Erstens findet man dort tatsächlich vernunftorientierte Berichterstattung und Analysen, die in der bundesdeutschen Tagespresse ausgeblendet oder aber ideologisch einseitig aufbereitet werden; die NZZ schließt damit gewissermaßen eine Informationslücke, so wie es einst das Westfernsehen für Teile der DDR übernommen haben soll.
Zweitens verweist der Terminus »Westpresse« aber eben auch auf den Westen als Standort des eigenen Denkens. Das macht sich in der außenpolitischen Abteilung der NZZ Tag für Tag bemerkbar. Die bisweilen moralpolitisch daherkommende Parteinahme wider Nationalstaaten, die der liberalen Weltordnung gegenüber skeptisch operieren – von Ungarn bis China –, finden sich ebenso wie pauschalisierende Rußland-Schelte.
Ein markantes Beispiel hierfür bietet nun Markus Zieners Beitrag auf der NZZ-Medienseite (v. 14.4.2021) über »Journalismus als eine weitere Waffe«. Deutschland, so erfährt man einleitend, sei »das Hauptziel russischer Propaganda«. Eine erhebliche Rolle spiele dabei der staatsnahe TV-Sender »RT« (ehemals: »Russia Today«), der im deutschen Sprachraum bisher lediglich virtuell als »RT Deutsch« operiert.
Seit dem »Fall Nawalny« habe dies zugenommen, »Medien und Journalisten« geraten, so Ziener, ins »Fadenkreuz« der Russen:
Ein vorläufiger Höhepunkt war erreicht, als im März die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa, «harte Gegenmassnahmen für die in Russland arbeitenden deutschen Medien» androhte. Sacharowa begründete ihre Drohung mit einem Streit über die Schliessung eines Geschäftskontos des russischen Propagandasenders RT DE bei der deutschen Commerzbank.
Nun kann man darüber streiten, ob die Wertung »Propagandasender« direkt in einen Bericht einfließen muß, aber die Aufhebung der Scheidung »Bericht« versus »Kommentar« erfolgt bedauerlicherweise auch zunehmend in der Schweiz. Zumindest weiß der Leser direkt, womit er es zu tun hat – und erfährt über die Kontenkündigung seitens der Commerzbank, daß BRD-Außenminister Heiko Maaß politischen Druck als Hintergrund ausschließe. Erleichterung.
Der eigentliche Druck werde, so die freisinnige NZZ selten staatsaffirmativ, ohnehin durch die Russen ausgeübt:
Kein anderer EU-Staat wird heftiger angegriffen als Deutschland. Laut der Analyse war Berlin seit Ende 2015 mehr als 700 Mal Ziel von Kampagnen russischer Medien. (…) Bereits im letzten Jahr hatte auch das Bundesamt für Verfassungsschutz vor russischen Medien gewarnt, die «auf ihren deutschsprachigen Kanälen Desinformation und Propaganda über die Corona-Situation in Deutschland» verbreiteten.
Da sind wir aber erleichtert, daß Putins Rußland noch nie in bundesdeutschen Medien »heftig angegriffen« wurde, und daß Unvoreingenommenheit und Fairneß die entsprechende Berichterstattung prägen; erleichtert sind wir ferner, daß unsere Staatsnahen keine »Desinformation und Propaganda über die Corona-Situation in Deutschland« zu betreiben gedenken.
Immerhin muß man der NZZ zu gute halten, daß sie auch, journalistischen Mindeststandards verbunden, die Gegenseite anhört.
«Wir betreiben keine Desinformation, und wir distanzieren uns von Verschwörungstheorien», sagt Alexander Korostelev, Programmchef von RT DE, im Gespräch mit der NZZ. Er räumt aber gleichzeitig ein Imageproblem ein: «Unser Ziel ist es, nicht mehr als Quelle der Desinformation wahrgenommen zu werden. Daran wollen wir arbeiten.»
Auch als relativer Vielleser der Tagespresse nimmt man immer noch gelegentlich mit Verwunderung zur Kenntnis, daß die Gültigkeit dessen, was dem »Gegner« vorgeworfen wird, selten kritisch auch für sich abgewogen wird. Deutlich wird dies bei der Einbettung Korostolevs durch eine vermeintlich neutrale Expertin:
«Krisenhafte Entwicklungen im Westen, wie etwa der Brexit, werden herausgestellt, westliche Regierungen als unfähig beschrieben, und man prophezeit den Niedergang der liberalen Gesellschaften», sagt Susanne Spahn, die als Osteuropa-Historikerin die Arbeit der Kreml-Medien seit vielen Jahren genau beobachtet. «Es gibt eine ganz klare Einteilung in Freunde und Feinde.»
Legt man diese Argumentationsschablone auf westliche Medien an, drängt sich die Frage auf, ob Frau Spahn entgangen ist, daß auch die hiesigen (staatsnahen wie privaten) Medien zuvorderst dann über politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse in Rußland berichten, wenn man den »Niedergang« der Putin-Ordnung in die Geschehnisse projizieren kann.
Auch die »ganz klare Einteilung in Freunde und Feinde« ist in Westmedien üblich – neben dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán sieht sich Putin regelmäßig als Autokrat oder Despot, wenn nicht als Stalin 2.0 diffamiert. Auch darüber: kein Ton der Selbstkritik.
Erheiternd wird es dann, wenn RT vorgeworfen wird, daß viele Beiträge »nicht den journalistischen Standards entsprechen« und das just damit untermauert wird, daß »Gegenmeinungen nicht eingeholt« werden:
Quellen werden nicht eingeordnet, oder es werden Quellen mit bestenfalls geringer Relevanz als Basis für Artikel mit alarmistischem Grundton genommen. Im Ergebnis wird ein Weltbild suggeriert, das mit den Realitäten nur in Ausschnitten etwas zu tun hat.
Keine Gegenmeinung eingeholt? Quellen mit geringer Relevanz? Alarmistischer Grundton? Das wäre ja gerade so, als ob staatsnahe und private Medien – beispielsweise in Deutschland – die Objekte ihrer Diffamierung nicht um Stellungnahmen bäten und mediokre Antifa-Hanseln als »Rechtsextremismusexperten« einführen würden. Oder es wäre so, daß man beim regelmäßigen Konsum von Tagesschau, Zeit und Co. das Gefühl bekommen könnte, die Machtübernahme einer herbei phantasierten Armada von rechts stünde kurz bevor.
Auch daß ein Weltbild ungefiltert propagiert wird, wäre im Westen natürlich undenkbar, wo vermeintliche Fakten der staatsnahen ARD immerhin – kritisch, objektiv, ehrlich – durch die staatsnahe ARD kritisch »gecheckt« werden.
Aber natürlich steht der Feind im Osten, und dafür hat man eine weitere sattelfeste Expertise eingebaut: Die amerikanische Denkfabrik Rand Corporation komme ebenfalls zu dem Ergebnis, daß russische Medien Konflikte schüren und entschieden Partei ergreifen. Na dann!
Immerhin darf RT parieren:
Nach Meinung von Alexander Korostelev bietet der russische Sender lediglich alternative Informationen an. «Die Menschen in Deutschland verlieren das Vertrauen in die etablierten Medien», sagt der 30-Jährige. Deshalb würden sich die Nutzer Medien wie RT zuwenden. Nach Angaben von RT rangierte der deutsche Ableger in den Monaten November 2020 bis Februar 2021 unter den fünf Besten, was die Klickzahlen von Videos auf Facebook angeht. Zudem seien die Seitenzugriffe auf RT DE im Vergleich zum Vorjahr um 78 Prozent gestiegen.
Facebook ist aber nicht alles, zumal man dort gelöscht werden kann. Daher gedenkt man bei RT, »massiv in den Ausbau des Programms investieren«:
Derzeit sucht der Sender nach 200 zusätzlichen Mitarbeitern, um im Dezember mit einem deutschen TV-Kanal an den Start zu gehen. Derzeit beschäftigt RT lediglich einige Dutzend Mitarbeiter in der Online-Redaktion in Berlin.
Beizupflichten ist Markus Ziener, daß es bei der Umsetzung dieses ambitionierten Vorhabens erhebliche Probleme geben dürfte:
Nach Auskunft der Medienanstalt Berlin-Brandenburg hat RT DE bisher keinen Lizenzantrag zum Betrieb eines Fernsehsenders gestellt. Es ist auch kein Lizenzantrag bei einer anderen Landesmedienanstalt bekannt. Viel wichtiger indes ist: Staatlich kontrollierte Sender können in Deutschland grundsätzlich keine Rundfunklizenz erhalten.
Doch die russische Lösung könnte eine europäische sein:
RT besorgt sich eine Sendelizenz in einem EU-Nachbarland, das auf Staatsferne weniger Wert legt, und kommt über diesen Umweg ins deutsche Kabelnetz. Die spanischen und britischen Programme von RT sind auf diese Weise bereits in Deutschland empfangbar.
Spanische, britische … und türkische, katarische, arabische etc.
Die NZZ fragt sibyllinisch:
Hätte damit die russische Regierung über das Fernsehen noch mehr Zugriff auf die deutsche Öffentlichkeit?
Mir wäre es persönlich neu, daß die russische Regierung überhaupt »Zugriff auf die deutsche Öffentlichkeit« besitzt – ist das also schon der weiter oben monierte »Alarmismus«? Nundenn, Kritiker hegen jedenfalls Zweifel an der vermeintlichen Unabhängigkeit RTs vom russischen Staat:
Der Investigativjournalist Alexei Kowaljow drückt es so aus: «Journalisten, die für RT arbeiten, wissen, was von ihnen erwartet wird.»
Journalisten, die für die ARD arbeiten, wissen natürlich nicht, was von ihnen erwartet wird. Deshalb ist die staatsnahe Medienlandschaft hierzulande ja so plural, so offen, so kontrovers. Oder?
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Bleiben wir lieber in der Schweiz. Dort hat man, rechts der NZZ, mit der freiheitlich-konservativen Weltwoche ein Magazin von Format, das sich neben konstanter Berichterstattung zu schweizerischen und europäischen Themen aus Kultur, Wirtschaft und Politik immer wieder auch nonkonformer Gesprächsführung widmet. Nach dem kontroversen AfD-Aushängeschild Björn Höcke (hier entlang, Artikel frei verfügbar) ist diesmal das kontroverse Linkspartei-Aufhängeschild Sahra Wagenknecht an der Reihe.
Anlaß ist – natürlich – das neue Buch Wagenknechts: Die Selbstgerechten. Sie sieht sich seit Ankündigung des Titels und verstärkt seit Erscheinen – erneut – dem Vorwurf ausgesetzt, »rechts« zu denken. Der vereinigten Linken (weit über Wagenknechts Partei Die Linke hinaus) gehen Standpunkte wie jener, wonach »immer skurrilere Minderheiten« der Mehrheit des Volkes ihren Willen aufdrücken, einfach zu weit.
Sie fragen: Ist das noch links? Und geben selbst die Antwort: Nein. Nicht jeder macht das so hysterisch wie der Blätter-Redakteur Albrecht von Lucke, aber einig ist man sich schon darin, daß Wagenknechts Vorstoß der politischen Linken »nicht egal sein (kann), da es auf alle zurückfällt«, wie Martina Renner, stellvertretende Linkspartei-Parteivorsitzende und Bundestagsabgeordnete, bei Twitter kundgab.
Was also bringt »freiheitliche« (Lucke) wie dogmatisch-antifaschistische (Renner) Linke so auf die Palme? Roger Köppel und Erik Ebneter wollen es im Interview, das mit »Ich möchte mit Vorurteilen aufräumen« in der aktuellen Weltwoche (v. 15.4.2021) überschrieben ist, herausfinden, und zwar in einer heutzutage selten vorzufindenden Ausführlichkeit. (Die Weltwoche gibt es übrigens am Kiosk auch in Deutschland; einfach Standort eingeben und nächstgelegene Verkaufsstelle herausfiltern.)
Bereits mit der ersten Frage benennen Köppel/Ebneter den Kern der Problematik: »Lifestyle-Linke«. Diesen Terminus versucht Wagenknecht in ihrem Buch zu setzen; man könnte diese Depravation auch postmoderne Linke, (neo)liberale Linke oder, unspezifischer, Mainstream-Linke nennen. Wagenknecht wirft dieser Was-auch-immer-Linken nun vor, die eigentlichen Interessen linker Politik außer Acht zu lassen, die eigentlichen Adressaten linker Politik zu ignorieren oder aber zu verachten.
Die verschüttet gegangenen »Ur-Anliegen« beschreibt sie so:
Einsatz für Menschen, die es schwer haben und über wenig Aufstiegschancen verfügen. Stattdessen definieren sich diese angeblichen Linken über Haltungsnoten und Lebensstilfragen. Sie verstehen sich als Weltbürger und verachten – man muss es leider so sagen – die Werte, die Lebensweise, die Kultur der einfachen Leute.
Daß es soweit kam ist für Wagenknecht der Liberalisierung der Linken anzulasten, was eine neue Form moralistischer Linker generierte:
Diese verbinden eine neoliberale Wirtschaftspolitik mit einer angeblich linken Identitätspolitik. Das heisst, man beschäftigt sich obsessiv mit den Unterschieden zwischen Menschen unterschiedlicher Abstammung oder mit sexuellen Orientierungen.
Diese Synthese liberaler und linker Theoreme als »Linksliberalismus« unter zeitgenössischen Bedingungen zu fassen, sieht Wagenknecht nun aber gerade nicht als gerechtfertigt:
Die SPD schuf als Regierungspartei einen riesigen Niedriglohnsektor. Vor allem Frauen und Nachfahren aus Einwandererfamilien werden seither in miserabel bezahlte Jobs abgedrängt. Gleichzeitig schafft man Stellen für Frauen- und Antidiskriminierungsbeauftragte, um das linke Gewissen zu beruhigen. Doch letztlich befördert man so die Ungleichheit, die man zu bekämpfen vorgibt. Darum ist auch die Bezeichnung “linksliberal” irreführend. Liberale streiten für gleiche Rechte. Identitätspolitik ist kein Kampf um Gleichheit, sondern um Sonderrechte.
Wagenknecht nimmt an Fahrt auf, und man nimmt ihr deshalb nach der Lektüre die versöhnlichen, auf Harmonie abzielenden Worte in Richtung innerparteilicher Identitätspolitiker noch weniger ab, da sie deren Ideologieproduktion im Kern attackiert, ja sogar als »inszeniertes Linkssein« verwirft:
Diese Identitätspolitik ist an amerikanischen Eliteuniversitäten entstanden. Nach ihrer Logik kann eine schwarze Studentin, deren Eltern sich die Jahresgebühr von mehreren zehntausend Dollar leisten können, den weissen Hausmeister auffordern, seine Privilegien zu checken. Diese Ideen sind nach Europa übergeschwappt, in die Universitäten, die Medien, letztlich auch die linken Parteien.
Man merkt in jeder Zeile die inhaltlich enge Bindung an Bernd Stegemann, mit dem gemeinsam sie beim Projekt »Aufstehen« scheiterte. Wie bei dessen jüngstem Buch Die Öffentlichkeit und ihre Feinde zielt auch ihre nunmehrige Kritik auf die Vernachlässigung des Themas »sozialer Gerechtigkeit« zugunsten der Bedienung von Minderheitenfetischen ab. Wagenknecht verdichtet Stegemanns ausführliche Schilderung (vgl. die 10. »Sammelstelle«) in zwei Sätze:
Es gibt keinen Twitter-Sturm, wenn ein Unternehmen die Löhne drückt. Aber wehe, wenn es eine angeblich sexistische Werbung schaltet.
Nach einem Hin und Her um Umbenennungen von Restaurants oder Straßennahmen machen die Weltwoche-Autoren einen Punkt, indem sie darauf verweisen, daß die Kritik der Identitätspolitik eigentlich vor allem anderen eine Kritik der Grünen sein müßte – doch diese sind damit sehr erfolgreich, die Linkspartei nicht.
Wagenknecht bestätigt diesen Einwand:
Sie erreichen damit eine bestimmte Klientel. 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung arbeiten heute in gutbezahlten Dienstleistungsberufen für Hochschulabsolventen. Das ist das Milieu der Grünen, ein neues Bürgertum. Sozialdemokraten und andere Linke sollten nicht versuchen, mit den Grünen vor allem um diese Wähler zu konkurrieren. Wenn wir sein wollen wie die Grünen, verlieren wir die Menschen, die wir eigentlich vertreten sollten: Arbeiter, Geringverdiener, die klassische Mittelschicht. Besonders Arbeiter wählen heute rechts.
Wagenknecht hat Recht, und genau deshalb attackiert sie, wenn sie die Wahl hat, öffentlich vor allem sozialpolitisch profilierte Politiker der AfD um Björn Höcke, weniger Rechtsliberale wie Jörg Meuthen oder Linksliberale wie Robert Habeck. Wagenknecht kann es nicht dulden, daß sich eine sozialpatriotische Kraft festsetzt, die der Linkspartei ihre klassischen Wähler – in ihren Worten: »Arbeiter, Geringverdiener, die klassische Mittelschicht« – weiter abspenstig macht und ihr nur noch jene »Lifestyle-Linken« überließe, die freilich einigermaßen erfolgreich von den Grünen umworben werden, denen man dabei oftmals seitens der Medien zu helfen bereit ist.
Denn klar ist:
Auch unter Journalisten gibt es nicht wenige Lifestyle-Linke.
Und sie teilen bekanntermaßen größtenteils jene postmoderne Identitätspolitik, deren Vertreter jüngst Bernd Stegemann qua veritablem Shitstorm von Twitter verdrängten. Die stete Monetarisierung und diskursive Nutzbarmachung des Opfer-Narrativs ist ohnehin konstitutives Element der Lifestyle-Linken:
Es geht darum, dass mittels Identitätspolitik immer skurrilere Kleingruppen formiert werden, die dann sagen können: “Ich bin ein Opfer, und da ich ein Opfer bin, darf mich niemand kritisieren.”
Wagenknecht führt das aus, man kann es in der Weltwoche und in ihrem Buch nachlesen; entscheidend ist die Überleitung der schweizerischen Journalisten zur Frage nach der Unvereinbarkeit von Massenmigration und Sozialstaat.
Köppel und Ebneter postulieren:
Wenn man die Grenzen abschafft, geht der Sozialstaat zugrunde.
Und fragen:
Warum ist das so tabuisiert?
Wagenknecht gibt daraufhin eine kurze Einführung in Argumentationsmuster, die rechts der Mitte seit Jahren einigermaßen konsensfähig sind – aber links offenkundig für Entsetzen sorgen. Die Weltwoche ruft die migrationsskeptische Linksregierung in Dänemark in Erinnerung und zitiert die sozialdemokratische Premierministerin Mette Frederiksen.
Diese sagt:
Wir müssen darauf achten, dass nicht zu viele Flüchtlinge in unser Land kommen, sonst könnte unser sozialer Zusammenhalt nicht existieren. Er ist bereits in Gefahr.
Wagenknecht verbessert ihre Lage in der hysterischen Linken wohl kaum. Denn sie antwortet unumwunden:
Ja, sie hat völlig recht. Dänemark hat einen starken Sozialstaat, der könnte nicht fortbestehen, wenn es zu viel Migration gibt.
Diese im parteipolitischen Sinne in Deutschland bis dato nur von der AfD vertretene Haltung macht verständlicher, warum Wagenknecht im neuen Buch die polnische PiS-Regierung, die gesellschaftspolitisch »rechte« Standpunkte vertritt, wirtschafts- und sozialpolitisch aber »linke« Akzente setzt, positiv hervorhebt.
Im Weltwoche-Gespräch blickt sie lieber auf die Insel, um auch dort eher rechte Praktiker anzuführen:
Ich bin ja kein Fan von Boris Johnson. Aber er wurde in der deutschen Presse als Clown lächerlich gemacht. Nun öffnen in Grossbritannien die Pubs. Und Deutschland steht vor dem nächsten Lockdown. Es scheint also gar nicht so schlecht zu sein, von Clowns regiert zu werden.
Hernach kehrt Wagenknecht zur Ernsthaftigkeit zurück und offenbart kurz vor Gesprächsende erstmals eine tiefe Kluft zur politischen Rechten, zumindest womöglich:
Ein Vorurteil lautet, “Nation” sei eine ethnisch definierte Grösse. Das ist Quatsch. Die Deutschen sind ethnisch äusserst vielfältig. Allerdings gibt es eine gemeinsame Geschichte und Kultur, die für Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit sorgt.
Womöglich: Denn daß die Deutschen in sich eine reiche Vielfalt bieten, wird ja gerade rechts betont, und daß es keine absolute ethnokulturelle Homogenität geben kann und soll, sondern eine relative, wird nicht zuletzt in dieser Zeitschrift immer wieder betont. Wagenknecht läßt also ihren Volksbegriff bewußt oder unbewußt im unklaren; einen Begriff, den ich in der Geländevermessung Blick nach links neben dem skeptisch-realistischen Menschenbild der »Neuen Rechten« als entscheidende Trennlinie ausmachte.
Keine Zweifel läßt sie bestehen an der Quintessenz eines jeden »Solidarischen Patriotismus«:
Aber ein Sozialstaat beruht nun einmal auf der Bereitschaft zur Solidarität, die nur da vorhanden ist, wo es ein ausgeprägtes Wir-Gefühl gibt.
Hier hätte man sich gewünscht, daß die Journalisten insistieren: Wie soll das ausgeprägte Wir-Gefühl bewahrt werden, wo es noch vorhanden ist? Wie kann man etwas rekonstituieren, das durch Globalismus, Multikulturalismus und den liberalen Ich-Fetisch pulverisiert wurde? Benötigt man hierfür nicht eine positive Identitätspolitik des Kollektiven, das man der negativen Identitätspolitik der linksliberalen (oder Lifestyle-linken) Kreise entgegensetzen kann?
Das Weltwoche-Duo entscheidet sich allerdings für einen Schwenk zur EU-Debatte und der Frage nach Souveränität. Wagenknecht touchiert hier schon wieder AfD-Programmatik (»Dexit«), modifiziert diese allerdings korrekterweise kapitalismuskritisch:
Deutschland sollte sich für eine Veränderung, einen Rückbau der EU einsetzen. Die Kommission hat heute viel zu viele Möglichkeiten der Einmischung in die nationale Politik. Sie hat die Felder, in denen sie Einfluss nehmen kann, immer mehr ausgeweitet. Und sie hat diesen Einfluss in der Regel genutzt, um Arbeitnehmerrechte zu schleifen, Privatisierungen voranzutreiben oder grossen Konzernen Vorrang auf lokalen Märkten zu verschaffen.
Fassen wir zusammen: Kritik der Lifestyle-Linken und ihrer Fetischpolitiken; positive Bezugnahmen auf ein Wir-Gefühl; die Betonung der Notwendigkeit nationaler Schutzmechanismen, um den Sozialstaat zu sichern; substantielle EU-Schelte. Das sind ausreichend Gründe, will man meinen, um der vereinigten zeitgenössischen Linken ein Dorn im Auge zu sein.
Dennoch, und genau dies muß man Wagenknecht vorwerfen, will sie weiter dieser Linken, die all das fundamental ablehnt, ihr Renommee, ihre Expertise, ihre Power zur Verfügung stellen:
Ich bin überzeugt, dass wir mit meinen Ideen weit mehr Menschen erreichen könnten, als es die linken Parteien heute tun.
Davon bin ich ebenfalls überzeugt und deshalb einigermaßen erleichtert, daß die heutige Linke (ob parteipolitisch in der SPD, bei den Grünen oder in der Linkspartei organisiert) in ihrer unisono erfolgenden Wagenknecht-Verdammung eindrücklich beweist, daß mit einer Wagenknecht-affinen Wende nicht ansatzweise zu rechnen ist.
Einmal mehr die Frage also: Ist das Geschriebene, ist Wagenknecht, ist ein Programm sozialer Einbettung in ein auf gewachsenem Vertrauen und konkreter Solidarität beruhendes Ganzes, ist das alles noch links?
Sie selbst bejaht diese Frage:
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der echte Chancengleichheit besteht und die Anstrengung und Leistung des Einzelnen über seine Perspektive entscheidet, nicht die soziale Herkunft. Kinder aus ärmeren Familien haben heute viel schlechtere Bildungschancen als Kinder wohlhabender Eltern. Und wer nicht wenigstens Abitur macht, hat kaum noch Aussicht auf einen soliden Wohlstand. Viele schuften, leben mehr als bescheiden und haben am Ende des Monats trotzdem ein leeres Konto. Das finde ich unerträglich. Diesen Menschen will ich eine Stimme geben. Darum bin ich links.
Mit derselben Begründung ließe sich auch postulieren: »Darum bin ich rechts.« Und eben dies wird Wagenknecht nicht mehr verziehen werden. Aus Sicht der hegemonialen Strömungen in der gesamten deutschsprachigen Linken ist sie endgültig zu weit gegangen.
Man darf auf die Entwicklungen der kommenden Zeit gespannt sein, ohne von einem »Überlaufen« oder ähnlichem auszugehen. Wagenknecht ist die Vergegenständlichung der Widersprüche in der zeitgenössischen Linken. Aber manche Widersprüche lassen sich eben nicht lösen oder aufheben – sondern lähmen die sie personifizierenden Träger bei der Übertragung des theoretisch Postulierten in praktische Politik.
Für die Linkspartei ist das im Superwahljahr keine gute Nachricht.
Leander
Wagenknecht in Metamorphose? Gegen die sie wegen ihrer Sozialisierung (noch) ankämpft?
Oder einfach gesunder Menschenverstand, der weder ideologistisch links noch rechts ist?