Der Londoner Publizist David Goodhart hat 2017 in seinem Buch Road to Somewhere eine inzwischen als kanonisch geltende Unterscheidung zwischen den Anywheres (»Überall-Menschen«) und den Somewheres (»Irgendwo-Menschen«) getroffen, welche die neuen Bruchlinien jenseits der Rechten und Linken hervortreten läßt. In Deutschland hat Alexander Gauland diese Begrifflichkeit in die Debatte eingeführt, unter anderem in einem Vortrag zur Winterakademie 2019 des Instituts für Staatspolitik. Dieser Vortrag ist in Sezession 88 (Themenheft »Volk«) abgedruckt und fand Eingang in Gaulands kaplaken-Bändchen (Nation, Populismus, Nachhaltigkeit, Schnellroda 2019). Anläßlich der französischen Ausgabe des Buchs von Goodhart (frz. Les deux clans. La nouvelle fraction mondiale, Paris: Les Arènes 2019) wurde im französischen Magazin éléments ein Interview mit dem Autor veröffentlicht. Wir drucken es in der deutschen Übersetzung von Christa Nitsch ab.
ÉLÉMENTS: Sie kommen zum Fazit, daß es einen keineswegs auf Großbritannien beschränkten Bruch zwischen den Anywheres und den Somewheres gibt, der durch sozio-ökonomische und kulturelle Faktoren bedingt ist. Könnten Sie die Methode skizzieren, die Ihnen nicht nur erlaubte, diese Kategorien zu definieren, sondern zudem auch den jeweiligen Anteil dieser beiden »Clans« in der englischen Gesellschaft zu quantifizieren?
DAVID GOODHART: Die Methode ist nicht sehr kompliziert. Ich habe mich schlicht und einfach mit der Meinungs- und »Werte«-Forschung intensiv auseinandergesetzt, speziell dem unersetzlichen »British Social Attitudes Survey« [eine seit 1983 durchgeführte jährliche Umfrage, deren Ziel es ist, die Meinungsentwicklung der Briten bezüglich einer ganzen Reihe sozialer Themen einzuschätzen – A.d.Ü.]. Ich analysierte die Standpunkte und Gesinnungen der Befragten, abhängig von verschiedenen sozialen Kriterien, insbesondere aber vom Bildungsniveau. Dabei wird deutlich, daß 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung eine weitgehend liberale anywhere-Weltsicht vertritt. Diese ist gekennzeichnet durch den eindeutigen Vorzug, den man gesellschaftlicher Öffnung und individueller Freiheit gibt, durch eine wohlwollende Einstellung der Einwanderung gegenüber und einen nur schwach entwickelten Sinn für nationale Zugehörigkeit. Ungefähr die Hälfte der Briten hingegen verfügt im allgemeinen über ein niedrigeres Bildungsniveau – diese nenne ich nun Somewheres –, beharrt mit größerem Nachdruck auf dem vertrauten Charakter von Herkunftsort und Gemeinschaft und zieht die Sicherheit der Freiheit und Neuartigkeit vor. Natürlich handelt es sich hier um holzschnittartige, etwas unscharfe Weltanschauungsentwürfe, und es läßt sich über den jeweiligen Anteil der Bevölkerung, den ich der einen oder anderen Gruppe zuordne, immer streiten. Auch muß einem klar sein, daß sich sowohl Anywheres als auch Somewheres in unzählige Unterkategorien aufsplittern. So findet man am äußersten Rand der Anywheres die wahren Bewohner des »globalen Dorfes«, die nur drei bis fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen. Und am äußersten Rand der Somewheres tummeln sich die hartgesottenen Xenophoben, auch diese ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung ausmachend. Eine ebenfalls wichtige Gruppe – etwa ein Viertel der Bevölkerung – teilt ungefähr zu gleichen Teilen beide Weltanschauungen: ich habe sie – verzeihen sie meine Phantasielosigkeit! – die Inbetweeners (etwa »Dazwischen-Menschen«) genannt.
Wie dem auch sei: Die Briten, mit diesen von mir geschaffenen Etiketten versehen, sind von der Gesellschaftsentwicklung objektiv betroffen und verorten sich selbst subjektiv und zum Spaß entweder in der einen oder der anderen Gruppe, wobei die meisten der individuellen Existenzen viel zu idiosynkratisch und einzigartig sind, um paßgenau der einen der beiden Kategorien zu entsprechen. Nichtsdestoweniger hilft uns diese Etikettierung, einige grundlegende Tendenzen zu verstehen, die heute in den westlichen Gesellschaften am Werk sind. Ich glaube, daß die fundamentalen Unterschiede zwischen den Anywheres und den Somewheres in ihren jeweiligen Einstellungen zu Gruppenzugehörigkeit und Wandel zu suchen sind. Den Anywheres eignet gewöhnlicherweise das, was man eine »absolute Identität« zu nennen pflegt: Sie fußt auf ihrem schulischen und professionellen Erfolg, der sie wiederum dazu befähigt, geschickter auf den Wogen der Modernität zu segeln. Den Somewheres hingegen möchte man eher eine »relative Identität« zusprechen, gegründet auf der Stabilität des Ortes und der Gemeinschaft. Deshalb werden die Identitäten der Somewheres durch den gesellschaftlichen Wandel auch leichter erschüttert. Was man sich ständig vergegenwärtigen muß, ist die Tatsache, daß beide Weltzugriffe ganz und gar angemessen und berechtigt sind, zumindest in ihrer gemäßigten Form. Das Problem beginnt dort, wo sie in manchen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens so heftig aufeinanderprallen, daß dieser Gegensatz zur Ursache der aktuellen politischen Instabilität wird.
ÉLÉMENTS: Was bleibt in dieser neuen Aufstellung vom alten Gegensatz zwischen Rechts und Links übrig?
DAVID GOODHART: Die Linke und die Rechte sind nicht verschwunden, genausowenig wie der Klassenkampf oder die Debatten über Umverteilung oder den Einfluß des Staates … Aber dieser Gegensatz hat relativ gesehen an Wichtigkeit verloren, und zwar aus zwei Gründen: Zunächst weil jene anderen soziokulturellen Fragen, die die Anywheres und Somewheres entzweien – Sicherheit, Identität, Grenzen, Immigration, nationale Leitwerte, der Rhythmus des Wandels etc. – heute einen zentralen Platz in der Politik einnehmen. Das liegt an der nach Ende des Kalten Krieges einsetzenden und stetig größer werdenden Öffnung der Gesellschaften sowohl in ökonomischer als auch gesellschaftlicher Hinsicht. Zweitens wurden wir in den vergangenen Jahrzehnten Zeugen einer ziemlich erstaunlichen Übereinstimmung der Ansichten in ökonomischen Belangen. Dies gilt für Großbritannien, doch trifft es, denke ich, auch für die meisten anderen europäischen Länder zu. Die Klassengegensätze sind etwas abgestumpft. Die Arbeiterklasse ist geschrumpft und weniger links eingestellt, die Mittelschicht ist nicht mehr so sehr auf ihre Privilegien erpicht und sozialer Gerechtigkeit gegenüber weniger abgeneigt, teilweise deshalb, weil immer mehr Angehörige der Mittelschicht in der sogenannten Care-Ökonomie beschäftigt sind: im Gesundheitswesen, im Erziehungssystem … Nur wenige Personen der rechten Mitte sind noch Anhänger des Thatcherismus. Corbyns Niederlage bei den letzten Wahlen rührt unter anderem daher, daß er die Konservativen als widerliche »Deregulatoren« karikierte, denen allein an der Zerschlagung des Gesundheitswesens liegen soll. Die Tory-Partei begünstigt in Wirklichkeit eine soziale Marktdemokratie. Der Konservatismus, Verfechter eines schlanken Staates und niedriger Steuern, ist in Europa zu einer marginalen politischen Kraft geworden. Natürlich sind die Konservativen nicht solche Gleichheitsfanatiker wie die linken Wähler, doch teilen viele von ihnen inzwischen die Überzeugung, daß zu große Ungleichheiten problematisch sind.
ÉLÉMENTS: Sie beschreiben die Einstellung gegenüber der Massenimmigration als jenen Faktor, der die brüchig gewordenen westlichen Gesellschaften am tiefsten spaltet. In Großbritannien selbst handelt es sich dabei wohl kaum um Rassismus, weil die Ablehnung der Massenimmigration in erster Linie der explosionsartigen Zunahme der Einwandererströme europäischer Bevölkerungsgruppen gilt, die aus dem Osten des Kontinents kommen. In welchem Maße veranschaulichen diese Einwandererströme den Graben zwischen »Überall« und »Irgendwo«?
DAVID GOODHART: Rassismus gibt es zwar nach wie vor in unseren Gesellschaften, aber weit weniger als in der Vergangenheit. Dies rührt zum einen daher, daß wir uns gewöhnt haben, im Alltag Leuten unterschiedlicher ethnischer Herkunft zu begegnen, zum anderen aber liegen die Kolonialzeit und die diese begleitende Suprematismusvorstellung (White Supremacy) hinter uns. Im Brexit eine durch Rassismus oder Nostalgie für das Empire motivierte Entscheidung zu sehen, ist, dies sei en passant angemerkt, blühender Unsinn. Das Britische Weltreich kam eher zufällig zustande, würde ich sagen, und hat sich in den zwanzig Jahren, die dem Zweiten Weltkrieg folgten, ohne große Nostalgie oder Widerstand in Nichts aufgelöst. Zum Teil deshalb, weil wir im Gegensatz zu Frankreich nur wenige Siedler in den Gebieten des Empires hatten. Weniger als zehn Prozent der Bevölkerung Großbritanniens erachtet es heute als notwendig, daß einer ein Weißer sein muß, um als »waschechter« Brite zu gelten. Sie unterstreichen auch zurecht, daß sich die Auflehnung gegen die Masseneinwanderung in den letzten Jahren gegen die osteuropäischen Einwanderer, also Weiße und Christen, richtet. Überdies gibt es einen viel größeren Widerstand gegen nicht qualifizierte als gegen qualifizierte Arbeitsmigration, was wiederum ein Nonsens wäre, wenn dieser Widerstand einen rassistischen Beweggrund hätte.
Viele Anywheres drücken ihren liberalen politischen Radikalismus in einem abstrakten Engagement für eine möglichst uneingeschränkte Immigration aus. Sie sind überzeugt, daß »Diversität« auf jeden Fall etwas Erfreuliches ist. Sie unterhalten nur lose Verbindungen zur Gruppe, worunter auch Nation und besondere Orte fallen. Sie neigen dazu, in der Gesellschaft ein zufällig entstandenes Konglomerat zu sehen und leugnen alle Probleme, die mit der »Aufnahmekapazität« zusammenhängen. Die Somewheres machen direktere, konkretere Erfahrungen mit der Immigration und sie leiden unter ihren negativen Folgen, wozu in erster Linie der Wettbewerb um die schrumpfenden Ressourcen des Wohlfahrtsstaates gehört. Sie stehen zu ihren stärkeren Bindungen – insbesondere an den Nationalstaat und an spezielle Orte –, die ihnen durch eine zu rasante, zu massive Einwanderung geschwächt, ja gefährdet scheinen.
ÉLÉMENTS: Sie haben schon öfter geschrieben, daß der als zu rasant empfundene Rhythmus des Wandels den Widerstand der »Irgendwo-Menschen« auslöse. Aber ist es nicht vielmehr das durch den Wandel angestrebte und allen bekannte Endziel, das die große Mehrheit der Leute ablehnt?
DAVID GOODHART: Ja, der Wandel in den modernen liberalen Gesellschaften bewirkte fast immer eine Abschwächung der Bindungen innerhalb der Gemeinschaft, ein Wegbrechen der Rahmenstrukturen und der Traditionen; er führte zu immer mehr Auszeichnungen der »Intelligenz« und zu einer Abwertung der nicht qualifizierten Beschäftigung. Insofern ist die Nostalgie all jener, die von diesem durch die Anywheres angeregten Wandel nicht profitieren, ganz und gar gerechtfertigt.
ÉLÉMENTS: Sie unterscheiden zwischen einem »anständigen« beziehungsweise salonfähigen Populismus und einem unberechtigten beziehungsweise geächteten Populismus. Welches sind Ihrer Meinung nach die Trennlinien, die zwischen berechtigt und unberechtigt verlaufen? Welchem Block ordnen Sie den französischen Populismus zu, der sich neuerdings um Marine le Pens Rassemblement National zu scharen scheint?
DAVID GOODHART: Die Populisten, die ich die »salonfähigen« nenne, haben im großen und ganzen die in den letzten Jahren vollzogene Liberalisierung der kulturellen Einstellungen zu Rasse, Geschlecht und Sexualität akzeptiert. Das heißt aber noch lange nicht, daß sie zu Liberalen geworden sind. Das hindert sie auch nicht, an solche Dinge zu glauben wie stabile Gemeinschaften, gut bewachte Grenzen, den Vorrang nationaler vor universellen Rechten, die Unduldsamkeit gegenüber dem Verbrechen … In meinen Augen sind die meisten populistischen Parteien – dazu gehört auch das Rassemblement National – vollkommen salonfähig. Rassismus ist eine der offensichtlichen Trennlinien oder Gewalttätigkeit. Deshalb sind für mich gewalttätige Parteien, etwa die Goldene Morgendämmerung in Griechenland, nicht legitim. Salonfähige Populisten akzeptieren die Idee der Gleichheit aller Menschen, selbst wenn sie nicht allen Menschen gegenüber die gleichen Verpflichtungen empfinden. Auch glaube ich, daß wir etwas, was wir nur allzu oft tun, in Zukunft vermeiden müssen: Die Linksradikalen und die Rechtsradikalen mit zweierlei Maß zu messen. Viele in der Wolle gefärbte linke Politiker waren Trotzkisten oder Schlimmeres, und scheuten auch vor Gewalt nicht zurück, um den Kapitalismus oder die Gesellschaft im allgemeinen zu zerschlagen. Wir sehen in ihrer Verwandlung und Neupositionierung etwas Positives, doch sind wir nicht gewillt, ähnliches auch den Leuten mit einer rechtsextremen oder Neonazi-Vergangenheit zuzugestehen, die ihrerseits aber auch eine Neupositionierung vorgenommen haben.
ÉLÉMENTS: Sie erinnern daran, daß das Nationalgefühl – lange eine Selbstverständlichkeit und heute eben auch auf Betreiben der Anywheres verteufelt – für die Solidarität unabdingbar ist und daß letztere folglich nur im Rahmen einer gemeinsamen Staatsangehörigkeit verwirklicht werden kann. Wie stehen Sie vor diesem Hintergrund zu einer Politik der »nationalen Präferenz« beziehungsweise »nationalen Priorität«?
DAVID GOODHART: Nun ja, der Vorzug, den man den eigenen Staatsbürgern gibt, beziehungsweise das, was man die »nationale Präferenz« nennt, erscheint mir durchaus legitim, wobei solche Präferenz mit den von der EU geförderten aktuellen Prinzipien und Praktiken der Freizügigkeit und der Europa-Bürgerschaft in offenen Konflikt gerät. Ich denke, daß der Widerstand gegen den freien Personenverkehr nicht so heftig wäre, wenn die Einwanderer aus den anderen europäischen Ländern nicht schon bei ihrer Ankunft die gleichen Rechte hätten wie die Einheimischen, sondern ihre sozialen Rechte erst nach einer bestimmten Frist, am frühesten aber nach zwei Jahren, zugesprochen bekämen. Diese Prise Dogmatismus der EU mußte schließlich bei den betroffenen Völkern zur ablehnenden Haltung gegenüber Europa führen. Da steht übrigens eine weitere komplexe Frage im Raum: Welcher Öffnungsgrad ist bei unseren Handelsbeziehungen wünschenswert, und, damit verbunden, welche rechtliche Vereinheitlichung erfordert solche Öffnung? Ich habe keine einschlägigen Erfahrungen auf diesem Gebiet, aber intuitiv würde ich sagen, daß wir durch die Gewährung von mehr nationaler Souveränität nicht notwendigerweise die meisten Vorteile des freien Handels verlören. Ich halte es für wichtig, daran zu erinnern, daß der nationale Gesellschaftsvertrag für jene von größerer Bedeutung ist, die über ein niedriges Einkommen und eine nur geringe politische Macht verfügen. Deshalb gibt es kein Somewhere-Dogma: Es ist psychologisch wie ökonomisch rational, den nationalen Gesellschaftsvertrag zu bevorzugen. Einem reichen Land wie Frankreich oder Großbritannien anzugehören, ist für Leute, die wenig besitzen, per se ein wichtiges Statussymbol, und die in einem Wohlfahrtsstaat gewährleistete nationale Solidarität ist für nicht so Reiche wichtiger. Das ist eine Tatsache.
ÉLÉMENTS: Sie plädieren für eine Versöhnung, einen »neuen Kompromiß« zwischen den antagonistischen Kräften. Logischerweise ist es Aufgabe des elitären Blocks, also des demokratisch zwar in der Minderheit, sozial und politisch aber dominanten Blocks, dem populistischen Block gegenüber Zugeständnisse zu machen. Worin könnten solche Zugeständnisse bestehen? Können sie genügen, um die Gesellschaft im Namen gemeinsamer Prinzipien und Ziele zu versöhnen? Zu welchem Verzicht müßten gleichzeitig die Populisten bereit sein?
DAVID GOODHART: Ich glaube, wie ich bereits sagte, daß beide Weltanschauungen ihre Berechtigung haben, daß aber gleichzeitig unsere aktuellen politischen Probleme der Hegemonie des Anywhere-Entwurfes und der offensichtlichen Unfähigkeit der meisten Politiker entspringen, einen von ihrem eigenen abweichenden Blickwinkel zu berücksichtigen. Meiner Ansicht nach sollte man den Spieß jetzt nicht umdrehen und eine Hegemonie der Somewheres anstreben. Dennoch müssen kurzfristig die Zugeständnisse von den Anywheres kommen, vornehmlich in Form bescheidenerer Immigrationskontingente, einer Neuauflage des nationalen Gesellschaftsvertrags, einer Entschleunigung des gesellschaftlichen Wandels … Das Problem dabei ist nur, daß es weit schwieriger ist, in kulturellen Belangen Kompromisse zu machen als in ökonomischen. Man kann nicht eine offene und zugleich eingeschränkte Einwanderungspolitik betreiben!
ÉLÉMENTS: Als Gründer des Magazins Prospect, das oft der linken Mitte zugeordnet wird, wagen Sie, Ansichten zu äußern – insbesondere über Multikulturalismus und Masseneinwanderung –, die man in dieser Form in entsprechenden französischen Zeitschriften niemals finden würde. Wie werden Ihre Analysen von den Ihnen bekannten britischen Intellektuellenkreisen aufgenommen, in denen die Überall-Leute überrepräsentiert sind? Wurden Sie auch schon Opfer eines Scherbengerichts wie Christophe Guilluy, den man wegen seiner Forschungsarbeiten zum Peripheren Frankreich abstrafte?
DAVID GOODHART: Es geschah eher zufällig, daß ich mich im Laufe der Jahre zur Auseinandersetzung mit umstrittenen Themen veranlaßt sah. Das erste Mal hatte ich wegen eines 2004 geschriebenen Essays Scherereien, in dem ich die Spannungen zwischen Diversität und Solidarität hervorhob: Viele beschimpften mich damals als Rassisten. Früher war ich ein recht orthodoxer linker Liberaler gewesen, heute würde ich mich eher als Sozialdemokraten mit konservativen Anwandlungen beschreiben. Ich habe mich von meinen ursprünglichen Gesinnungsgenossen entfernt, aber auch von einer ganzen Reihe anderer Personen. Diese Distanzierung wurde mir leicht gemacht durch das Spektakel, das die Linke veranstaltete, als sie sich weigerte, das Ergebnis eines demokratischen Referendums anzuerkennen, und sich in eine Art zynischen Ökonomismus einmauerte, in dem einzig von Belang ist, ob man in drei Jahren um 500 £ reicher oder ärmer sein wird. Es liegt schon einiges im argen, wenn in einer Gesellschaft eine höhere universitäre Ausbildung einen Bevölkerungstypus hervorbringt, bei dem die politischen Ideen den Identitätskern ausmachen, und der es infolgedessen schwierig findet, die Politik in einer rationalen Weise anzugehen. Es mag ein offensichtliches Paradoxon sein, aber ich glaube, daß viele weniger gut ausgebildete und im Gemeinwesen weniger engagierte Menschen oft klarsichtiger sind, weil ihr Blick weit weniger von der Ideologie getrübt ist. Ja, ich denke, daß Christophe Guilluy und ich einiges gemeinsam haben, selbst wenn er eher von »Orten« spricht und ich eher von »Werten«. Auch empfinde ich viel Sympathie für Emmanuel Todd, dem das seltene und in Frankreich zumindest recht originelle Kunststück gelingt, ein Intellektueller der populistischen und nicht der marxistischen Linken zu sein.