der Wahrheit zu wandeln.
Es gilt, die Entscheidung nicht für den eigenen Vorteil zu treffen. Wie vor 1989 die DDR-Führung gerieren sich die Verantwortlichen in der Bundesrepublik in moralisierender Art und Weise als Garant der Freiheit und unterstellen ihren Kritikern, die multikulturelle Freiheit der identitären Knechtschaft opfern zu wollen.
Das ist so plump wie wirkungsvoll. Um diese Wirkung zu erschüttern, muß der schwierigste Schritt am Anfang gemacht werden. Es gilt, den falschen Freiheitsbegriff der Alternativlosigkeit, der nur eine bedingungslose »Freiheit wovon« kennt, wieder in eine gebundene »Freiheit wozu« umzuwandeln.
Dann werden sich, so Ernst Jünger, nicht nur »Punkte wie auch Flächen« zeigen, »auf denen eine neue Freiheit bewußt wird«, sondern auch jene, »auf denen die Furcht geringer wird«.