So definiert die »freie Enzyklopädie« des Netzes, Wikipedia, den fossilen Brennstoff, der die energetische Basis der zweiten Welle der Industrialisierung im 19. Jahrhundert lieferte, bis er Mitte des 20. Jahrhunderts durch die finale Durchsetzung des flüssigen Rohstoffs Öl seine übergeordnete Bedeutung verlor.
In Kombination mit der Jahrhunderterfindung Lokomotive entfesselte sich mit der Kohle der »industrielle Prometheus«. Davon blieben die sozialen Ordnungen, die sich bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in einem rapiden Wandel befanden, logischerweise nicht unberührt.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse restrukturierten sich tiefgreifend, das Primat der Wirtschaft setzte sich in Form der bürgerlichen Gesellschaft durch: »Die 1850er Jahre können als eigentliche Phase der bürgerlichen Revolution in Deutschland verstanden werden – jedenfalls, wenn wir den Griff der Unternehmerwirtschaft nach der ökonomischen und politischen Macht soziologisch begreifen.
Diese Revolution bediente sich weniger politischer als vielmehr ökonomischer Mittel, die neue Gesellschaft mit der Macht wirtschaftlicher, sozialer und technologischer Fakten umzugestalten«, konstatierte der Soziologe Dieter Otten in seiner techniksoziologischen Großanalyse Die Welt der Industrie.
Als die relevanteste Steinkohleregion Deutschlands bildete das Ruhrgebiet das Epizentrum dieser Revolution von Ökonomie und Gesellschaft: »Kohlenpott« und »Stahlschmiede der Nation« fingen diese sozioökonomische Relevanz sprichwörtlich ein.
»Nicht mehr in den erz- und wasserreichen Gebirgstälern konzentrierte sich die Schwerindustrie, nicht mehr im Bergischen Land, im Sauerland, im Harz, im Erzgebirge, in Oberschlesien, sondern an ganz neuen Standorten, die zum einen nach dem Vorkommen von Kohle, zum anderen nach Standortgesichtspunkten ausgewählt wurden. Das Gebiet zwischen Duisburg und Dortmund entlang der Ruhr sollte zum entscheidenden Industriezentrum Deutschlands werden«, führt Otten in Die Welt der Industrie weiter aus.
Die weitreichenden Umwälzungen sind auch geographischer Natur: Vormals blühende Regionen werden zu »abgehängten« Landstrichen, in anderen wird Industriegeschichte geschrieben. Ein Prozeß der bis heute nicht abgeschlossen ist und unter anderem im Falle des Ruhrpotts zeigt, wie aus ökonomischen Gewinnern spätere Verlierer werden.
Doch zurück in die industrielle Blütezeit des Potts: Im Mittelpunkt der »Entfesselung des Prometheus« stand in Deutschland ohne Frage die Stadt Essen. 1843 war es auf dem Gelände der Essener Zeche »Zollverein« gelungen, die 1.000 Meter starke Mergelschicht zu durchbrechen, die über den Kohlenvorräten des Ruhrgebiets lag.
Die Kohleförderung stieg in einem wechselseitigen Prozeß mit der Stahlproduktion rapide an: 1850 wurden 1,9 Millionen Tonnen Kohle gefördert, 1914, rund ein halbes Jahrhundert später, waren es 114 Millionen Tonnen Kohle im Jahr – ein Anstieg von circa 6.000 Prozent. Indes steigerte sich die Roheisenproduktion von 245.000 Tonnen im Jahr 1850 auf 14,8 Millionen Tonnen im Jahr 1910.
Diese Mengen an Kohle und Stahl werden speziell in der vergleichsweise geringfügig automatisierten Zeit des 19. Jahrhunderts nicht alleine gehoben und produziert. Dafür braucht es menschliche Arbeitskraft. Essen mit der Zeche »Zollverein« und der Firma Krupp sowie das Ruhrpott als Ganzes wurden daher zum Brennpunkt der Herausbildung der Lohnarbeit und der damit verbundenen endgültigen Durchsetzung von Kapitalinteressen, denen bereits durch den endgültigen Zerfall der Zünfte während der Zeit des Absolutismus Vorschub geleistet worden war.
Der Westdeutsche Rundfunk hat diesem durch den schwarzen, kohlenstoffhaltigen Rohstoff des Ruhrpotts angefeuerten Umwälzungsprozeß mit einem Schlaglicht auf die Stadt Essen nun eine Dokumentation in der Reihe »Heimatflimmern« gewidmet, die mit filmischen Szenen angereichert wurde.
Die Deutung dieses disruptiven Wandels liefert man im Titel gleich mit: »Kohle, Wohlstand, Fortschritt – Essen zur Jahrhundertwende«. Trotzdem sehenswert:
Derweil man sich beim WDR über die positive Richtung dieser Revolution in eine bessere Zukunft aus Wohlstand und Glücksmaximierung, kurz »Fortschritt«, sicher ist, war ein Universalgebildeter von dieser teleologischen Eindeutigkeit der Transformation keinesfalls überzeugt.
Der Heidelberger Historiker Rolf Peter Sieferle erblickte in der Industrialisierung eine »Explosion von universalgeschichtlicher und globaler Dimension«, deren »materielles Wachstum als Ausdruck eines Transformationsprozesses interpretiert und (…) keineswegs als Signatur eines stabilen, strukturierten Zustands verstanden werden« muß. »Da dieser Grundsatz auch für Gesellschaften gilt, muß der Schluß gezogen werden, daß eine ›Industriegesellschaft‹ im Sinne einer dauerhaften sozialen, ökonomischen oder politischen Struktur überhaupt noch nicht existiert.«
Für Sieferle stecken wir immer noch im Chaos eines dauerhaften Reorganisationsprozesses fest, der alles mit sich fortreißt. Der oben kurz erwähnte Aufstieg und Niedergang des Ruhrpotts innerhalb dieses Prozesses kann durchaus als Ausdruck der dauerhaften Reorganisation gewertet werden.
Der »entfesselte Prometheus« hat eine »eigentümliche evolutionäre Selbstständigkeit gewonnen (…), die Willens- und Entscheidungsprozessen unzulänglich bleibt«. Indes lag der Ausgangspunkt dieser Entfesselung für Sieferle in den fossilen Schätzen unter der Erde verborgen. In seinem erstmals 1982 veröffentlichten umwelthistorischen Standardwerk Der unterirdische Wald – Energiekrise und Industrielle Revolution zeichnete er die in Europa flächendeckende Durchsetzung des Primärenergieträgers Steinkohle und das damit aufziehende Leben über die Verhältnisse kenntnisreich nach.
Von dieser Studie führte Sieferles Weg zum Rückblick auf die Natur und der mit dem Epochenwechsel vorgebrachten Erkenntnis, daß die liberalen Gesellschaften westlicher Provenienz mit ihrem vulgären Universalismus auf eine Zerfallsordnung des Behemoths zusteuern.
Nun ist Sieferles Standardwerk Der unterirdische Wald im Landt Verlag neu aufgelegt worden und kann natürlich direkt hier, bei Antaios, dem größten konservativen Versandbuchhandel, bestellt werden. Den ebenso lesenswerten 7. Band der Sieferle-Werksausgabe Die Krise der menschlichen Natur & Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt erhalten Sie hier.
Wer an die Wurzel der »Auflösung aller Dinge« vorstoßen und sich nicht nur mit oberflächlichem Herumdoktern an politischen Problem zufrieden geben möchte, für den ist Sieferles Kohle-Studie ein Muß – »klärende Lektüre, die halbe Regalmeter ersetzt«.
Um die ganz anderen Lektüren, die ganze Regalmeter mit verschwendeter Druckerschwärze und Papier vollstopfen, ging es in der 17. Folge des Podcasts aus Schnellroda »Am Rande der Gesellschaft«.
Sezession-Chefredakteur Götz Kubitschek, IfS-Leiter Dr. Erik Lehnert, Sezession-Literaturredakteurin Ellen Kositza und Sezession-Redakteur Benedikt Kaiser beschäftigten sich mit Erkenntnissen und Belanglosigkeiten der Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München, Hedwig Richter, der etwas aufgeblasenen Affäre um ihr Buch Demokratie. Eine deutsche Affäre und der Aufregung um die Empfehlung der Kositza-Rezension zu Martin Mosebachs neuem Roman Krass (hier lesen) durch den FAZ-Journalisten Patrick Bahners.
Außerdem diskutierte man über die Existenz von »Social-Bots« und zum wiederholten Male über die Corona-Maßnahmen und den Rückhalt für dieselbigen bei den Deutschen:
Hörstoff für das Wochenende!
RMH
Worüber ich - angesichts der sonst hier so üblichen Alternativ-Sichten (es gibt keine Viren etc.) - etwas verwundert bin ist der Umstand, dass das nahende Ende der Kohlenstoff basierten Rohstoffe hier regelmäßig ganz im Sinne der Mainstreams (Club of Rome etc.) durch gewunken wird.