Eines Nachmittags verließ ich das Dorf, in dem ich die ersten acht Jahre meines Lebens verbracht habe. Ich verließ es nur für einige Stunden, dann wurde ich aufgefunden und zurückgebracht. Ich verließ das Dorf, diese ganz vertraute Ansammlung von Häusern, Straßen, Leuten, um, sechs Jahre alt, einem Bild zu folgen, einem Urbild, einem Schock, einer Erkenntnis und vor allem: drei echten Männern.
Ich sah diese Männer, als ich den kleinen Laden verließ, der nur ein paar hundert Meter von meinem Elternhaus entfernt, aber jenseits der Hauptstraße lag. Man konnte dort aus Gläsern einzelne Brausestäbchen und winzige Lutscher fischen, das Stück zu zwei Pfennigen. Ich trat mit meinem Papiertütchen in der Hand durch die Schellentür auf die Gasse zurück, hinein in einen hackenden Lärm, einen rohen, unerbittlichen Rhythmus aus Stößen, aus Krachen und Gepolter, aus einem hetzenden Antrieb, einem treibenden Schaben. Das gegenüberliegende Hoftor stand offen. Ich sah eine Holzhackmaschine, einen Spaltkeil, der von einer knatternden Kraft hochgerissen und wieder hinabgestampft wurde, in einem langsamen Takt, angetrieben von einem breiten, grauen Keilriemen, der um die Welle eines Traktors gelegt war. Der Lärm fing sich zwischen den Mauern des Innenhofs.
Drei Männer arbeiteten an der Maschine, führten gleichsam einen schwerfälligen, monotonen, aber keineswegs zufälligen oder lässigen Tanz auf: hochkonzentriert, eingetaktet. Alles war auf denjenigen hin ausgerichtet, der unter der hackenden Axt den auf die richtige Länge zugeschnittenen Holzklotz drehte und Scheit für Scheit davon abschlagen ließ. Er umarmte den Klotz fast, besah seine Maserung, suchte nach Rissen, nach dem bereits haardünn Geborstenen, an dem entlang sich weiterspalten ließe.
Nach jedem Schlag und während die Axt wieder nach oben rasselte, wischte der Mann mit der einen Hand das abgetrennte Scheit vom Tisch, beugte den Kopf für den Bruchteil einer Sekunde weiter nach vorn und drehte dann den Klotz nur ein Stückchen oder mit einem Ruck ganz und gar so, daß die Axt mit ihrem nächsten Hieb weder in einem Astansatz steckenbleiben noch daran abrutschen würde, den Klotz und mit ihm die Hände und Finger des Zurichters in eine Drehung reißend, aus dem Rhythmus der Zurichtung in eine gefährliche Unwucht.
Der Mann an der Hacke ließ den Blick nicht eine Sekunde lang von seinen Händen und von dem Klotz, der – kleiner und kleiner werdend – immer genauer unter die Schneide gedreht werden mußte. Dann, zuletzt, zerschlug die Hacke den Rest in die letzten beiden Scheite, und zugleich nahm der Mann seine Hände ganz vom Holz und machte einen Schritt nach hinten. Die anderen beiden reichten ein neues Stück an, und nachdem der Keil zwei‑, dreimal ins Leere gestoßen hatte, schob der Mann den Klotz drehend auf den Tisch und unter den ersten Hieb.
Der Schock traf mich erst nach einigen Minuten. Ich nahm wahr, aber ich begriff nicht gleich, was mich die Männer anstarren ließ, ihre Hände, ihre Gesichter und wieder und dann nur noch ihre Hände: Bei den beiden älteren fehlten Finger, an jeder Hand einer, zwei; schräg abgetrennte Kuppen, ganze Glieder; bei einem der Daumen. An der Maschine der jüngere, noch unversehrt, und während es hackte und hackte und ich auf den Schrei und das Blut und den Schmerz wartete, begriff ich, daß es also einen Beruf gab, für den sich zu entscheiden bedeutete, wenigstens zwei, vielleicht auch drei Finger abgeschlagen zu bekommen, den Schmerz ertragen zu müssen, und (vor allem das!) zu wissen, daß dieser Schmerz, diese jähe, unkonzentrierte, vielleicht auch nur unglückliche Sekunde wie in einer Sanduhr unaufhaltsam auf jeden zurieselte, der hinter einer solchen Hacke stand.
Das Holz war aufgeschnitten, die Männer säuberten ihre Maschine mit einem öligen Lappen und hängten sie an den Traktor. Der tuckerte den Feldweg entlang auf den Hof am Waldrand außerhalb des Dorfs zu. Dort lagen Hunderte Klötze bereit. Später Nachmittag, ich hatte alles vergessen und trabte hinterher. Einer der Männer ging zu Fuß, er rauchte und zeigte mir seinen vernähten Fingerstumpf, seine rauhe, vernarbte Hand. Während im Hof das Gerassel und Gestampfe begann, setzte ich mich ins Gras und weinte vor Angst, vielleicht einmal selbst hinter der Hacke stehen zu müssen, weil mir sonst nichts gelänge. So fand mich dann ein Nachbar.