Es sei denn, wir fühlen uns vom Ausnahmezustand geschützt, weil wir uns ohne ihn gefährdet wähnen. Wenn nicht, so bleiben uns kaum Einspruchs‑, geschweige denn Änderungsmöglichkeiten. Die früher allzu vertrauten Versicherungen gegenüber Willkür gibt es de jure noch, aber sie sind teilweise außer Kraft oder in ihrer Handhabung geändert: Grundrechte, Mitbestimmung, Gewaltenteilung, unabhängige Rechtsprechung, Pressefreiheit. Friseure gibt es ja auch noch, sie dürfen nur nicht frisieren. Ganz zu unserer und ihrer Sicherheit, klar. Das System wird uns fremd.
Wo sich eine Mehrheit in Übereinstimmung mit der Exekutive und deren ins Werk gesetzten Abriegelungen befindet, da bleiben der großen skeptischen Minderheit kaum Möglichkeiten, die einst als sicher geltenden Freiheiten einzufordern. Aber selbst wenn wir murren, bleiben wir doch folgsam. Wir sollen solidarisch sein und sind’s.
Unsere Willfährigkeit rührt weniger aus der Angst vor dem als giftstachlig dargestellten Virus als aus der Sorge, mit unseren ungenauen Ahnungen doch falsch zu liegen und schuldig zu werden an zulaufenden Kliniken und Triagen. Vor einem Jahr wurden wir gewarnt, den Tod nicht zu Eltern und Großeltern zu tragen: “Bring Corona nicht zur Oma!”
Wer könnte solche Schuld je tragen? Also schleichen wir weiter, gesenkten Blicks, die nasse Maske vorm Gesicht. Eine dystopische Szenerie. Folgen wir nur beflissen den Vorgaben, sind wir im Sommer so wie immer am Strand. Heißt es.
Urteilen wird letztlich die Geschichte darüber, ob die Erfordernisse für die lähmende Einschränkungs- und Verbotspolitik bestanden. Bislang haben Institutionen wie das Robert-Koch-Institut und die Leopoldina den Ausnahmezustand als unabdingbar angesehen. Die Büchse der Pandora wäre geöffnet, hieß es. Indem sie nach Beratung mit ausgewählten Beratern meinten, daß eine außerordentlich gefährliche Pandemielage im Sinne einer Naturkatastrophe bestand, entschieden die Exekutiven in Videokonferenzen ein ums andere Mal neue Sperrmaßnahmen. Die Parlamente nickten danach alles ab. Wer denn, meinten auch die sogenannten Volksvertreter, könnte es besser wissen als dieser Welten-Areopag von Medizinern, Epidemiologen und Mikrobiologen, die ihrem Beruf nach immer zuerst den Kranken sehen – und ihn nun überall sehen.
Das Schlaglicht liegt auf einem “neuartigen Virus”, das im Schein verordneter Aufmerksamkeit signalrot zu leuchten begann, umwimmelt von seinen Mutationen (F.A.Z.: “Europa im Griff der Mutanten!”), die als noch gefährlicher mystifiziert werden. Alle anderen Lebensrisiken scheinen relativiert, ja beinahe nichtig. Der Super-Trouper staatlich gelenkter Aufmerksamkeit wird demnächst wohl auf neue Erreger gerichtet werden können und darf der Resonanz bei den Ängstlichen gewiß sein. Es gibt zahllose tödliche Mikroben, die als pandemiefähig gelten. Wie bedrohlich solche Pandemien dann auch sein mögen, der Alarm verschreckt hypochondrische, hypersensible Gesellschaften. Also permanenter Ausnahmezustand?
Dem zweifelnden Bürger halten die Entscheidungsträger entgegen: Du selbst kannst kraft deines Verstandes und deiner Vernunft die Lage gegenwärtig überhaupt nicht beurteilen, weil dir ein Überblick über das fehlt, was wir viel umfassender wissen und als wahr erkennen können. Zugunsten deiner Gesundheit, ja deines Überlebens haben wir gemäß unserer Verantwortung Maßnahmen zu ergreifen, die dringend geboten sind, um dich zu schützen. Sei doch endlich dankbar! Ja, teilweise müssen wir dich entmündigen, da ansonsten Gefahr für Leib und Leben deiner Nächsten besteht, insofern du Uneinsichtiger zu einem Superspreader werden und einen neuen Hotspot an Krankheit und Tod auslösen könntest. Superspreader, auch so ein Wort, das wir nicht kannten und das nun zum Alltagswortschatz gehört. Mittlerweile sprechen wir es richtig aus. Und haben wir nicht tatsächlich schon dieses Kratzen hinten im Rachen?
Hinzu kommen Bilder von gestapelten Särgen, Nachrichten über Kapazitätsprobleme in der Intensivmedizin und vor allem Statistiken, Statistiken, Statistiken, die so oder so zu deuten sind, die die Exekutive mit den neuen Großwesiren in Weiß aber in ihrer Weise interpretiert, ohne daß Zeit wäre, dies alles wissenschaftstheoretisch zu prüfen. Nur kein Risiko eingehen, heißt es, genau das wäre jetzt unverantwortlich!
Es wird sich vielleicht weisen, ob die derzeit sogar verlängerten und nach wissenschaftlichem Rat angeblich vernünftigerweise weiter zu verlängernden Maßnahmen gerechtfertigt waren. Nur ergibt sich ein Dilemma:
Die Exekutive wird mit wissenschaftlichem Beistand argumentieren können, die sogenannte Pandemie wäre nur abgeklungen, weil rigorose Maßnahmen ergriffen wurden, während die Kritiker behaupten, dies wäre ohnehin geschehen; mehr noch, eine Pandemielage von den Ausmaßen einer Naturkatastrophe hätte in dieser Dramatik nie bestanden, so daß der Ausnahmezustand nicht auszurufen gewesen wäre. Und ja, die ganze Welt sei einer selbsterfüllenden Prophezeiung aufgesessen, die sich eigendynamisch noch verstärkt hätte. Kollektive Psychosen gäbe es nun mal, auch im globalen Dorf. Abgesehen davon verwies das Bundesverfassungsgericht trefflich auf Humboldt, wenn es anmerkte, Wahrheit sei “etwas noch nicht Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes.”
Mit solcher Unentscheidbarkeit ist zugleich jene Differenz in der Gesellschaft beschrieben, die so oder so noch lange die Politik bestimmen wird, da es nach dem Zweiten Weltkrieg nie so einschneidende Maßnahmen mit derart gravierenden Folgen und einer daraus resultierenden Polarisierung gegeben hat.
Wir werden also nicht nur bestenfalls in eine gesündere, sondern vor allem in eine dichotomische Welt eintreten. Die Schmittsche Freund-Feind-Konstellation wird deutlicher. Sie kann die Politik vitalisieren, dies jedoch im Sinne einer Dramatisierung. Ob beide Seiten, Befürworter und Gegner der massiven Einschränkungen, demnächst zu einem Ausgleich kommen, dürfte zweifelhaft sein. Beide agieren und argumentieren wie Gläubige. Die Differenzen sind zu deutlich zwischen der Dankbarkeit, beschützt worden zu sein, und dem Vorwurf, man sei genötigt, gezwungen, obrigkeitsstaatlich bevormundet gewesen, normale Hygienevorkehrungen wie gegenüber anderen Virusinfektionen wären, begleitet von Impfungen, ausreichend gewesen; der rigorosen Lockdown-Politik hätte es nicht bedurft, sie war ein Desaster.
Gerade jene, die „vor Corona“ selbständig für sich zu sorgen und wertschöpferisch zu arbeiten wußten, beklagen immense Verluste, während die Staatsbefürworter eben vor allem zu den Staatsversorgten zählen und im Home-Office komfortabel ausharren konnten. Indem die extremen Beschränkungen mit einer ebenso extremen Freigiebigkeit, ja Verschwendung durch die “öffentliche Hand” verbunden wurden, löste “Corona” eine Art klientelistisch funktionierenden Staatssozialismus aus, der namentlich die Linke, die ohnehin mehr und noch mehr Mittel fordert, enger und staatstragender an die CDU/CSU-SPD-Grüne-Einheitspartei band und um so deutlicher alle anderen außerhalb dieses „demokratischen Blocks“ der “Anständigen” übrig ließ, vielfach geschmäht als Corona-Leugner, Querdenker und rechts, weil nun mal blockfrei.
Wir werden mit diesem Riß leben müssen, zwischen denen, die meinen, es wäre mehr Mut notwendig gewesen, mit einem Virus zurechtzukommen, das es nun mal neben anderen Viren gibt. So wie man im kontingenten Leben mit einer Vielzahl von Risiken umzugehen hat – möglichst so vernünftig wie souverän, anstatt Rückversicherungen zu wünschen, die es nicht geben kann und die vor keiner Instanz einklagbar sind. Und jenen, die ab jetzt beständig einen totalen Schutz verlangen, wenn unausweichlich andere Gefahren drohen, und zwar nicht nur virale. Unheroische Gesellschaften sind Gebilde der Angst. Schmerz- und Leidvermeidung sowie Todesverdrängung gehen über alles. Allzu schnell werden Diskriminierung und Ungerechtigkeit gewittert; Karriere machen jene Politiker, die mehr Teilhabe und damit quasisozialistische Gleichstellungen und Gleichschaltungen fordern, obwohl sie genau das Diversität nennen.
Es ist schon für die allernächste Zeit erwartbar, daß die Schutzsuchenden wieder unter einen staatlichen Rettungsschirm schlüpfen wollen, wenn ökonomische oder ökologische Krisen drohen oder das Leben sonst irgendwie unangenehm auf sie herabregnet.
Was mit Corona an staatlichen Zuwendungen mit “Wumms!” möglich war, das sollte doch, so dürften die staatstreu Hilfsbedürftigen erwarten, ebenso einzufordern sein, wenn irgendein anderes Ungemach droht. Was das sein wird, ist dann wiederum nicht allein nach Faktenlage zu ermessen, sondern wird in Akten von Zuschreibungen mittels Autoritätsbeweisen entschieden. Genug Auguren und Expertisen gibt es. Und wieder kann der Staat die Bazooka entsichern.
Als gefährlich kann vielerlei empfunden werden – nicht nur Epidemien oder Pleitewellen, sondern ebenso politisch mißliebige Kräfte, die sich den Maßgaben der Einheitsfrontler nicht nur zu entziehen, sondern zu opponieren wagen. Ist ein Zustand vorstellbar, in dem nicht allein Viren die Wohlfahrt bedrohen, sondern Parteien oder überhaupt Gruppen, die sich den Erziehungszielen von Deutungsbehörden für politische Bildung widersetzen?
Immerhin: Der Verfassungsschutz ist jetzt bereits sensibilisiert und höchst agil – gegenüber einer Partei, deren hauptsächliche Ziele denen der Kohl-CDU der frühen Achtziger entsprechen. Wird sich das Bedürfnis nach Hygiene, Flächendesinfektion und großer Gesundheit irgendwann auch auf eine Politik der sauberen Hände und der Prophylaxe gegenüber Andersdenkenden beziehen?
Und wie wird dann die Therapie aussehen? Womit wird man weltanschaulich geimpft werden, damit für die vermeintlich Wohlmeinenden eine Herdenimmunität erreicht ist? Taugt der Verfassungsschutz nicht als Bazooka gegen die konservative und rechte Opposition, die als politische Mutation verunglimpft wird? – Mag sein, die Maßnahmenpolitik wird in Permanenz fortgesetzt, zunächst um uns medizinisch, dann aber politisch kuriert zu wissen. Verfassungsschutzpräsident Haldenwangs Wort von den „Superspreadern von Haß und Gewalt“ erteilte den Staatssicherheitsbehörden die richtungsweisende Aufgabe.
Laurenz
Ja, sicher, die Viren-Schuld-Kult-Inszenierung funktionierte viel schneller und effizienter als der Klima-Schuld-Kult (der Al-Gore-Film erschien 2006). Und das Viren-Theater fegte mit einem Handstreich f...up-for-future ins Nirwana.
Das Viren-Theater endet dann, wenn wir tatsächliche Weimarer Verhältnisse bekommen. Dann bleibt kein Auge trocken. Und umso länger die Kaschberls zu Berlin inszenieren, umso sicher landen wir im Neo-Weimar. Prügelnde Stasi haben wir ja schon wieder. Ist es als Volkspolizist nicht erleichternd, nach Jahrzehnte andauernder Kastration des Berufsstands wieder mal so richtig unterm Mob aufräumen zu dürfen?