Sammelstelle für Gedrucktes (45)

Links der Mitte zirkulieren hierzulande viele Phrasen, die in der Regel direkt im Jargon dieser gesellschaftsprägenden Gruppe abgefaßt sind.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Man den­ke nur an die aller­or­ten geprie­se­ne »Diver­si­tät«, bei deren Anru­fung Links­ra­di­ka­le wie hege­mo­nia­le Links­li­be­ra­le glei­cher­ma­ßen vor Ent­zü­cken weder ein noch aus zu wis­sen scheinen.

Auch mit der »Plu­ra­li­tät« koket­tiert man im lin­ken Lager nicht nur gele­gent­lich. Aber so, wie man bei »Diver­si­tät« einen per­ver­tier­ten Viel­falts­be­griff zu erwar­ten hat, ver­hält es sich auch bei der »Plu­ra­li­tät«.

Die dar­un­ter sub­su­mier­te Viel­stim­mig­keit von Posi­tio­nen ist nur dann erwünscht, wenn eher­ne Glau­bens­leh­ren nicht ange­tas­tet wer­den und man im lin­ken Kor­ri­dor des Sag- und Trag­ba­ren kei­ne Gren­zen zu ver­schie­ben beab­sich­tigt, ja wenn man über­haupt der lin­ken Grund­ten­denz als vor­herr­schen­der Geis­tes­hal­tung nicht kri­tisch begegnet.

Man fügt der ver­ei­nig­ten Lin­ken somit kein Unrecht zu, wenn man die­se tra­di­ti­ons­kri­ti­sche Sze­ne in die­sem Kon­text als durch­aus tra­di­tio­nell bezeich­net, ist doch seit Rosa Luxem­burgs so oft und so zuver­läs­sig falsch zitier­ter Wen­dung von der »Frei­heit des Anders­den­ken­den« bekannt, daß die­se im Zwei­fels­fall nur für das eige­ne Milieu zu bean­spru­chen ist.

Die akkla­mier­te Frei­heit des Anders­den­ken­den endet – damals wie heu­te – just dort, wo das wirk­lich ande­re Den­ken, das Abwei­chen von der vor­ge­ge­be­nen Norm, beginnt.

Ist die Mehr­heits­lin­ke seit Jah­ren dar­um bemüht, Urtei­le zu fäl­len oder Bann­flü­che aus­zu­spre­chen, wenn es um Nicht-Lin­ke aller Cou­leur geht, trifft der Furor des anti­fa­schis­ti­schen Dog­ma­ti­kers ins­be­son­de­re auch eige­ne »Abweich­ler«.

Im kapla­ken-Band Blick nach links habe ich unter ande­rem unter­sucht, was das für die jeweils Geschol­te­nen kon­kret bedeu­tet: Aus­gren­zung, Ein­schrän­kung der Publi­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten, Angrif­fe ver­ba­ler oder phy­si­scher Natur, Aus­ge­mein­dung aus der Sze­ne und Ein­ge­mein­dung ins geg­ne­ri­sche Feld als Renegaten-in-spe.

Sahra Wagen­knecht, das polit­me­dia­le Aus­hän­ge­schild einer lin­ken For­ma­ti­on, die sich für sie schämt, aber einst­wei­len nicht auf die durch sie gene­rier­ten Stim­men ver­zich­ten mag, wird dabei seit Jah­ren befehdet.

Das liegt, wie selbst die Jun­ge Frei­heit in einem frap­pie­rend frap­pier­ten Ton bemerkt, an ihrem ste­ten Bre­chen mit (lin­ken) Kon­ven­tio­nen. Wagen­knecht begrün­det ihre abwei­chen­de Mei­nung nicht nur luzi­de, sie gewinnt damit auch die Gunst ihres – je nach Ver­an­stal­tungs- und Auf­tritts­ort – varia­blen (plu­ra­len?) Publi­kums, stößt aber vor allen den Platz­hir­schen ihres Milieus vor den Kopf.

Auf publi­zis­ti­scher Ebe­ne kennt man ein solch stör­risch anmu­ten­des Ver­hal­ten von einem radi­kal lin­ken Aus­nah­me­intel­lek­tu­el­len, Wolf­gang Pohrt (1945–2018). Der Zyni­ker und Pole­mi­ker erklär­te einst­mals sei­ne eige­ne Arbeits­de­vi­se, die ihm in der Lin­ken mehr Fein­de als Freun­de einbrachte:

Die Leu­te sagen mir, was sie den­ken, und ich sage ihnen, war­um das falsch ist,

womit er das eher unbe­kann­te intel­lek­tu­el­le Pen­dant zur real­po­li­tisch aus­ge­rich­te­ten Wagen­knecht dar­stellt. Ihre Vor­lie­be: Der eige­nen Par­tei zu sagen, was sie falsch macht. Nur: Die Par­tei will das offen­kun­dig seit Jah­ren nicht hören.

Boris Herr­mann greift die­se pikan­te Kon­stel­la­ti­on in der Süd­deut­schen Zei­tung (v. 14.4.2022) auf:

Das Wort Plu­ra­li­tät ist unter Lin­ken posi­tiv besetzt. Wenn inner­par­tei­li­che Plu­ra­li­tät aller­dings dadurch zum Aus­druck kommt, dass jeder sagt, was er will, ger­ne auch bei Anne Will, dann gerät irgend­wann auch die Plu­ra­lis­mus­freu­de der zwei Par­tei­che­fin­nen an ihre Grenzen.

Susan­ne Hen­nig-Well­sow und Jani­ne Wiss­ler, die Ver­kör­pe­run­gen der par­tei­lin­ken Mise­re, sind längst mit ihrer Geduld am Ende. Zwar haben sie weder das geis­ti­ge noch poli­ti­sche For­mat ihrer inter­nen Kon­kur­ren­tin, aber den­noch prä­sen­tie­ren sie ihre »Schnau­ze-voll-Inzi­denz« (Boris Herr­mann) regel­mä­ßig der Öffentlichkeit.

Herr­mann benennt das Problem:

Im Gegen­satz zu den meis­ten Füh­rungs­kräf­ten der Lin­ken wird Wagen­knecht regel­mä­ßig in die gro­ßen Talk­shows ein­ge­la­den. So elo­quent wie genuss­voll ver­brei­tet sie dort dann ihre The­sen, die von der Par­tei­li­nie ver­läss­lich abwei­chen. Die­se Art der Plu­ra­li­tät sei etwas, was man nicht “in die­ser ganz gro­ßen Brei­te fort­füh­ren kön­ne”, so lau­tet eine der Leh­ren Hen­nig-Well­sows aus der jüngs­ten Wahl­nie­der­la­gen­se­rie der Linken.

Zuletzt schei­ter­te man im Saar­land, was nicht zuletzt am mas­si­ven Fri­end­ly fire durch den aus­ge­tre­te­nen Par­tei-Dino Oskar Lafon­taine gele­gen haben dürfte:

Die nahe­lie­gen­de Fra­ge lau­tet, ob sich frü­her oder spä­ter auch Lafon­tai­nes Ehe­frau Sahra Wagen­knecht die­ser Aus­tritts­wel­le anschließt. Und nicht weni­ger kniff­lig ist die Anschluss­fra­ge: Wäre das dann der end­gül­ti­ge Nie­der­gang oder eher ein Segen für die Partei?

Herr­mann ver­weist dar­auf, daß Wagen­knecht kein apo­dik­ti­sches Bekennt­nis zu ihrer Par­tei abzu­ge­ben bereit ist, und daß es aus ihrem Umfeld ver­lau­te, Wagen­knecht hät­te dar­über nach­ge­dacht, der Lin­ken Adieu zu sagen.

Wes­halb ist die­se Fra­ge der­zeit beson­ders viru­lent? Aus zwei Gründen.

Ers­tens wird in weni­gen Wochen in Nord­rhein-West­fa­len gewählt: Dort, wo sie als Spit­zen­kan­di­da­tin über­haupt erst ihr Bun­des­tags­man­dat sicher­te. Wür­de sie dort vor der Wahl aus­tre­ten, droht der Saar­land-Effekt und das (noch deut­li­che­re?) Unter­schrei­ten der Fünfprozenthürde.

Zwei­tens, und das ist für das poli­tisch rech­te Lage ungleich span­nen­der, könn­te Wagen­knecht das Ende der Links­frak­ti­on im Bun­des­tag bewir­ken. Eini­ge ihrer Äuße­run­gen näh­ren den Ver­dacht, daß sie zumin­dest damit lieb­äu­gelt, auf die Anfein­dun­gen aus den eige­nen Rei­hen end­lich zu reagieren:

Wenn die Par­tei wei­ter in die Rich­tung geht, für die etwa Susan­ne Hen­nig-Well­sow steht, dann wird sich der Abwärts­trend fortsetzen,

womit sie zwar einer­seits zwei­fel­los ins Schwar­ze trifft, ande­rer­seits aber natür­lich unter­schlägt, daß sie beim Par­tei­tag in Juni ver­mut­lich nicht ein­mal mehr ein Drit­tel der Basis hin­ter sich wis­sen dürf­te, daß sie es also ist, die den inner­lin­ken Betriebs­frie­den abträgt, nicht Hen­nig-Well­sow, deren unin­spi­rier­te links­li­be­ra­le Medio­kri­tät längst Par­tei­stan­dard ist.

Ver­mut­lich weiß Wagen­knecht um die Chan­cen­lo­sig­keit ihrer Posi­tio­nie­rung »sozi­al, aber wert­kon­ser­va­tiv« (Wagen­knecht über Wagen­knecht) in der Partei. 

Aber fest­ste­hen dürf­te, daß sie

ein sehr gutes Druck­mit­tel hat. Soll­te sie tat­säch­lich die Par­tei und damit dann ja auch die Bun­des­tags­frak­ti­on ver­las­sen, dann müss­ten ihr nur zwei von der­zeit 39 Abge­ord­ne­ten fol­gen — und die Lin­ke wür­de ihren Frak­ti­ons­sta­tus ver­lie­ren. Eine Frak­ti­on muss laut Geschäfts­ord­nung aus min­des­tens fünf Pro­zent der Abge­ord­ne­ten des Par­la­ments bestehen, in die­ser Wahl­pe­ri­ode liegt die Unter­gren­ze bei 37 Sit­zen. Damit liegt es auch im Über­le­bens­in­ter­es­se der Lin­ken, dass Wagen­knecht dabei bleibt.

Es ist dies ein sel­te­ner Moment für Nicht-Lin­ke: Man steckt hier in einer Win-Win-Situation.

Bleibt Wagen­knecht in der Links­par­tei, ist die­se wei­ter­hin zual­ler­erst mit inne­ren Kon­flik­ten und per­sön­li­chem Hader beschäf­tigt und kann in kom­men­den Kri­sen­zei­ten nur unzu­rei­chend Pro­test­stim­mun­gen auf­grei­fen und kanalisieren.

Ver­läßt Wagen­knecht die Links­par­tei und zögen min­des­tens zwei ihrer Weg­ge­fähr­ten aus dem Bun­des­tag nach, was wohl bei min­des­tens einer Hand­voll der Abge­ord­ne­ten anzu­neh­men wäre, zer­fällt die Links­frak­ti­on, ver­liert die Par­tei ihr media­les Aus­hän­ge­schild und mit­tel­fris­tig die Res­te ihres sou­ve­rä­nis­ti­schen, links­po­pu­lis­ti­schen Flügels.

Als rei­ne Anti­fa-Trup­pe wäre sie aber über­flüs­si­ger denn je. Dok­tri­nä­rer Anti­fa­schis­mus ist bereits in der Bun­des­re­gie­rung ange­kom­men – die in der Ampel-Koali­ti­on tri­um­phie­ren­den Grü­nen machen eine »Life­style-lin­ke« Par­tei nun­mal gänz­lich über­flüs­sig. Bei kom­men­den Wah­len wür­de sich das Saar­land-Desas­ter also wiederholen.

– –

In Frank­reich wird der­weil in weni­gen Tagen die zwei­te Run­de der Prä­si­dent­schafts­wahl statt­fin­den. Eine kun­di­ge Ana­ly­se der Chan­cen und Poten­tia­le von Mari­ne Le Pen hat Dani­el Fiß hier vor­ge­legt und an einem Rück­blick auf die letz­ten fünf Jah­re Le Pen-Poli­tik habe ich mich hier versucht.

Was aber sagen unse­re Freun­de aus Frankreich?

Beim dies­jäh­ri­gen Kol­lo­qui­um des Insti­tut Ilia­de in Paris vor zwei Wochen befrag­te ich jeden Gesprächs­part­ner frü­her oder spä­ter nach sei­ner per­sön­li­chen Mei­nung zu Éric Zemm­our und Mari­ne Le Pen, zur Fra­ge nach tak­ti­scher Wahl oder inhalt­li­cher Über­zeu­gung etc.

Die Ant­wor­ten fiel so »plu­ral« aus, um die­ses wei­ter oben deco­dier­te Mode­wort auf­zu­grei­fen, wie sich die 1400 Teil­neh­mer zusammensetzten:

Ein katho­li­scher Tra­di­tio­na­list sag­te mir, er wäh­le Zemm­our, weil die­ser die Isla­mi­sie­rung als Kern­pro­blem benen­ne, wohin­ge­gen mir ein ande­rer katho­li­scher Tra­di­tio­na­list sag­te, er wäh­le »selbst­ver­ständ­lich« Le Pen, weil sie ers­tens Chan­cen auf die Stich­wahl und zwei­tens ein umfas­sen­des Pro­gramm zur Erneue­rung Frank­reichs habe, wohin­ge­gen Zemm­our ledig­lich mit – gewiß sym­pa­thi­schen – Schlag­wor­ten hantiere.

Auch bei Ver­tre­tern ande­rer vor Ort prä­sen­ter Strö­mun­gen zeig­te sich der elek­to­ra­le Riß deut­lich: Natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re fand ich pro wie auch con­tra Zemm­our vor, Pan­eu­ro­pä­er pro wie con­tra Le Pen, und bei eher klas­sisch aus­ge­rich­te­ten Natio­nal­kon­ser­va­ti­ven und Sou­ve­rä­nis­ten ver­hielt es sich ganz ähnlich.

Daß die Besu­cher und Refe­ren­ten des Kol­lo­qui­ums so ent­spannt und offen mit die­sem Wahl-Dis­sens umgin­gen, lag ins­be­son­de­re am meta­po­li­ti­schen, kul­tu­rel­len Cha­rak­ter der Ver­an­stal­tung. Aber auch dar­an, daß sich für bei­de Ent­schei­dun­gen – für Le Pen oder für Zemm­our  zu stim­men – gute Grün­de fin­den ließen.

Ver­ge­gen­ständ­licht wird die­se offe­ne Dis­kus­si­ons­at­mo­sphä­re, die sich nicht als »plu­ral« ver­mark­ten muß­te, weil sie tat­säch­lich viel­fäl­tig ist, bei­spiels­wei­se in der natio­nal­ka­tho­li­schen Tages­zei­tung Pré­sent. Wer des Fran­zö­si­schen mäch­tig ist, fin­det hier für einen schma­len Taler eine Son­der­aus­ga­be, die aus rech­ter Sicht zusam­men­trägt, was es Posi­ti­ves mit Le Pen und was es Posi­ti­ves mit Zemm­our auf sich hat. Bei­de Lager sind adäquat ver­tre­ten, selbst die Redak­ti­on der vier­zig Jah­re alten Zei­tung räumt offen ein, bei­de Sei­ten in ihren Rei­hen zu wissen.

Wäh­rend des­sen hat Fran­çois Bous­quet im Blog des rechts­in­tel­lek­tu­el­len Maga­zins élé­ments heu­te (14.4.2022) eine wei­te­re Ana­ly­se ver­öf­fent­licht. Bous­quet, der als Exper­te sogar bei France Cul­tu­re Gehör fand (eine Chan­ce zur Gegen­re­de, deren Aus­sicht auf Ver­wirk­li­chung beim deut­schen Pen­dant Deutsch­land­ra­dio Kul­tur gänz­lich absurd wäre), stellt sei­ne Gedan­ken (hier frei ver­füg­bar, Über­set­zun­gen durch mich) unter die Über­schrift »Lachen­de Mari­ne, wei­nen­der Zemmour«.

Bous­quet ver­weist dabei dar­auf, daß ein gutes Drit­tel der Le Pen-Wäh­ler von den Über­zeu­gun­gen wohl stär­ker bei Zemm­our pla­ziert sein dürf­ten – die tak­ti­sche Wahl gab bei die­ser Per­so­nen­grup­pe den Aus­schlag für Le Pen.

Den Erfolg Le Pens über ihren Kon­kur­ren­ten bezeich­net er vor allem aber als Fol­ge des­sen, daß Zemm­our zwar Frank­reich ken­ne – Le Pen aber die Fran­zo­sen. Und die wäh­len einst­wei­len den Präsidenten:

Wenn es etwas gibt, das Zemm­our kennt, dann ist es Frank­reich; aber kennt er auch die Fran­zo­sen? Mari­ne kennt sie, gleich­wohl sie sich in der Geschich­te Frank­reichs dafür nicht all­zu gut aus­kennt. Das ent­spricht ja den Erwar­tun­gen: Zemm­our ist behei­ma­tet im kul­tu­rel­len Kon­text, sie im poli­ti­schen. Er hat Leser, sie hat Wäh­ler. Prä­zi­ser gesagt: Zemm­our-Wäh­ler haben eher Gewiss­hei­ten, Le Pen-Wäh­ler Beden­ken. Ers­te­re wol­len gestärkt, letz­te­re beru­higt werden.

Anders als Zemm­our habe es Le Pen ver­stan­den, die aktu­el­len The­men, die die Fran­zo­sen bedräng­ten, auf­zu­grei­fen, dar­un­ter Infla­ti­on und Kauf­kraft­ver­lust. Das habe ihr im März und April jene Vor­tei­le ver­schafft, die den Abstand zwi­schen bei­den so groß wer­den ließ:

Ihr Umfra­ge­wer­te sind so schnell gestie­gen wie der Rohölpreis,

scherzt der sonst eher ana­ly­tisch-nüch­ter­ne Essay­ist, Ver­le­ger und Betrei­ber der wich­tigs­ten non­kon­for­men Buch­hand­lung Frank­reichs (La Nou­vel­le Librai­rie), denn sie habe

ihr Pro­gramm an der Zapf­säu­le ser­viert, Zemm­our hin­ge­gen auf Sil­ber­ser­vice des ers­ten fran­zö­si­schen Kaiserreiches.

Ein wei­te­rer ent­schei­den­der Punkt sei die unter­schied­li­che Mobi­li­sie­rungs­ka­pa­zi­tät bei­der Kan­di­da­ten gewe­sen. Zemm­our griff auf sei­nen begeis­ter­ten har­ten Kern zurück, der 200 Kilo­me­ter rei­sen woll­te, um an sei­nen Tref­fen teil­zu­neh­men. Es waren iden­ti­tä­re, patrio­ti­sche Über­zeu­gungs­tä­ter, Akti­vis­ten unter­schied­li­cher Gruppen.

Mari­ne Le Pen hin­ge­gen erreich­te weni­ger die eige­ne Sze­ne als viel­mehr Außen­ste­hen­de. Sie ging »ins Volk«, begeis­ter­te die Peri­phe­rie, sprach Arbei­ter und Klein­bür­ger an.

Bei Bous­quet wird deut­lich, daß sei­ne per­sön­li­che Vor­lie­be der­je­ni­gen Zemm­ours ent­spricht: Die gemein­sa­me Klam­mer ist die Nost­al­gie für die kul­tur­schöp­fe­ri­sche Gran­de Nati­on, aber die­se gemein­sa­me Klam­mer ver­bin­det nur noch weni­ge Franzosen:

Wir kön­nen so viel wei­nen wie wir wol­len, die­se Welt ist tot. Es ist schreck­lich, aber es ist so.

Auch er, Bous­quet, habe Zemm­our gewählt, und wie für so vie­le, die es ihm gleich taten, habe das ästhe­ti­sche, kul­tu­rel­le Grün­de. In Le Pens Wäh­ler­schaft domi­nie­re das funk­tio­na­le, uti­li­ta­ris­ti­sche Ver­ständ­nis von Poli­tik: »Prak­tisch, nicht ästhetisch.«

Le Pen adres­sie­re zwar »das Volk«, aber errei­che die­ses nur in sei­ner Rol­le als Gemein­schaft von Ver­brau­chern, von Kon­su­men­ten. Auch wenn man bis­wei­len mei­nen kön­ne, Zemm­our sei der »Libe­ra­le­re«, ver­hal­te es sich gera­de nicht so. Mit dem Poli­to­lo­gen Jean-Yves Camus ver­weist Bous­quet daher dar­auf, daß die Anhän­ger­schaft Le Pens von »fort­ge­schrit­te­ner Ent-Ideo­lo­gi­sie­rung« gekenn­zeich­net sei: Die libe­ra­le Ent­po­li­ti­sie­rung sei voll­zo­gen, mate­ri­el­le Begier­den (Stich­wort Kauf­kraft) über­la­gern das Poli­ti­sche, das Patrio­ti­sche etc.

Und dann wider­spricht Bous­quet sei­nem Freund und élé­ments-Kol­le­gen Alain de Benoist (ohne die­sen nament­lich zu nen­nen): Es sei falsch anzu­neh­men, daß die Rechts-Links-Dicho­to­mie über­wun­den sei.

Im Gegen­teil: Sie sei essen­ti­ell. Nur sei sie ver­ges­sen wor­den, über­la­gert durch flüch­ti­ge Pro­ble­me des All­tags, durch die Sor­gen und Bedürf­nis­se in der Mas­sen­ge­sell­schaft. Für die­ses neue Frank­reich sei Zemm­our »zu kultiviert«.

Mari­ne Le Pen hin­ge­gen ver­kör­pe­re die Mas­sen­kul­tur, gehe in die­ser auf, kann des­halb Erfol­ge fei­ern, weil sie die Spra­che des peri­phe­ren Frank­reichs, der Durch­schnitts­men­schen gewis­ser­ma­ßen, spricht.

Von sei­nem Stand­punkt des elo­quen­ten, meta­po­li­ti­schen Kul­tur­kri­ti­kers erscheint mir die­se Ana­ly­se Bous­quet natur­ge­mäß so zutref­fend wie ver­nich­tend. Le Pen ist ein Kind ihrer Zeit, sie spricht den Jar­gon die­ser Tage und the­ma­ti­siert oft­mals offen­siv mate­ri­el­le Bedürfnisse.

Befür­wor­ter der real­po­li­ti­schen Le Pen-Stra­te­gie hin­ge­gen dürf­ten sicher­lich ein­wen­den, daß Wah­len über­haupt nur dann gewon­nen wer­den kön­nen, wenn man Stim­men­po­ten­tia­le maxi­mal aus­wei­tet – und das geht nur über ein popu­lis­ti­sches »Ins Vol­ke gehen«, ja über eine Basis­ar­beit, die wenig mit Alt-Pari­ser Gran­deur, sehr viel aber mit der Hemds­är­me­lig­keit der Pro­vinz zu tun hat.

Kul­tu­rel­le und geis­ti­ge Auf­bau­ar­beit wird nun­mal sel­ten an der Wahl­ur­ne ver­rich­tet – und in die­sem Kon­text soll­te man auch die neus­te Agi­ta­ti­on Mari­ne Le Pens im End­spurt des Wahl­kampfs für die Stich­wahl betrachten.

Wenn sie Macron, den Kan­di­da­ten des »Glo­ba­lis­mus«, schla­gen möch­te, muß sie die »Brech­stan­ge des Popu­lis­mus« (Bernd Ste­ge­mann) auf vie­len Fel­dern ein­set­zen. Das wird ihr zwar kei­ne Schön­heits­prei­se ein­brin­gen, aber womög­lich die Aus­sicht auf 40 Pro­zent plus der Stim­men. Läßt man sich über­haupt auf die Wahl­are­na ein, scheint die­ser Stil wohl einst­wei­len alternativlos.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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Kommentare (9)

Gotlandfahrer

14. April 2022 13:21

Hochgeschätzter Herr Kaiser,

"Seltener Moment für Nicht-Linke: Win-win-Situation"

Warum so zerknirscht? Langfristig ist dies immer korrekt. Man nennt dies Wirklichkeit. Die Frage ist nur, wieviel bis zu dem Punkt kaputt geht, an dem Menschen, die das Zustimmungsspiel am rücksichtslosesten spielten, mit der nächsten Bewegung verlieren. Womit man erneut bei Mariopol sein könnte, wenn man das richtige getrunken hat.

Laurenz

14. April 2022 18:48

@BK

"Wagenknecht & die Linke"

Toller Beitrag, aber eher im Sinne eines HB, die Feststellung & Definition des Status Quo.

Die Selbstvernichtung der Linken unter Hennig-Wellsow & Wissler, die schon groteske Züge annimmt, wird von wem forciert?

Als Hesse würde man bemerken, "ei, da kommd so viel bei 'rum, wie wemmer de Ochs ins Horn pedzd.

Hier liegt in meinen Augen der einzige formale Fehler im Beitrag: 

daß sie beim Parteitag in Juni vermutlich nicht einmal mehr ein Drittel der Basis hinter sich wissen dürfte

Hier meinten Sie wohl die Delegierten & nicht die Partei-Basis.

Die Abkopplung der Delegierten ist auch bei der CDU ein gravierendes zeitgeistiges Phänomen des linken Apparatschik-Staates Deutschland.

Rußlandfreundliche & mehr realitätsbezogene Köpfe, wie Dehm oder Dr. Neu, im Gefolge von Wagenknecht, gehören dem jetzigen Bundestag auch nicht mehr an.

Nur, BK, schreiben Sie uns, wo Wagenknecht eine neue politische Heimat fände, wenn Sie der Linken den Genickschuß verpaßt? Wagenknecht will noch nicht in die Rente. Ihr Verein "Aufstehen" blieb ja erfolglos.

kikl

14. April 2022 18:59

Dass die Linke den Pluralismus nur im Munde führt, aber alles dafür tut, um Pluralismus zu bekämpfen, das wissen wir doch alle zu genau. Political Correctness und neuerdings Wokeness sind die Stichworte dafür. Der Kampf gegen Meinungspluralismus ist festes verankert im Linken Handeln. Ethnopluralismus hasst die Linke geradezu, denn das ist aus der linken Sicht Nazi.

Was Frankreich angeht: In Zeiten der Krise hat der Amtsinhaber immer einen großen Bonus, weil das Volk in ihm den Retter erhofft. Wenn Le Pen ein beachtliches Ergebnis erzielt, dann kann man froh sein. Beweist es doch, dass das Overton-Fenster nach rechts aufgerissen wurde. Davon sind wir in Deutschland noch sehr weit entfernt.

Volksdeutscher

14. April 2022 21:48

- "...ist doch seit Rosa Luxemburgs so oft und so zuverlässig falsch zitierter Wendung von der »Freiheit des Andersdenkenden« bekannt, daß diese im Zweifelsfall nur für das eigene Milieu zu beanspruchen ist."

Die wohlklingende Floskel von der "Freiheit des Andersdenkenden" ist bei den Linken nur im systemimmanenten Sinne wahr, das kennt die Linke auch nicht anders: linke These + linke Antithese = linke Synthese. Eigentlich inntellektueller Inzucht.

Sixtus

15. April 2022 09:12

Hr. Zemmour sind vor allem seine doch sehr Putin-freundlichen Äußerungen der letzten Jahre angesichts des Ukraine-Kriegs auf die Füße gefallen, das konnte man in den letzten Wochen seit Kriegsbeginn in den Woche für Woche steil fallenden Umfragen sehr gut nachvollziehen - denn natürlich wurde er in den zahlreichen Talkshows, in denen er präsent war, immer wieder darauf angesprochen bzw. die entsprechenden Äußerungen von ihm eingespielt. Aber insgesamt ist das Meinungsklima in Frankreich doch deutlich freier und der in den großen Medien "erlaubte" Meinungskorridor erheblich größer, als hierzulande - wer Französisch kann, sollte sich einfach mal ein paar der vielen Talkshow-Auftritte mit Zemmour ansehen - das ist wirklich Meilen von Lanz, Will, Plasberg & Co. entfernt.

Imagine

15. April 2022 18:04

1/3

Wissenschaftliche Soziologie unterscheidet sich von der gesellschaftlichen Betrachtung auf Basis des Alltagsbewusstseins dadurch, dass sie die Vielfalt der gesellschaftlichen Erscheinungsformen analytisch nach strukturellen Gemeinsamkeiten untersucht und diese mit abstrakten Begriffen erfasst.

Nehmen wir als Beispiel Arnold Gehlen und dessen Institutionenbegriff. Institutionen funktionieren und wirken in gesetzmäßig gleicher Weise, obwohl es eine unendliche empirische Vielfalt von Institutionen gibt und diese scheinbar völlig unterschiedlich sind, so wie z.B. Kirchen und politische Parteien. Auch rechte und linke Institutionen (z.B. Parteien) weisen strukturelle Gemeinsamkeiten auf, welche jedoch von ihrer Anhängerschaft ignoriert und geleugnet werden.

Parteiensoziologisch wurde dies bereits vor über 100 Jahren von Robert Michels beschrieben.

Es erklärt, warum die älteren Parteien zu systemkonformen und ähnlichen Parteien geworden sind und warum es nur eine Frage der Zeit ist, bis neue Parteien die gleichen strukturellen Gemeinsamkeiten aufweisen und ähnlich funktionieren.

Imagine

15. April 2022 18:07

2/3

Das Gleiche gilt für BerufspolitikerInnen. Wer Akzeptanz beim Establishment und den Medien erreichen und erhalten will, muss sich anpassen.

Typisch dafür ist z.B. das Verhalten von Wagenknecht in der Corona-Frage. Sie verlässt niemals das herrschende Infektionskrankheitsparadigma, obwohl es inzwischen völlig klar ist, dass hinter dem Corona- und Impfszenario ganz andere Interessen und Ziele als der Gesundheitsschutz der Bevölkerung stehen. Würde Wagenknecht dies thematisieren, verlöre sie die Akzeptanz beim Establishment und den Medien und wäre nicht mehr die beliebte, „linke“ Talkshow- und BILD-TV-Lady sondern würde als politische Feindin - wie Bhakdi, Wodarg et al.- exkludiert und bekämpft werden.

Das Gleiche gilt für die linkssozialdemokratischen Nachdenkseiten, weil diese nach wie vor die Reformillusion einer systemimmanenten demokratischen politischen Zähmung und Steuerung des Kapitalismus propagieren.

Wissenschaftlich ist dies längst widerlegt und als systemaffirmative Ideologie dargestellt worden, aber es entspricht dem Wunschdenken die linkssozialdemokratischen Anhänger, welches völlig realitätsresistent ist.
 

Imagine

15. April 2022 18:09

3/3

Wagenknecht ist ein Beispiel für die strukturelle Korruption, die alle BerufspolitikerInnen mitmachen müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Früher war Wagenknecht Mitglied der „Kommunistischen Plattform“ und vertrat marxistisch-leninistische Positionen, heute propagiert sie systemkonforme und völlig realitätsferne ordoliberale. Sie möchte, dass die Linkspartei eine Art Sozialarbeiterfunktion mit kämpferischer Parteinahme für die Armen und Schwachen übernimmt, was den Parteifunktionären überhaupt nicht schmeckt, denn die möchten in Regierungsämter aufsteigen und vertreten daher Positionen, die zur herrschenden neoliberalen Realität kompatibel sind.

Eine wesentliche sozialpsychologische Erkenntnis von Erich Fromm ist, dass das soziale System ähnliche systemfunktionale Persönlichkeitsstrukturen bei den Individuen hervorbringt, so dass Linke und Rechte psychostrukturell ähnlich funktionieren, obwohl diese sich  völlig anders wahrnehmen und für sich eine ganz andere charakterliche und moralische Beschaffenheit reklamieren und die anderen als die Feinde und „Bösen“ behandeln. Tatsächlich sind alle Seiten durch kognitive Dissonanzen und "doppelte Standards" gekennzeichnet.

 

Laurenz

16. April 2022 00:34

@Imagine

Ich weiß nicht, welchen Sinn ihre religiöse Bindung an die Soziologie machen soll? Wieso sollte man Offensichtliches abstrakt definieren, wo es doch real offensichtlich ist. Die gesellschaftliche Anpassung gilt auch für die meisten alternativen Medien, weshalb diese auch mehr oder weniger zensieren. Der Zwang zur Anpassung ist doch beabsichtigt, dazu braucht man keine Soziologen, wenn überhaupt Psychologen.

dass Linke und Rechte psychostrukturell ähnlich funktionieren, obwohl diese sich  völlig anders wahrnehmen

Falsche Analyse... wir Rechten wissen das nur zu genau & wissen exakt um die trennenden Knackpunkte. Die wenigen Linken, die kein betreutes Denken benötigen, wie Frau Wagenknecht, wissen das natürlich auch. Sagen wir, zumindest Oskar weiß es. Nur dort darf keiner psychostrukturell wie ein Rechter funktionieren. Das ist wider die 10 Gebote des Marxismus. Was die KPF angeht, so war Wagenknecht auch schon Sprecherin dieser. Die KPF ist in etwa mit 1,1k Mitgliedern fast so groß, wie @Anatol Broders Schopenhauer-Weinverkostungs-Verein.

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