Man denke nur an die allerorten gepriesene »Diversität«, bei deren Anrufung Linksradikale wie hegemoniale Linksliberale gleichermaßen vor Entzücken weder ein noch aus zu wissen scheinen.
Auch mit der »Pluralität« kokettiert man im linken Lager nicht nur gelegentlich. Aber so, wie man bei »Diversität« einen pervertierten Vielfaltsbegriff zu erwarten hat, verhält es sich auch bei der »Pluralität«.
Die darunter subsumierte Vielstimmigkeit von Positionen ist nur dann erwünscht, wenn eherne Glaubenslehren nicht angetastet werden und man im linken Korridor des Sag- und Tragbaren keine Grenzen zu verschieben beabsichtigt, ja wenn man überhaupt der linken Grundtendenz als vorherrschender Geisteshaltung nicht kritisch begegnet.
Man fügt der vereinigten Linken somit kein Unrecht zu, wenn man diese traditionskritische Szene in diesem Kontext als durchaus traditionell bezeichnet, ist doch seit Rosa Luxemburgs so oft und so zuverlässig falsch zitierter Wendung von der »Freiheit des Andersdenkenden« bekannt, daß diese im Zweifelsfall nur für das eigene Milieu zu beanspruchen ist.
Die akklamierte Freiheit des Andersdenkenden endet – damals wie heute – just dort, wo das wirklich andere Denken, das Abweichen von der vorgegebenen Norm, beginnt.
Ist die Mehrheitslinke seit Jahren darum bemüht, Urteile zu fällen oder Bannflüche auszusprechen, wenn es um Nicht-Linke aller Couleur geht, trifft der Furor des antifaschistischen Dogmatikers insbesondere auch eigene »Abweichler«.
Im kaplaken-Band Blick nach links habe ich unter anderem untersucht, was das für die jeweils Gescholtenen konkret bedeutet: Ausgrenzung, Einschränkung der Publikationsmöglichkeiten, Angriffe verbaler oder physischer Natur, Ausgemeindung aus der Szene und Eingemeindung ins gegnerische Feld als Renegaten-in-spe.
Sahra Wagenknecht, das politmediale Aushängeschild einer linken Formation, die sich für sie schämt, aber einstweilen nicht auf die durch sie generierten Stimmen verzichten mag, wird dabei seit Jahren befehdet.
Das liegt, wie selbst die Junge Freiheit in einem frappierend frappierten Ton bemerkt, an ihrem steten Brechen mit (linken) Konventionen. Wagenknecht begründet ihre abweichende Meinung nicht nur luzide, sie gewinnt damit auch die Gunst ihres – je nach Veranstaltungs- und Auftrittsort – variablen (pluralen?) Publikums, stößt aber vor allen den Platzhirschen ihres Milieus vor den Kopf.
Auf publizistischer Ebene kennt man ein solch störrisch anmutendes Verhalten von einem radikal linken Ausnahmeintellektuellen, Wolfgang Pohrt (1945–2018). Der Zyniker und Polemiker erklärte einstmals seine eigene Arbeitsdevise, die ihm in der Linken mehr Feinde als Freunde einbrachte:
Die Leute sagen mir, was sie denken, und ich sage ihnen, warum das falsch ist,
womit er das eher unbekannte intellektuelle Pendant zur realpolitisch ausgerichteten Wagenknecht darstellt. Ihre Vorliebe: Der eigenen Partei zu sagen, was sie falsch macht. Nur: Die Partei will das offenkundig seit Jahren nicht hören.
Boris Herrmann greift diese pikante Konstellation in der Süddeutschen Zeitung (v. 14.4.2022) auf:
Das Wort Pluralität ist unter Linken positiv besetzt. Wenn innerparteiliche Pluralität allerdings dadurch zum Ausdruck kommt, dass jeder sagt, was er will, gerne auch bei Anne Will, dann gerät irgendwann auch die Pluralismusfreude der zwei Parteichefinnen an ihre Grenzen.
Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler, die Verkörperungen der parteilinken Misere, sind längst mit ihrer Geduld am Ende. Zwar haben sie weder das geistige noch politische Format ihrer internen Konkurrentin, aber dennoch präsentieren sie ihre »Schnauze-voll-Inzidenz« (Boris Herrmann) regelmäßig der Öffentlichkeit.
Herrmann benennt das Problem:
Im Gegensatz zu den meisten Führungskräften der Linken wird Wagenknecht regelmäßig in die großen Talkshows eingeladen. So eloquent wie genussvoll verbreitet sie dort dann ihre Thesen, die von der Parteilinie verlässlich abweichen. Diese Art der Pluralität sei etwas, was man nicht “in dieser ganz großen Breite fortführen könne”, so lautet eine der Lehren Hennig-Wellsows aus der jüngsten Wahlniederlagenserie der Linken.
Zuletzt scheiterte man im Saarland, was nicht zuletzt am massiven Friendly fire durch den ausgetretenen Partei-Dino Oskar Lafontaine gelegen haben dürfte:
Die naheliegende Frage lautet, ob sich früher oder später auch Lafontaines Ehefrau Sahra Wagenknecht dieser Austrittswelle anschließt. Und nicht weniger knifflig ist die Anschlussfrage: Wäre das dann der endgültige Niedergang oder eher ein Segen für die Partei?
Herrmann verweist darauf, daß Wagenknecht kein apodiktisches Bekenntnis zu ihrer Partei abzugeben bereit ist, und daß es aus ihrem Umfeld verlaute, Wagenknecht hätte darüber nachgedacht, der Linken Adieu zu sagen.
Weshalb ist diese Frage derzeit besonders virulent? Aus zwei Gründen.
Erstens wird in wenigen Wochen in Nordrhein-Westfalen gewählt: Dort, wo sie als Spitzenkandidatin überhaupt erst ihr Bundestagsmandat sicherte. Würde sie dort vor der Wahl austreten, droht der Saarland-Effekt und das (noch deutlichere?) Unterschreiten der Fünfprozenthürde.
Zweitens, und das ist für das politisch rechte Lage ungleich spannender, könnte Wagenknecht das Ende der Linksfraktion im Bundestag bewirken. Einige ihrer Äußerungen nähren den Verdacht, daß sie zumindest damit liebäugelt, auf die Anfeindungen aus den eigenen Reihen endlich zu reagieren:
Wenn die Partei weiter in die Richtung geht, für die etwa Susanne Hennig-Wellsow steht, dann wird sich der Abwärtstrend fortsetzen,
womit sie zwar einerseits zweifellos ins Schwarze trifft, andererseits aber natürlich unterschlägt, daß sie beim Parteitag in Juni vermutlich nicht einmal mehr ein Drittel der Basis hinter sich wissen dürfte, daß sie es also ist, die den innerlinken Betriebsfrieden abträgt, nicht Hennig-Wellsow, deren uninspirierte linksliberale Mediokrität längst Parteistandard ist.
Vermutlich weiß Wagenknecht um die Chancenlosigkeit ihrer Positionierung »sozial, aber wertkonservativ« (Wagenknecht über Wagenknecht) in der Partei.
Aber feststehen dürfte, daß sie
ein sehr gutes Druckmittel hat. Sollte sie tatsächlich die Partei und damit dann ja auch die Bundestagsfraktion verlassen, dann müssten ihr nur zwei von derzeit 39 Abgeordneten folgen — und die Linke würde ihren Fraktionsstatus verlieren. Eine Fraktion muss laut Geschäftsordnung aus mindestens fünf Prozent der Abgeordneten des Parlaments bestehen, in dieser Wahlperiode liegt die Untergrenze bei 37 Sitzen. Damit liegt es auch im Überlebensinteresse der Linken, dass Wagenknecht dabei bleibt.
Es ist dies ein seltener Moment für Nicht-Linke: Man steckt hier in einer Win-Win-Situation.
Bleibt Wagenknecht in der Linkspartei, ist diese weiterhin zuallererst mit inneren Konflikten und persönlichem Hader beschäftigt und kann in kommenden Krisenzeiten nur unzureichend Proteststimmungen aufgreifen und kanalisieren.
Verläßt Wagenknecht die Linkspartei und zögen mindestens zwei ihrer Weggefährten aus dem Bundestag nach, was wohl bei mindestens einer Handvoll der Abgeordneten anzunehmen wäre, zerfällt die Linksfraktion, verliert die Partei ihr mediales Aushängeschild und mittelfristig die Reste ihres souveränistischen, linkspopulistischen Flügels.
Als reine Antifa-Truppe wäre sie aber überflüssiger denn je. Doktrinärer Antifaschismus ist bereits in der Bundesregierung angekommen – die in der Ampel-Koalition triumphierenden Grünen machen eine »Lifestyle-linke« Partei nunmal gänzlich überflüssig. Bei kommenden Wahlen würde sich das Saarland-Desaster also wiederholen.
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In Frankreich wird derweil in wenigen Tagen die zweite Runde der Präsidentschaftswahl stattfinden. Eine kundige Analyse der Chancen und Potentiale von Marine Le Pen hat Daniel Fiß hier vorgelegt und an einem Rückblick auf die letzten fünf Jahre Le Pen-Politik habe ich mich hier versucht.
Was aber sagen unsere Freunde aus Frankreich?
Beim diesjährigen Kolloquium des Institut Iliade in Paris vor zwei Wochen befragte ich jeden Gesprächspartner früher oder später nach seiner persönlichen Meinung zu Éric Zemmour und Marine Le Pen, zur Frage nach taktischer Wahl oder inhaltlicher Überzeugung etc.
Die Antworten fiel so »plural« aus, um dieses weiter oben decodierte Modewort aufzugreifen, wie sich die 1400 Teilnehmer zusammensetzten:
Ein katholischer Traditionalist sagte mir, er wähle Zemmour, weil dieser die Islamisierung als Kernproblem benenne, wohingegen mir ein anderer katholischer Traditionalist sagte, er wähle »selbstverständlich« Le Pen, weil sie erstens Chancen auf die Stichwahl und zweitens ein umfassendes Programm zur Erneuerung Frankreichs habe, wohingegen Zemmour lediglich mit – gewiß sympathischen – Schlagworten hantiere.
Auch bei Vertretern anderer vor Ort präsenter Strömungen zeigte sich der elektorale Riß deutlich: Nationalrevolutionäre fand ich pro wie auch contra Zemmour vor, Paneuropäer pro wie contra Le Pen, und bei eher klassisch ausgerichteten Nationalkonservativen und Souveränisten verhielt es sich ganz ähnlich.
Daß die Besucher und Referenten des Kolloquiums so entspannt und offen mit diesem Wahl-Dissens umgingen, lag insbesondere am metapolitischen, kulturellen Charakter der Veranstaltung. Aber auch daran, daß sich für beide Entscheidungen – für Le Pen oder für Zemmour zu stimmen – gute Gründe finden ließen.
Vergegenständlicht wird diese offene Diskussionsatmosphäre, die sich nicht als »plural« vermarkten mußte, weil sie tatsächlich vielfältig ist, beispielsweise in der nationalkatholischen Tageszeitung Présent. Wer des Französischen mächtig ist, findet hier für einen schmalen Taler eine Sonderausgabe, die aus rechter Sicht zusammenträgt, was es Positives mit Le Pen und was es Positives mit Zemmour auf sich hat. Beide Lager sind adäquat vertreten, selbst die Redaktion der vierzig Jahre alten Zeitung räumt offen ein, beide Seiten in ihren Reihen zu wissen.
Während dessen hat François Bousquet im Blog des rechtsintellektuellen Magazins éléments heute (14.4.2022) eine weitere Analyse veröffentlicht. Bousquet, der als Experte sogar bei France Culture Gehör fand (eine Chance zur Gegenrede, deren Aussicht auf Verwirklichung beim deutschen Pendant Deutschlandradio Kultur gänzlich absurd wäre), stellt seine Gedanken (hier frei verfügbar, Übersetzungen durch mich) unter die Überschrift »Lachende Marine, weinender Zemmour«.
Bousquet verweist dabei darauf, daß ein gutes Drittel der Le Pen-Wähler von den Überzeugungen wohl stärker bei Zemmour plaziert sein dürften – die taktische Wahl gab bei dieser Personengruppe den Ausschlag für Le Pen.
Den Erfolg Le Pens über ihren Konkurrenten bezeichnet er vor allem aber als Folge dessen, daß Zemmour zwar Frankreich kenne – Le Pen aber die Franzosen. Und die wählen einstweilen den Präsidenten:
Wenn es etwas gibt, das Zemmour kennt, dann ist es Frankreich; aber kennt er auch die Franzosen? Marine kennt sie, gleichwohl sie sich in der Geschichte Frankreichs dafür nicht allzu gut auskennt. Das entspricht ja den Erwartungen: Zemmour ist beheimatet im kulturellen Kontext, sie im politischen. Er hat Leser, sie hat Wähler. Präziser gesagt: Zemmour-Wähler haben eher Gewissheiten, Le Pen-Wähler Bedenken. Erstere wollen gestärkt, letztere beruhigt werden.
Anders als Zemmour habe es Le Pen verstanden, die aktuellen Themen, die die Franzosen bedrängten, aufzugreifen, darunter Inflation und Kaufkraftverlust. Das habe ihr im März und April jene Vorteile verschafft, die den Abstand zwischen beiden so groß werden ließ:
Ihr Umfragewerte sind so schnell gestiegen wie der Rohölpreis,
scherzt der sonst eher analytisch-nüchterne Essayist, Verleger und Betreiber der wichtigsten nonkonformen Buchhandlung Frankreichs (La Nouvelle Librairie), denn sie habe
ihr Programm an der Zapfsäule serviert, Zemmour hingegen auf Silberservice des ersten französischen Kaiserreiches.
Ein weiterer entscheidender Punkt sei die unterschiedliche Mobilisierungskapazität beider Kandidaten gewesen. Zemmour griff auf seinen begeisterten harten Kern zurück, der 200 Kilometer reisen wollte, um an seinen Treffen teilzunehmen. Es waren identitäre, patriotische Überzeugungstäter, Aktivisten unterschiedlicher Gruppen.
Marine Le Pen hingegen erreichte weniger die eigene Szene als vielmehr Außenstehende. Sie ging »ins Volk«, begeisterte die Peripherie, sprach Arbeiter und Kleinbürger an.
Bei Bousquet wird deutlich, daß seine persönliche Vorliebe derjenigen Zemmours entspricht: Die gemeinsame Klammer ist die Nostalgie für die kulturschöpferische Grande Nation, aber diese gemeinsame Klammer verbindet nur noch wenige Franzosen:
Wir können so viel weinen wie wir wollen, diese Welt ist tot. Es ist schrecklich, aber es ist so.
Auch er, Bousquet, habe Zemmour gewählt, und wie für so viele, die es ihm gleich taten, habe das ästhetische, kulturelle Gründe. In Le Pens Wählerschaft dominiere das funktionale, utilitaristische Verständnis von Politik: »Praktisch, nicht ästhetisch.«
Le Pen adressiere zwar »das Volk«, aber erreiche dieses nur in seiner Rolle als Gemeinschaft von Verbrauchern, von Konsumenten. Auch wenn man bisweilen meinen könne, Zemmour sei der »Liberalere«, verhalte es sich gerade nicht so. Mit dem Politologen Jean-Yves Camus verweist Bousquet daher darauf, daß die Anhängerschaft Le Pens von »fortgeschrittener Ent-Ideologisierung« gekennzeichnet sei: Die liberale Entpolitisierung sei vollzogen, materielle Begierden (Stichwort Kaufkraft) überlagern das Politische, das Patriotische etc.
Und dann widerspricht Bousquet seinem Freund und éléments-Kollegen Alain de Benoist (ohne diesen namentlich zu nennen): Es sei falsch anzunehmen, daß die Rechts-Links-Dichotomie überwunden sei.
Im Gegenteil: Sie sei essentiell. Nur sei sie vergessen worden, überlagert durch flüchtige Probleme des Alltags, durch die Sorgen und Bedürfnisse in der Massengesellschaft. Für dieses neue Frankreich sei Zemmour »zu kultiviert«.
Marine Le Pen hingegen verkörpere die Massenkultur, gehe in dieser auf, kann deshalb Erfolge feiern, weil sie die Sprache des peripheren Frankreichs, der Durchschnittsmenschen gewissermaßen, spricht.
Von seinem Standpunkt des eloquenten, metapolitischen Kulturkritikers erscheint mir diese Analyse Bousquet naturgemäß so zutreffend wie vernichtend. Le Pen ist ein Kind ihrer Zeit, sie spricht den Jargon dieser Tage und thematisiert oftmals offensiv materielle Bedürfnisse.
Befürworter der realpolitischen Le Pen-Strategie hingegen dürften sicherlich einwenden, daß Wahlen überhaupt nur dann gewonnen werden können, wenn man Stimmenpotentiale maximal ausweitet – und das geht nur über ein populistisches »Ins Volke gehen«, ja über eine Basisarbeit, die wenig mit Alt-Pariser Grandeur, sehr viel aber mit der Hemdsärmeligkeit der Provinz zu tun hat.
Kulturelle und geistige Aufbauarbeit wird nunmal selten an der Wahlurne verrichtet – und in diesem Kontext sollte man auch die neuste Agitation Marine Le Pens im Endspurt des Wahlkampfs für die Stichwahl betrachten.
Wenn sie Macron, den Kandidaten des »Globalismus«, schlagen möchte, muß sie die »Brechstange des Populismus« (Bernd Stegemann) auf vielen Feldern einsetzen. Das wird ihr zwar keine Schönheitspreise einbringen, aber womöglich die Aussicht auf 40 Prozent plus der Stimmen. Läßt man sich überhaupt auf die Wahlarena ein, scheint dieser Stil wohl einstweilen alternativlos.
Gotlandfahrer
Hochgeschätzter Herr Kaiser,
"Seltener Moment für Nicht-Linke: Win-win-Situation"
Warum so zerknirscht? Langfristig ist dies immer korrekt. Man nennt dies Wirklichkeit. Die Frage ist nur, wieviel bis zu dem Punkt kaputt geht, an dem Menschen, die das Zustimmungsspiel am rücksichtslosesten spielten, mit der nächsten Bewegung verlieren. Womit man erneut bei Mariopol sein könnte, wenn man das richtige getrunken hat.