Vierzehn Grundsätze, Probleme und Aufforderungen, zusammengetragen von Benedikt Kaiser (BK), Ellen Kositza (EK), Götz Kubitschek (GK), Erik Lehnert (EL) und Caroline Sommerfeld (CS)
Der Bücherschrank als Teil der Persönlichkeit
Heute interviewte mich eine Journalistin vom Spiegel. Ihr Blick streifte das Wohnzimmerregal und blieb auf Arthur Koestlers Sonnenfinsternis hängen. Ob wir denn unsere Bücher sortiert hätten nach linken und rechten Büchern, fragte sie mich. Ich erwähnte die jahrzehntelange literaturwissenschaftliche Arbeit meines Mannes über Autoren der Konservativen Revolution, so erklärten sich Regalmeter Schmitt, Benn, Jünger, Gehlen samt Sekundärliteratur. Warum aber lehnte der Koestler als Erstausgabe so gut sichtbar mittendrin, Titelbild nach vorn? Was wollte der Bücherregalbesitzer uns damit sagen?
Ich mußte gestehen: ich wußte es nicht. Meinen Mann konnte ich später einfach fragen, den Interview-fauxpas aber nicht wiedergutmachen. Der Bücherschrank verrät eben nur dem Eingeweihten etwas über die Person, dem er gehört.
Ich erfuhr: Koestler war der erste große Renegat, er wandte sich aufgrund der Moskauer Schauprozesse vom Kommunismus ab und schrieb darüber 1940 diesen schmalen internationalen Bestseller. Nach eigenem Bekunden ein wichtiges Buch für meinen Mann, für den schlüsseziehenden Bücherregalbetrachter: gewissermaßen ein Emblem.
Erkennt man eigentlich einen Rechten an seiner Büchersammlung? Es gibt in der Tat, wenn schon keinen fixen Kanon im Sinne des ins Regal gestellten bereits absolvierten Teils einer Leseliste, so doch typische, wiedererkennbare, Gemeinsamkeit erzeugende Titel. Büchersammlungen sind indes erst dann individueller Ausdruck der Persönlichkeit, wenn sie über einen Kanon hinausweisen. Regale und Schränke füllen sich organisch, wie ein wachsendes Lebewesen. Da gibt es wuchernde, im wahrsten Sinne des Wortes überbordende Bücherberge; ich kenne sogar Bücher-Messies, die ausweislich einiger einschlägig vollgestopfter Regale, Kistenbeschriftungen und grinsend zutage geförderter Giftschrankexemplare politisch mindestens reaktionär, in der Lebensführung aber Menschen von äußerst geringer Selbstbeherrschung sind.
Das Gegenteil des chaotischen book hoarders ist der akribische Konservative, der Sammler gebundener Zeitschriftenjahrgänge, unterschiedlicher Auflagen desselben mehrbändigen katholischen Lexikons, der bibliophile Raritätenfreund und ‑restaurateur. Dieser muß nicht reich sein – Emporkömmlinge und Eindruckschinder haben selten höchstpersönliche Bücherregale –, mancher hat einen treusorgenden Bücherengel, der ihm immer wieder Zufallsfunde, Nachlässe und vergessene Autoren zuspielt. Der Kenner genießt und verstaut.
Das Bücherregal als lebendiger Organismus füllt sich, scheidet gelegentlich überflüssig Gewordenes, Jugendsünden oder nicht mehr unterzubringende Masse aus, ordnet sich neu, ihm wachsen Regalsystemteile, Obstkisten oder antike Bücherborde als neue Körperteile – das ganze Gebilde wird mehr und mehr zum Ausdruck einer Person, so wie ihr Gesicht im Lauf der Jahre immer mehr vom Innern einer Person ausdrückt. Bücherschränke bilden ihre Leser (das ist der Weg nach innen) und bilden ihre Leser ab (das ist der Weg nach außen). Daher gilt: an ihren Büchern sollt ihr sie erkennen! (CS)
Lesen als Szenepflicht
Desiderius Erasmus soll sich, wenn er Geld in die Hand bekam, zunächst Bücher gekauft haben, und erst dann Kleidung und Essen – wenn noch etwas übrig war. Diese (womöglich zugespitzt geschilderte) Sucht nach Lektüre ist in unserem politischen Milieu nicht weit verbreitet. Dabei wäre es auch unter jungen Rechten ratsam, das fleißige Lesen zur »Szenepflicht« zu erheben und zur Schau zu tragen. Es sollte selbstverständlich sein, dieses oder jenes Buch zu besitzen und gelesen und verstanden zu haben. Klar wäre dann: Wer solche Lektüren nicht vollzogen hat, ist, cum grano salis, der Nicht-Wissende, derjenige, der aufholen muß, um sich beteiligen zu können.
Ob Klassiker oder aktuelle Titel – eine selbstbewußte junge Rechte muß ihren Anhängern vermitteln, daß es Schlüsselschriften gibt und daß man sie gelesen haben sollte, wenn man zum intellektuellen Teil der Szene gehören möchte. Die Generation Instagram etwa, die an erworbenen Luxusgütern ihren virtuellen Freundeskreis ohnehin kontinuierlich teilhaben läßt, kann hier erzieherisch wirken: Reds don’t read, aber Rechte schon, wird als Parole erst dann bildhaft, praktisch und schneidig, wenn es sich auch bewahrheitet, wenn also der Wille zur geistigen Rüstung offensichtlich ist. Der Weg dorthin verläuft über das »Lesen als Szenepflicht«. (BK)
Lesen im Tagesablauf
Was die Lektüre betrifft, kann der tägliche Weg zur Arbeit mitunter wie geschenkte Zeit wirken, zumindest dann, wenn man in einer Bahn unterwegs ist, die nicht total überfüllt ist. Wo die meisten Mitfahrer auf ihr Smartphone starren und/oder sich mittels Kopfhörer unterhalten lassen, kann man selbst zum Buch greifen. Wenig geeignet sind dafür Bücher, die man mit dem Stift durcharbeiten möchte (weil man womöglich keinen Sitzplatz findet), dafür aber Belletristik oder ein aktuelles Sachbuch, das man liest wie eine Zeitschrift (für den Tag). Wer von Berufs wegen viel lesen muß, kann sich glücklich schätzen, aber auch er muß Konzessionen an die Arbeitszeiten seiner Mitmenschen machen, die den Leser natürlich gern zwischen frühem Vor- und spätem Nachmittag behelligen.
Insofern war das Leben als Leser deutlich leichter, als man neben dem Schulbesuch keine weiteren Verpflichtungen hatte. Vermutlich kommt man nie wieder so zum Lesen, wie in den letzten Schuljahren. Während des Studiums fängt die Pflichtlektüre an, weil es Seminare zu absolvieren und Qualifikationsarbeiten zu schreiben gilt, die wiederum die Lektüre ganz bestimmter Bücher voraussetzen. Im Alltag richtet sich die Lesezeit nach dem Buch.
Lektüre, die einen fesselt und hineinzieht, wird man in jeder freien Minute frönen, also auch am Abend, wenn man, je nach Schwere des Tagwerks, Ablenkung und Entspannung sucht.
Schwierige Lektüre, die Konzentration erfordert, ist in diesen Stunden nur selten fruchtbar, zu viele Wörter fallen den abschweifenden Gedanken zum Opfer. Für solche Bücher ist die Waagerechte nicht geeignet, man muß am Schreibtisch sitzen oder am Pult stehen. Wann das geschieht, hängt stark von der Konstitution des Lesers ab. So wie es Frühaufsteher und Nachtmenschen gibt, so gibt es Leser, die das Tageslicht brauchen, während andere die schützende Dunkelheit der Nacht benötigen, um sich in die Lektüre zu versenken. (EL)
Aut liberi aut libri?
Friedrich Nietzsche läßt in seinem Spätwerk Götzen-Dämmerung. Oder wie man mit dem Hammer philosophirt (1889) einen Blaustrumpf sinnieren, ob er wohl mehr für Bücher oder für Kinder eine Bestimmung fühle. Das klingt so: »Das Literatur-Weib, unbefriedigt, aufgeregt, öde in Herz und Eingeweide, mit schmerzhafter Neugierde jederzeit auf den Imperativ hinhorchend, der aus den Tiefen seiner Organisation ›aut liberi aut libri‹ flüstert: das LiteraturWeib, gebildet genug, die Stimme der Natur zu verstehn, selbst wenn sie Latein redet, und andrerseits eitel und Gans genug, um im geheimen auch noch französisch mit sich zu sprechen …«Oh ja, das sitzt. Nietzsche hat es den emanzipierten Frolleins der Salons damit gut gegeben.
Man kann sich das organisierte, dennoch seufzende »Literatur-Weib« von heute gut vorstellen, Namen müssen hier keine fallen. Wir kennen unsere kinderfreien Literaturtanten. Sie ahnen die Qualen einer Effi Briest, sie waren Medea und haben mit Ute gelitten. Ihr Leib aber blieb fruchtlos!
Kann man als kinderlose Frau all die Dramen miterleiden, die in der Literaturgeschichte um Müttern handeln? Logisch. Genausogut, wie man mit dem Selbstmörder oder dem Räuber fühlen kann, ohne selbst das eine wie das andere zu sein. Nietzsches öde quasselndes Literaturweib jedoch hätte Angst, über dem Kinderkram den Anschluß an den »Diskurs« zu verlieren. In heutigen Zeiten wird statt »Kinder oder Bücher?« wohl eher »Kinder oder Karriere?« geflüstert, und die wirklich moderne Gans liest statt Büchern kinderwagenschiebend ihr Smartphone.
Dabei: Et Liberi et libri, sowohl Kinder als auch Bücher, na klar! Gerade meine sieben Stilljahre erinnere ich als Zeiten mit extremem Bücherkonsum. Nichts läßt sich besser vereinbaren als Bücher und Kinder. In meinen Augen (freilich die Augen einer nie lohnabhängigen Mutter) sind Kinder und Bücher sogar die Allianz schlechthin. (Gut, Handarbeiten paßt auch. Leider bin ich ungeschickt.) Kollateralnutzen: Nachwuchs, der die Eltern viel lesen sieht, wird meist selbst zum eifrigen Leser. (EK)
Schnellesen und Durchblättern
»Sie liest mit den scharrigen Pfoten eines Spürhundes, als sei irgendwo im Buch eine leckere Idee verbuddelt, an die sie ihr Leben hängen könnte.« (Botho Strauß, Der Fortführer, 2018)
Mit scharrigen Pfoten zu lesen kann ein Laster sein und eine Tugend. Ein Laster ist es, wenn man inkriminierend liest: auf der Suche nach schlimmen, dummen oder desavouierenden Stellen, die, hat man sie freigebuddelt, einem dazu dienen, diesen Autor nicht ohne Genuß niedermachen zu können. Inkriminieren heißt, ihn zum Schreibverbrecher zu machen, weil er das falsche Vokabular verwendet oder sich im Text selber verrät, auch wenn die Oberfläche noch so sauber glänzt. Allzumeist ist dies das Laster der politisch Korrekten, doch auch unter rechten Lesern und Rezensenten kann es angetroffen werden: Ha, hier verrät einer seine linken Denkmuster und übernimmt die Sprache des Gegners!
Die Tugend des scharrigen Lesens, des Schnellesens und Durchblätterns, ist von anderer Art. Kursorisch durchflitzend oder diagonal zu lesen will gelernt sein: nicht jede Zeile, manchmal sogar nicht einmal jede Seite zu lesen. Denn man kann sich ja unmöglich die feinen historischen Verästelungen von Ernst Noltes Die faschistischen Bewegungen oder Spenglers Untergang des Abendlandes alle merken – es geht darum, den Witz, den Stil, die Kampflinie des betreffenden Buches zu erkennen. Denn Schnellesen ist dazu da, grob und für weitere Verwendungen zu wissen, worum es geht, wie der Autor schreibt, sich gelegentlich sogar nur ein Hauptzitat aus dem ganzen Buch herauszuschreiben und sich dieses zu merken: die leckere Idee, an die man sein Leben hängen kann. Echtes Exzerpieren schaut anders aus, aber es geht ja nicht um ein Referat oder eine Proseminararbeit in Germanistik, sondern um Buchverkostung, Pröbchennehmen, Reinschmecken.
Im übrigen sind Exzerpt-Tagebücher voller Leckerbissen hervorragend geeignet, um in seinen eigenen Notizen die Punkte im eigenen Leben wiederzufinden, an denen einen eine Lektüre existenziell berührt hat, oder einfach: sich im Wust all der vielen »leckeren Ideen«, die man gefunden hat, überhaupt noch orientieren zu können: von wem war das, wie lautete die Stelle gleich nochmal? Durchblättern ist außerdem ein perfekter Jargon-Detektor: man läßt sich nicht tief genug ein auf den Text, um gefangengenommen zu werden von ihm, sondern scharrt an der Oberfläche, und dabei fliegen einem die Wortklumpen und immergleichen Klingelwörter um die Ohren. Wenn es darunter glänzt: eintauchen, weiterlesen! Wenn nicht: weglegen. (CS)
Durcharbeiten
Ich selbst habe ein unsentimentales Verhältnis zu Büchern. Meine Bibliophilie ist frei davon, dem Gegenstand als Materie zu huldigen. Schweinslederausgaben und Goldschnitte lassen mich kalt. Man hat meinen aneignenden Umgang mit Büchern früher als rüde getadelt.
Ich bin bis heute eine beteiligte Leserin – Belletristik ausgenommen, da wird nichts notiert. In der Jugend schrieb ich meine oft ellenlangen Anmerkungen mit Kuli an den Rand.
Gelegentlich ziehen mich die Kinder auf, wenn ihnen heute solche Werke mit mir als Co-Autorin in die Hand fallen. Wenn ich solche Bücher, an denen ich mich als Studentin abgearbeitet hatte, dann in die Hand nehme, staune ich oft darüber, welche Gedanken ich mir gemacht habe!
Längst aber schreibe ich nicht mehr in Bücher. Als ich vor zwanzig Jahren hörte, daß Karlheinz Weißmann einen wohlgeordneten, nach Themen sortierten Zettelkasten für seine Lesefrüchte unterhalte, ahmte ich das nach. Es erschien mir lohnend und praktisch: genial, wenn man bei Arbeiten an einem Text systematisch auf ältere Exzerpte zurückgreifen kann!
Das Unterfangen scheiterte nach zwei, drei Jahren an mangelnder Disziplin. Exzerpte halte ich hingegen noch immer für unerläßlich. Pro Buch sind es ein bis zwei DIN-A4-Blätter, die ich beschrifte. Seitenzahl, Zitat oder Zusammenfassung. Meine Einwände zu den Thesen eines Autors sammle ich gesondert und trenne sie mit dicken Strichen von bloßen Herausschreibungen. Ins ausgelesene Buch werden neben dem Exzerpt gelegentlich auch Rezensionen hineingefaltet. Manchmal habe ich übrigens Illustrationen ausgeschnitten, gerahmt und aufgehängt. Einige Bildbände sind daher arg gefleddert. Mein Argument: »Sonst müßte ich das Buch doch dauernd rausholen, um mir das Bild anzuschauen.« Kubitschek hält es für barbarisch, daß ich Bücher zerschneide. Das Bild aber, das ich ihm auf den Schreibtisch stellte, mag er. (EK)
Wiederholte Lektüre
Von Kindern kennt man das: Man erzählt ihnen Märchen, Anekdoten, Reime, und dieselben Geschichtchen werden nun über Wochen Tag für Tag verlangt. Das Zuhören, die Spannung, die Erleichterung sind ritualisiert, und zum Ritual gehört, daß der Wortlaut derselbe bleibt, daß sich das Gefühl, das sich einstellen soll, erwartbar einstelle, kurzum: daß nicht variiert, nicht abgewichen wird. Etwas ist also gewiß: gewiß immer so! Erst später, wenn die Kinder größer sind, wird der Perspektivwechsel interessant, kann man das Pferd mal so, mal andersherum aufzäumen, beginnt das Immergleiche zu langweilen, greifen sie aus.
Es ist so: Ellen Kositza liest fast nichts ein zweites, drittes, nie irgendetwas ein zehntes Mal, es sei denn, sie muß sich vergewissern, ob sie sich an eine Passage richtig erinnert, auf die sie sich beziehen will. Wie Benedikt Kaiser gehört sie zu den Viellesern, die Unmengen an Büchern und Artikeln durchgehen und verarbeiten können. Das bedeutet nicht zugleich, daß die beiden Bücher nicht genießen könnten – hier wie dort steht die Belletristik hoch im Kurs.
Aber eines tun sie nicht: den Genuß wiederholen, Bücher oder auch nur Stellen aufsuchen wie einen Kräutergarten oder einen Medizinschrank. Oder wie ein Gebet.
Ich selbst lese manche Bücher oder Passagen aus Büchern wie Heilsud, wie Formeln, liturgisch, auf Wirkung. Sie wirken wie Musikstücke oder wie der Besuch eines Gottesdienstes, in dem noch liturgische Treue herrscht. Ein Beispiel: In Jochen Kleppers Der Vater kehrt der Soldatenkönig nach einer erschütternden Fahrt durch die Provinz Ostpreußen zurück an den Hof – und schiebt mit seinen Händen die gerade in Mode gekommenen Tabaksdosen zusammen.
Man könne damit ganze Dörfer retten, sagt er in die Gesellschaft hinein. Dort oben in der fernen Provinz sei nämlich gerade der Hunger in Mode gekommen.
Ich muß das alle paar Monate einmal lesen. Ebenso Stellen von Ernst Jünger, von Erhart Kästner, von Gottfried Benn, Hans Bergel, Christoph Ransmayr, Franz Werfel, Wolf v. Niebelschütz, Horst Lange, Knut Hamsun.
In der wiederholten Lektüre steckt Vergewisserung, also: Gewißheit. Davon war oben bei den Kindern schon die Rede. Daher zwei Behauptungen: Die Wiederholt-Leser sind kindlicher als die anderen, und sie können mit Lyrik, der Wiederholung als Gebilde, etwas anfangen. Sie wohnen in den Büchern und Gebilden, sie streifen weniger umher. (GK)
Überflüssige Lektüre
Wenn Rolf Peter Sieferle zu einer »unterscheidenden« Lektüre im Sinne einer inhaltlich differenzierenden, unvoreingenommenen und geistig flexiblen Lektüre rät, muß diese ideelle Ebene um eine praktische ergänzt werden. Denn es gibt auch die Tendenz, sich in der Sturzflut des Gedruckten zu verlieren, ja auf Systematik und Erkenntnisbausteine mangels »effektivem Zeitmanagement« zu verzichten. Das heißt heruntergebrochen auf eigene Lektürewege: Interessiert man sich für ein Thema, für einen Autor, für eine Denkfamilie, dann bietet es sich an, einen Lektüreplan zu erstellen, der den Blick für das Wesentliche schärft und nicht auf einer pedantischen Vollständigkeit um der Vollständigkeit willen basiert.
Das Ziel eines solchen Plans kann es beispielsweise sein, die Quintessenz eines Denkers anhand von zwei, drei Schlüsselwerken und anhand ein, zwei konziser Einführungen herauszuschälen. Von diesen Lektüren ausgehend, kann dann – sofern weiter angebracht und zweckmäßig – systematisch zu weiteren darin angezeigten Titeln übergegangen werden. Dieses auf Fach- und Sachbücher zugeschnittene planorientierte Lesen gilt freilich weniger für die Sphäre der Belletristik, doch ist die Zeitfrage bei jeder Form der Lektüre und für jeden, der über keinen Privatier-Status verfügt, eine essentielle.
Daher empfiehlt sich ein geschärfter Blick für das Wesentliche, der über die Jahre hinweg nur durch eigene Empirien antrainiert und modifiziert werden kann: ein Blick, der überflüssige Lektüre als solche erkennt und umgeht, damit Lesestunden fruchtbar bleiben und nicht buchhalterisch werden. (BK)
Überflüssige Bücher
Wer sich eine Bibliothek aufbaut, wird in den meisten Fällen irgendwann vor einem Platzproblem stehen. Jedes gelesene und noch zu lesende Buch zu behalten, wird dann unmöglich, wenn ständig Neuerwerbungen hinzukommen, die auch einen Platz erhalten sollen. Als pietätvoller Bücher-Liebhaber wird man zunächst beginnen, neue Regale aufzustellen, um der Bücherstapel, die sich überall auftürmen, Herr zu werden. Aber auch dann kommt irgendwann der Moment, in dem man sich von Büchern trennen muß.
Zugegeben, für einen manischen Sammler kommt das nicht in Frage, aber für alle, die trotz Sammelleidenschaft ein pragmatisches Verhältnis zum Buch behalten haben. Wie geht man vor? Ein radikaler Schritt kann sein, alles zu entfernen, was man nie wieder in die Hand nehmen wird (was aber unweigerlich dazu führt, daß man bald eines der Bücher vermißt). Das sind Tagesliteratur und Sachbücher mit Verfallsdatum, wohingegen die Klassiker bleiben (sollten).
Interessengebiete, die einen in der Vergangenheit bewegt haben, kann man abgeben, manchmal auch Bücher, die im Fall des Vermissens leicht wiederzubeschaffen sind. Darunter fallen solche, die man in Zeiten der Lesewut, vor allem in jungen Jahren, angehäuft hat. Wie auch immer man die Sichtung durchführt: Am Ende stellt sich die Frage, was man mit den ausgesonderten Beständen macht. Man kann jemandem damit eine Freunde machen (oder ihnbelasten!), man kann sie (was recht mühsam ist und sich nur bei halbwegs wertvollen oder aktuellen Büchern lohnt) verkaufen – für den traurigen Rest, für den es partout keine Anschlußverwendung gibt, bleibt dann nur die Papiertonne, was angesichts des Massenausstoßes an Einweg_Taschenbüchern und Schund nicht so unmoralisch ist, wie es vielleicht klingen mag. (EL)
Antiquariat
In Zeiten, in denen nicht nur Kinderbücher (die »Neger« in Michael Endes Jim Knopf oder Astrid Lindgrens Pippi in Taka-Tuka-Land sind inzwischen Legende) umgeschrieben, geglättet herausgegeben oder mit historisch-kritischem Apparat versehen dem Leser zur betreuten Lektüre überhändigt werden, tut es mitunter Not, die Originale in die Finger zu kriegen. Schnell ist das Online-Antiquariat gefunden, doch oftmals übersteigt das Porto den Kaufpreis oder schlägt doch ärgerlich zu Buche.
Außerdem ist der Antiquariatsbesuch Ehrensache: früher, also vor der Zeit von ZVAB und Ebay, war es Pflicht, in jeder Stadt Antiquariate aufzusuchen und nach dem zu stöbern, was man schon seit langem suchte. Wenn man noch unkundig ist (ich fiel einmal als Schülerin in Eisenach in ein winziges Antiquariat ein und kaufte alles, was ich bezahlen konnte – als DDR-Ausgaben: das meiste – und was mir aus dem Deutschunterricht vage bekannt war, von Heine bis Huysmans), verfahre man genau so: hingehen, stöbern, stapeln, raustragen. Notfalls (Telephonjoker!) jemanden anrufen, der sich mit alten Büchern bestens auskennt.
Es könnte überdies von Nutzen sein, seine eigene Autoren- und Titelliste im Portemonnaie klein gefaltet mit sich zu tragen. Vielleicht gerät man ja wegen Schneeregen, Wartezeit oder als Passant (paßt doch vortrefflich zum Antiquariatsbesuch: »Passant« zu sein …) unversehens in eine Schatzkammer am Wegesrand.
Antiquarische Zufalls- und Endlichfunde, egal ob monetär oder ideell wertvoll, beglücken uns Konservative tief. Denn es ist ja nicht allein der erhaltene Text, sondern die (Erst-)Ausgabe,die altmodische Optik, der aufwendige Satz, nicht zuletzt auch der Wohlgeruch. Stinkige Bücher sind aufgrund von billigem säurehaltigem Papier oder Schimmel bereits im Verfall begriffen: Nur nehmen, wenn selten oder ganz dringend auf der Stelle benötigt! Zu guter Letzt: die Rücken antiquarischer Bücher sind niemals häßlich bunt. Außer im »modernen Antiquariat«, worauf der Zugriff aber auch mitunter lohnt, denn die Verramschungsmühlen mahlen mit zunehmender Geschwindigkeit, und Konservative erfreuen sich besonders an Ladenhütern, die der Buchhändler nicht kennt. Auf Erhard Kästners Stundentrommel klebte kürzlich: »3€«. Wie schön ist doch eine eigene Bibliothek, umfasse sie auch nur ein Regal, deren Anblick man jeden Tag genießen kann. (CS)
Altbestände übernehmen
Fremde Bibliotheken können sowohl Fluch als auch Segen sein. Das Umschauen in einer anderen privaten Bibliothek mit ähnlichen Interessenschwerpunkten wird oft belohnt, weil man Dinge entdeckt, von deren Existenz man noch nicht einmal etwas ahnte, oder weil man Gelegenheit bekommt, ein wertvolles Buch, von dem man schon einmal gehört hat, in die Hand zu nehmen und darin zu blättern. Die Lage ändert sich in dem Moment, wenn man eine fremde Bibliothek oder zumindest Teile davon geschenkt bekommt. Dann muß man sich dazu anders als nur genießend verhalten. Die Gründe, die einen in diese Lage bringen, sind unterschiedlich: der Tod des Besitzers, ein Umzug macht eine Verkleinerung nötig, manch einer möchte auch einfach jemandem eine Freude machen. Alles ist schon vorgekommen.
Am schönsten ist es allerdings, wenn man sich aus einer umfangreichen Bibliothek eines echten Sammlers, der einem auf dem gemeinsamen Gebiet weit voraus war, aussuchen darf, was man möchte. Das Problem ist dann eher, aus der Fülle in kurzer Zeit herauszufischen, was einen so interessiert, daß man es besitzen möchte. In anderen Fällen steht man vor einem Haufen Bücherkisten, von dem man das behält, was einem nützlich und aufhebenswert erscheint. Oftmals nimmt oder behält man aber mehr als man braucht und wird sich von einigen Eroberungen wieder trennen (und versuchen, diese Altbestände an einen anderen weiterzugeben).
Ein Grundproblem bleibt die organische Integration fremder Altbestände, die lange Fremdkörper der eigenen Bibliothek bleiben können, weil man sie nicht selbst gesammelt hat. Fremde Bibliotheken können einen auch in verschiedener Hinsicht, durch Umfang oder Qualität, überfordern, so daß diese Integration nie gelingt. Altbestände, die wie fehlende Puzzleteile in die eigene Sammlung passen, sind ein seltener Glücksfall. (EL)
Vorlesen
In unserem Haushalt ist die Vorleserei essentiell. Jeden Abend lesen Mutter/Vater den Kindern vor (seit 22 Jahren), und bei Autoreisen liest ein Mitfahrer dem Fahrer vor. Ich vermute, wir (die Großen wie die Kleinen) wären völlig andere Leute, wenn wir unserem Nachwuchs nicht diese summa summarum wohl tausend Stunden vorgelesen hätten. Caroline Sommerfeld hat es in unserem Buch Vorlesen (Antaios, 2019) beschrieben: In den Vorlesevorgang »schiebt sich das gutgewählte Buch, das die Beteiligten aber nicht voneinander entfernt, sondern einander näherbringt, eben vermittelt (lat. Medium heißt Mittleres, Vermittelndes).
Kinder, die zwischen virtueller Bildschirmwelt und echter Lebenswelt switchen, habe beim Vorlesen die Chance, von beidem das Wesentliche zu erfahren. Büchersind zweifellos genauso künstliche Lebenswelten wie Bildschirmmedien, eben abstrakte Speicherorte für Wissen und Bilder. Lesen ist nicht Leben. Doch es speichert Leben, bewahrt Erfahrungen auf. Wenn nun Erwachsene dieses archivierte Leben aufschlüsseln, indem sie dem Kind vorlesen, stecken sie eigene Mühe und Kraft hinein, eigenen Atem und eigene Stimme. Das ist real, leiblich und spürbar, mit Glück hängen einem die Kinder an den Lippen.«
Die große britische Schriftstellerin Joan Aiken (1924–2004) schrieb einmal apodiktisch: Wer nicht bereit sei, seinem Sprößling mindestens eine Stunde am Tag vorzulesen, habe es nicht verdient, überhaupt einen zu haben. Ist so! Schwer zu bewerkstelligen in Zeiten, wo die Kinder vor allem quality time genießen sollen? Wo der Mutter aufgrund von Mehrfachbelastung nur wenig Zeit »für’s Eingemachte« bleibt? Dann bitte: Setzt andere Prioritäten! (EK)
Lesekreis
Die inhaltliche Notwendigkeit eines Lesekreises ergibt sich aus jenem zeitlosen Diktum Dominique Venners (aus: Für eine positive Kritik), wonach zu viele Aktive »ihre gemeinsamen Vorläufer und Vordenker« nicht kennten, weshalb sich – bereits definierte – Begriffe verwirrten und vermeidbare Unklarheiten entstünden. Diese Mangelsituation zu überwinden, ist Mahnung und
Auftrag zugleich; Abhilfe schaffen soll die gemeinsame Lektüre ebenjener Vorläufer und Vordenker. Man muß in Erinnerung rufen, welche Wege durch die, die vor uns wirkten, eingeschlagen, erkämpft, erklärt, verworfen worden sind. Aufbauend auf diesem Fundament – dem zu erarbeitenden ideenpolitischen Gedächtnis – sollte dann auf der Höhe der Zeit weitergedacht werden.
Die praktische Notwendigkeit eines Lesekreises tritt hinzu, und möglicherweise kennt man vergleichbare Konstellationen aus dem Privatleben: Das Vorhaben, regelmäßig Sport zu treiben, funktioniert besser, wenn man eine gegenseitige »Terminkontrolle« einerseits und wechselseitige Freude andererseits verspürt, als wenn man seine Terminfindung und Zeit selbst frei gestalten (und damit: vertun) kann. Das gemeinsame Lesen verschafft Freude und Verantwortung zugleich: Man will nicht hinterherhinken, man will mit Weggefährten Erkenntnisse teilen oder Streitfragen klären.
Der Weg zu dieser Ausdifferenzierung von Positionen durch Lektüreerfahrungen kann unterschiedlich gestaltet sein: Man liest gemeinsam in einem festgesetzten Zeitrahmen einen Titel – und dann wird in der Gruppe debattiert, weil jeder subjektive Leseerfahrungen machen wird und sich ergänzende und korrigierende Zugänge anbieten. Oder jeder liest individuell ausgewählte Werke und bilanziert für die anderen Teilnehmer ihre Essenz, muß also referieren und auf (kritische, neugierige) Nachfragen reagieren.
Eine weitere Option zur Verfeinerung eines solchen Kreises wäre ein Punktesystem: Man entwickelt einen Modus, in dem Lektürefleiß und Erkenntnisinteresse trotz alltäglicher Verpflichtungen belohnt, Müßiggang und Vergeßlichkeit hingegen – auf spielerische Art – gerügt werden.
Ein Lesekreis kann verschiedenartig ausgestaltet werden, je nach beteiligten Charaktertypen und Alterskohorten. Konstruktives Lesen muß fordernd und beglückend zugleich sein – ein Lesekreis, der auf Freundschaften aufbaut oder solche entstehen läßt, ist hierfür der adäquate, gemeinschaftsfördernde Rahmen. (BK)
Belletristik lesen
Im platonischen Dreiklang vom »Wahren, Schönen, Guten« kommt in unserem politischen Lager regelmäßig das Schöne zu kurz. Wie traurig! Es mag unseren vielbeklagten »Zeiten« geschuldet sein, daß auf der rechten Seite so wenig Zeit und Muße ist für Theater, Oper, schöne Kunst! Echte Literatur! Ohne Forschungsinteresse, ohne »siehste mal!«, ohne »Best practice« und ohne die »zehn Wege, um XY zu erreichen«! Wer mag sich heute schon lesend verspielen?
Im heutigen politischen Betrieb mangelt es mit großer Sicherheit an Leuten, die »belesen« sind im herkömmlichen Sinne. Das ist kein Luxusproblem. Es war auch nicht »schon immer« so.
Nicht immer wurde Politik von schnöden Apparatschicks betrieben.
Wozu aber überhaupt sich an Belletristik wagen? Oh, es ist ein Reichtum, nicht nur an Bildung: Die Phantasie wird geweckt, die Beobachtungsgabe geschärft. Nicht von ungefähr pflegen wir in dieser Zeitschrift eine Belletristikspalte, hält Antaios einen »Bücherschrank« mit lesenswerter schöner Literatur vor, stelle ich mit Susanne Dagen auf unserem YouTube-Kanal »Aufgeblättert, zugeschlagen. Mit Rechten lesen« regelmäßig neue Romane vor. Gegen jeden Kulturpessimismus gesprochen: Die zeitgenössische Romanwelt wird von echten Künstlern bespielt. Nehmen wir nur Martin Mosebach, Brigitte Kronauer, Sherko Fatah, Jonas Lüscher, Eva Menasse, Norbert Gstrein, Terezia Mora, Marion Poschmann, Steffen Kopetzky, Michael Köhlmeier, Uwe Tellkamp, Christoph Ransmayr, Monika Maron, Eugen Ruge … und kein Ende!
Wie schrieb Goethe? »Es gibt dreierlei Arten Leser; eine, die ohne Urteile genießt, eine dritte, die ohne zu genießen urteilt, die mittlere, die genießend urteilt und urteilend genießt; diese reproduziert eigentlich ein Kunstwerk aufs neue. Die Mitglieder dieser Klasse sind nicht zahlreich.« Brauchen wir nun gerade diesen Leser, diesen Kunstwerkreproduzierer? Ich glaube: ja. Wie sagte Angela Merkel, die Physikerin ohne belletristischen Weitblick im April 2019: »Es war ein großer Erfolg, daß der Global Compact für Flüchtlinge im vergangenen Jahr mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde.« – »Er sagte immer Agamemnon statt angenommen, so sehr hatte er den Homer gelesen«, konterte ein anderer Physiker, nämlich der große Georg Christoph Lichtenberg, schon 250 Jahre vor Merkel über den Typus des belesenen Politikers. Das wäre doch mal was. (EK)