Sie sind allesamt lebenskulturell tot. Geblieben sind unfreiwillig tragikomische folkloristische Reste, Staffagen, etwa Erntefeste dort, wo niemand mehr erntet, sondern allenfalls eine Agrarfirma industriell die Maiseinöde, die Biogas-Reaktoren und die Mastbetriebe bewirtschaftet.
Das Dorf hat seinen neolithischen Impuls, den es dem Übergang der Menschheit zu Ackerbau und Viehzucht verdankt, verloren. Zwar wird Landwirtschaft so intensiv wie noch nie betrieben, nur hat sie mit dem Dorf nichts mehr zu tun.
Ja, sie ist an sich nicht mal mehr Landwirtschaft, sondern eben Agrar-Industrie. Mag sein, daß es da und dort auf Demeter-Höfen noch Refugien gibt, in denen mit dem Land und Vieh ursprünglich und artgerecht gewirtschaftet wird.
Zeichnen wir eine Idylle wie aus Ehm Welks (1884 – 1966) „Heiden von Kummerow“:
Die ostelbische Gutsherrschaft schuf aus jedem Dorf oder Gutsbezirk einen autarken und autonomen Klein-Kosmos. Meine Heimatlandschaft wurde davon geprägt.
Im Zentrum das Gutshaus, daneben das protestantische Pfarrhaus als Institution alles Geistigen und Kulturellen, die Schule, alle Kinder gemeinsam ausbildend, im Elementaren, also im Schreiben, Lesen, Rechnen und Naturkundlichen, so erfolgreich, daß sie heutigen Primarschulen darin weit, weit überlegen war, da sie streng, aber ruhig, gründlich und systematisch das Wesentliche zu lehren verstand – dank einer Erziehung zu Maß, Verbindlichkeit, Achtsamkeit und Leistungsbereitschaft.
Der klassische Gutsdorf-Siedlungsgrundriß blieb vielfach erkennbar. Noch immer läßt sich daher das längst versunkene Leben auf den alten Dörfern ahnen.
Das Jahr 1945 bedeutete für dieses jahrtausendlange und damit immens reiche Kapitel der Dorfgeschichte zwar ein abruptes Ende, aber die Dörfer, nach dem Krieg von ostdeutschen Flüchtlingen auf- und überfüllt, blieben in der DDR noch eine Restzeit von vier Jahrzehnte lebendig.
Zwar wurde mit der Bodenreform die effiziente Guts- und Großflächenwirtschaft zerstört und mit den neuen „Siedlern“ ein Kleinbauerntum geschaffen, das, politisch gewollt, nur so eingeschränkt auskommen konnte, daß der Übergang in die 1952 beginnende Zwangskollektivierung bis zum „Sozialistischen Frühling auf dem Lande“ 1960 vorprogrammiert war; zwar flohen die leistungsfähigen, von der SED-Landwirtschaftspolitik bewußt geschädigten Großbauern in den Westen, aber:
Wider Erwarten und trotz immenser Ungerechtigkeiten konsolidierten sich die „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“, die LPGen, dann doch soweit, daß sie – im Gegensatz zu fast allen anderen Ostblockländern und anders als die sowjetischen Kolchose – nicht nur das Land mit qualitativ guten Nahrungsgütern versorgen konnten, sondern in den Dörfern überhaupt Alltag und Leben bestimmten. Das Land behielt zunächst seine Vitalität; es gab das Landleben noch.
Innerhalb des Mangelmilieus wurde die DDR-Landwirtschaft zwar erfolgreich mechanisiert, aber sie blieb arbeits- und personalintensiv. Weil sie trotz Ertragssteigerung in der Großfläche nicht eigentlich effizient wirtschaftete, benötigte sie alle Kräfte und litt daher beständig an Arbeitskräftemangel – dies jedoch mit der Folge, daß sie vom qualifizierten Agraringenieur bis zum Mitglied der Feldbaubrigade jeden einband und so immerhin jedem kulturell eine Teilhabe und damit die eigene Selbstachtung ermöglichte, die es – wiederum aus ökonomischen Gründen – so nicht mehr gibt und nicht mehr geben kann. Außerdem zogen Industriearbeiter und technische Intelligenz zu: „Industriearbeiter aufs Land!“
Jedenfalls erhielt sich die vertraute Lebendigkeit: Kinderreichtum, LPG-Kindergarten, erst acht‑, dann zehnklassige „polytechnische“ Oberschule, die mathematisch, naturwissenschaftlich und tatsächlich technisch hervorragende Grundlagen für eine nicht nur landwirtschaftliche Facharbeiterschaft sicherte. In manchem mag der Fortbestand einer gewissen Autarkie der Versorgung an die Kibbuz-Wirtschaft denken lassen.
Wir lernten über den „Unterricht in der technischen Produktion“ (UTP) – später umbenannt in „Einführung in die sozialistische Produktion“ (ESP) – Grundlagen des Gärtnerns, den Umgang mit Maschinen, bis hin etwa zum Schweißen und zum Führerschein für Traktor und LKW. Mit Eindringlichkeit wurde uns Dorfkindern gesagt, was heute keiner mehr hört: Ihr werdet gebraucht! Zweierlei war garantiert und fehlt heute – Erlebnis und Bewährung.
Und: Wir wurden tatsächlich gebraucht, jeder. Nach dem Abitur in den letzten Sommerferien dank Traktor-Berechtigung die Ernte mit einzubringen, das galt was. Kein „Projekt“ der zwangsvereinnahmenden „Ganztagsschule“, nein, unmittelbare Realität, echte Leistung, gerechtfertigte Anerkennung.
Die Schulspeisung, beliefert mit LPG-Produkten, versorgte die Rentner gleich mit – einfaches, aber gehaltvolles Großküchen-Essen, dem allerdings heute vermutlich Bioland-Qualität zukäme, da für die gefährlichsten Umweltschäden einfach noch die Mittel fehlten.
Für letzte Jahrzehnte erhielt sich die eigenständige Bedeutung des Dorfes als recht „urtümlicher“ Siedlungstyp. Die leeren Gutshäuser wurden umgenutzt und blieben aber trotz baulicher Verschlimmbesserungen in ihrer Substanz erhalten, während die Kirche infolge atheistischer Politik ihre Bedeutung bereits verlor und allenfalls eine subversive Randexistenz hinter altem Flieder fristete; die famose Geschichte des protestantischen Pfarrhauses riß ab – ein tragischer Vorgeschmack auf den fortschreitenden Kulturverlust nach 1990, einhergehend mit der Abwanderung der Leistungsfähigen und der Umfunktionierung des Dorfes zum reinen Wohn- oder vielmehr Schlafort ortsfremder Pendler.
Bis zur Wende lebte das Dorf immerhin jeden Morgen neu auf: Die Kinder radelten zur Schule, die Traktoren wurden gestartet, das Vieh gefüttert, der Plan erfüllt. Bewegung. Wo Leben ist, duftet es, manches stinkt, ja, es war schmuddelig auf den LP-Höfen, aber genau das ermöglichte ökologische Artenvielfalt trotz Großflächenwirtschaft, abgesehen davon, daß auf Feldern und Gärtnereien artenreicher angebaut wurde. Heute sieht das monokulturell bestellte Mecklenburg quadratkilometerweise wie Iowa aus.
Jetzt, da der letzte Zaster der Leute in ihren Immobilien steckt, erscheinen die Dörfer ordentlich, aufgeräumt, ja ausgeräumt und geradezu sterilisiert sauber und sind dabei jedoch abgestorben, gut zurechtgemacht aufgebahrt. Blühende Landschaften? Gibt’s eher in der City. Auf dem Lande herrscht im Vergleich zur einstigen Buntheit Ödnis.
Die sozialistische Sonderexistenz erzwang Rhythmus, Perspektive und Lebenssinn – mitunter eben im Gegenentwurf zur Zwangsvereinnahmung. Für letzte Jahre bestand zudem die traditionelle Kleinteiligkeit. Selbst die Landkreise, obgleich durch die SED-Herrschaft gleichgeschaltet und nicht demokratisch verfaßt, blieben übersichtlich, so daß erlebbar war, wer für was Verantwortung trug – sehr konkret, nicht abstrakt, insofern auch Bonzen in der DDR, dieser Karikatur Preußens, in der Pflicht standen.
Eine solche Skizzierung setzt sich nicht zu Unrecht dem Vorwurf einer sozialistischen Blut-und-Boden-Romantisierung aus. In dieser Weise schrieb sich sogar eine DDR-Dorfliteratur fort, unter anderem bei Erwin Strittmatter, Alfred Wellm, Helmut Sakowski oder Joachim Wohlgemuth. Selbst der Film kam dadurch zu neuen Helden, die durchaus Identifikation ermöglichten.
Trotz verbliebener Rest- und Scheinidylle sowie touristisch gefristeter Weiterexistenz ist das Dorf mittlerweile verlorenes Terrain. Es vermag sich – anders als in den USA – nicht mal an Religion oder Nation zu klammern. Dies gilt dort, in Amerika, zwar als reaktionär, aber reaktionär zu sein ist identitätsbildend. Und das Dorf war stets ein Hort des Konservatismus.
Den ostdeutschen Dörfern hingegen blieb häufig nichts: Die Schulen wurden infolge der einsetzenden Geburtenschwäche zentralisiert, das Leben individualisiert, die Kneipe, jahrzehntelang knallvoll und verraucht, gibt es nicht mehr, die Läden und Gewerke haben dicht, obwohl sie in relativer Vielgestalt sogar in der DDR noch ihre Funktion hatten: Bäcker, Fleischer, Schuhmacher, Tischler. Heute steht ein Zigarettenautomat neben der Busbude. Das war’s.
Eine Kulissenexistenz bewahrten sich die Dörfer allein dort, wo sie touristisch interessant wurden. Die Insel Rügen ist dafür ein Beispiel. Mittlerweile vom Tourismus-Infarkt bedroht, verliert sie ihre Ursprünglichkeit durch immer neue Mega-Projekte, ein immenses Verkehrsaufkommen und die ökologisch verheerende Zersiedelung. Nirgendwo in Mecklenburg-Vorpommern gibt es so viele Bürgerinitiativen, die sich der Kulturvernichtung entgegenzustellen versuchen. “Rügen” hat mit Rügen gar nichts mehr zu tun.
Eine Vereinskultur wie im Westen hatte in der einstigen DDR keine Tradition und kam nach 1990 nur sporadisch in Gang. Bleibt die Freiwillige Feuerwehr, die nicht nur Brände löscht, sondern den verbliebenen Rest an Festen technisch versorgt. Auch sie ringt um Nachwuchs. Hier und da gibt’s noch den Fußballverein, der an seiner Bezeichnung „Traktor“ festhielt.
Um so interessanter, wenn es da und dort Initiativen gibt, beinahe ausnahmslos von rechts, nie von links, daher beargwöhnt und stigmatisiert. Stigmatisierung vergeht, Gemeinschaft besteht – nur keine Aufregung!
RMH
"einfaches, aber gehaltvolles Großküchen-Essen,"
Kein Wunder, denn die "Filet-Stücke", Eier, Milch etc. wurden gegen Devisen in den Westen verkauft und dennoch war die Agraraußenhandelsbilanz der DDR stets negativ. Man kaufte schließlich u.a. Soja für die Viecher für den Export ein ... (sozialistisches Wirtschaften eben).
Mein äußerst subjektiver "Thüringer Bratwurst Vergleich" Vor- und Nachwende fällt klar zu Gunsten der Nachwendewurst aus, bei der dann die örtlichen Mezger einmal zeigen konnten, was sie mit guten Ausgangsprodukten machen können (wer weiß, evtl. gabs auch zu DDR Zeiten Produkte für den Eigenverzehr und kleinen Handel, die besser waren, als das, was man sonst so serviert bekam).
Unter dem Strich bleibt bei diesem Artikel dieser Satz das Zentrale:
"Eine solche Skizzierung setzt sich nicht zu Unrecht dem Vorwurf einer sozialistischen Blut-und-Boden-Romantisierung aus."
Was will man uns sagen? Früher war alles besser?
Und auf diese Andeutung
"Um so interessanter, wenn es da und dort Initiativen gibt, beinahe ausnahmslos von rechts, nie von links, daher beargwöhnt und stigmatisiert. Stigmatisierung vergeht, Gemeinschaft besteht - nur keine Aufregung!"
sollte ein zweiter Teil des Artikels folgen, damit er rund wird.