Jetzt zeitigt dieser Föderalismus indes auch mal eine interessante Folge – jedenfalls für den Verfassungsschutz.
Die Süddeutsche Zeitung (v. 27.4.2022) berichtet über »Die neue Bibel für den Verfassungsschutz« – und verweist auf ein bayerisches Urteil, das »bundesweite Bedeutung« habe.
Wolfgang Janisch meint, dieses Urteil sei »ein regelrechter Rundumschlag, mit dem die Richter der Überwachung durch die Geheimdienste Grenzen setzen«, was natürlich insbesondere rechts der »Mitte«, wo die Überwachung oppositioneller Bestrebungen Jahr für Jahr ausgeweitet wird, für Aufmerksamkeit sorgen sollte.
Worum geht es konkret?
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgericht hat das bayerische Verfassungsschutzgesetz
in so vielen Punkten gerügt, dass allein das Vorlesen der grundgesetzwidrigen Paragrafen mehr Atem erforderte als ein langer Triller auf der Querflöte.
Grundgesetzwidrig sind demnach einige Aspekte jenes Verfassungsschutzgesetzes aus München, das 2016 umfassend reformiert wurde. Kritiker des Verfassungsschutz – vornehmlich von links, bedauerlicherweise – nutzten die Zäsur nun erfolgreich, um die Tätigkeit des VS an sich auf den Prüfstand zu stellen.
Mit Folgen, wie Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) nach der Urteilsverkündung einräumte:
Es müssen wahrscheinlich der Bund und alle Länder ihre Gesetze ändern,
klagte er, denn
es gibt nach meiner Kenntnis kein einziges Gesetz, das all diesen Vorgaben, die heute formuliert worden sind, entspricht,
was Janisch, den Journalisten der Süddeutschen, eben zur eingangs genannten Formel von der »neuen Bibel für den Verfassungsschutz« verleitet, da sie »den Anfang und das Ende« regle. Gemeint ist: Anfang und Ende einer Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst.
Das beinhaltet folgende Selbstverständlichkeit, die erst jetzt in aller Deutlichkeit durch Karlsruhe herausgearbeitet wurde:
Am Beginn jeder Beobachtung müssen tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen erkennbar sein. Weder genügt ein vager Verdacht noch die „bloße Kritik an Verfassungsgrundsätzen”, schreibt das Gericht,
was – rein theoretisch und nicht machtpolitisch gedacht – mindestens zwei Drittel aller beobachteten »Rechtsextremisten« eo ipso entlasten müßte.
Der VS müsse auch seine Paragraphen reformieren:
Sie müssen klar und eindeutig formuliert sein und nicht so diffus, dass aus einer ganz normalen Handy-Ortung wie aus Versehen ein dichtes Bewegungsprofil entstehen kann. Beim äußerst sensiblen Verwanzen von Wohnungen wie auch bei der Online Durchsuchung hat das Gericht die Hürden besonders hoch gelegt.
Und das heißt fortan:
Wo die Menschen aber bis in den privatesten Winkel durchleuchtet werden sollen, da bleibt dem Verfassungsschutz laut Gericht nur noch eine Reservekompetenz, wie eben beim Abhören von Wohnungen.
Die Süddeutsche meint relativierend, daß dies
verschmerzbar sein dürfte, weil die Dienste davon so gut wie nie Gebrauch machen.
Ist das so? Weiß man das?
Was man weiß: Die Befugnisse der Sicherheitsbehörden untereinander, also etwa zwischen VS und Polizei, werden limitiert. In der Arbeitsteilung dieser Behörden ist angelegt, daß der Verfassungsschutz keine Strafverfolgungsbefugnisse hat und die Polizei keine geheimdienstlichen Aktivitäten betreiben sollte. Austausch erlaubt, aber fortan eingeschränkter als bisher:
Politisch ist ein möglichst umfassender Informationsfluss gewollt, damit keine wichtigen Hinweise versickern. Verfassungsrechtlich gilt eher das Gegenteil. Denn mangels operativer Befugnisse haben die Dienste freiere Hand bei der Gewinnung von Informationen. (…)
Deshalb würde ein unbeschränkter Info-Tausch den Schutz der Bürgerrechte schlicht unterlaufen; die Strafverfolger zum Beispiel könnten sich, was sie selbst nicht erheben dürfen, bei den Geheimdiensten besorgen. Karlsruhe hatte hier schon früher Grenzen eingezogen, die nun präzisiert wurden. Nur was eine Behörde selbst erheben dürfte, kann sie auch bei anderen Behörden anfordern.
Als logische Folge daraus ergibt sich:
Die Brücke zwischen Polizei und Verfassungsschutz ist also schmaler geworden.
Auch der Einsatz verdeckter Mitarbeiter dürfte künftig wohl – rein formelrechtlich – schwieriger werden.
Denn
durch diese Maßnahmen kann eine vermeintliche Vertrauensbeziehung zunächst aufgebaut und dann ausgenutzt werden”, erläutert das Gericht. Das klingt, im Jargon der Stasi, nach Romeo- oder Venus-Fallen – viel intimer kann staatliche Überwachung kaum sein. Das ist alles andere als harmlos, „das kann sehr schwer wiegen”, stellt das Gericht klar.
Als verfassungsrechtlicher Laie muß ich offen einräumen, daß ich überrascht über dieses Urteil und seine zum Teil massiven Bedenken ob des bayerischen Verfassungsschutzgesetzes bin.
Ausgerechnet in einer Entwicklungsphase der Bundesrepublik, in der die VS-Beobachtungen systematisch ausgeweitet werden – eben just auch als Folge von Urteilen aus Karlsruhe in der jüngeren Vergangenheit –, wird ein Präzedenzfall geschaffen, der weitreichende Folgen haben kann.
Das gilt ja nicht nur für Bayern, das nun bis Juli 2023 Zeit hat, ein neues Gesetz vorzulegen. Das gilt für alle Länder und den Bund, denn das Bundesverfassungsgericht hat durch seine wiederholte Plazierung des Terminus »Vorabkontrolle« angezeigt, daß die Dienste besser kontrolliert werden sollten,
nicht nur fürs Abhören von Telefonen, sondern für die Kontrolle des gesamten Instrumentenkastens, vom Einsatz verdeckter Ermittler über Handyortung bis zur Observation im öffentlichen Raum.
Das Bundesverfassungsgericht hat hier starke Bedenken, womit die Süddeutsche ihren Bericht schließt:
Niemand im Verfahren habe plausibel erklären können, warum eine externe Kontrolle beim Verfassungsschutz nicht funktionieren solle.
Auch die Freie Presse (28.4.2022) berichtet über dieses Urteil. Die Chemnitzer Tageszeitung verweist darauf, daß das Handeln der Verfassungsrichter »zum Ausspähen von Wohnungen und zu Online-Durchsuchungen auch in Sachsen nicht folgenlos bleiben« dürfte.
Tino Moritz und Anja Semmelroch heben dabei u.a. hervor, daß die VS-Befugnis, »Auskunft über Daten aus der Vorratsdatenspeicherung zu ersuchen«, für »nichtig« erklärt worden sei. Auch der Einsatz von V‑Leuten und Observationen würden vor Probleme gestellt.
Alles in allem ein Grund zum Aufatmen? Wohl kaum. Wenn Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) von einem »deutlichen Rückenwind«
für die Umsetzung des Ampel-Koalitionsvertrags zur »Stärkung der Bürgerrechte«
spricht, sollte man daran denken, daß Buschmann mit der antifaschistischen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in Einklang agiert – und ob die »Stärkung von Bürgerrechten« wirklich Faesers Habitat ist, jedenfalls dann, wenn es um rechte Oppositionelle geht, darf zumindest bezweifelt werden.
Gleichwohl, und auf diese positive Korrektur weist die Freie Presse hin,
müsse sich der Verfassungsschutz an strengere Regeln für die Weitergabe der gewonnenen Daten an andere Behörden halten: Eine Strafverfolgungsbehörde dürfe von ihm nur dann Informationen erhalten, wenn es um besonders schwere Straftaten geht.
Aus Sachsens AfD-Landtagsfraktion heißt es, wie Tino Moritz und Anja Semmelroch zitieren, daß auch Sachsens Verfassungsschutzgesetz
zumindest in Teilen als verfassungswidrig bezeichnet werden muss.
Demnach sei insbesondere die V‑Mann-Kontrolle ein »massives Problem«.
Weiter geht nur die Linksfraktion: Rico Gebhardt kündigt nicht nur die Prüfung des »unmittelbaren Änderungsbedarfs« auf der Grundlage des Karlsruher Urteils auch für den Freistaat Sachsen an.
Der Landeschef der Sachsen-Linken verweist trocken darauf, daß der »eigentliche Handlungsbedarf für den Landtag« ja wohl darin bestehe, sich der Auflösung des Landesamtes für Verfassungsschutzes zu widmen.
– –
Aufgelöst wird der VS sicherlich nicht – vielleicht aber schon bald die Partei Rico Gebhardts? Allerorten kracht es in der Partei, die sich nur dank dreier Direktmandate in Leipzig und Berlin überhaupt noch einer (weithin zerstrittenen) Bundestagsfraktion rühmen darf.
Als ich vor wenigen Wochen twitterte, wir erleben im Jahr 2022 womöglich das Ende der Partei Die Linke, wurde mir entgegengehalten, daß dies ein wenig zu euphorisch und übertrieben sei – mittlerweile kamen aber nach dem Saarland-Debakel (und vor der erwartbaren NRW-Schmach) noch Sexismus-Skandale, der Rücktritt der blamabel gescheiterten Co-Chefin Susanne Hennig-Wellsow, weitere Parteiaustritte und eine neu-alte Strategiedebatte dazu.
Es sind dies Entwicklungen, die – als sich verdichtendes Bündel von Problemen – der Partei den Garaus machen könnten.
Schon kreisen die Geier aus der Mainstreampresse über der Partei. Die Tageszeitung Die Welt (v. 27.4.2022) titelt:
»Das Projekt DIE LINKE ist gescheitert«,
und zitiert einige ehemalige Mitglieder der Partei. Es handelt sich letztlich um Aussteiger-Abrechnungen, die man sonst nur aus dem »Kampf gegen rechts« und von dortigen wortreichen Abschiedsbegründungen kennt.
Eine ehemalige Bundestagsabgeordnete der Linkspartei wird wie folgt zitiert:
Die Basis hat eine bessere Partei verdient. Sie ist viel differenzierter und klüger als die Machtzentrale in Berlin. Ich habe mich geschämt, weil ich mich als Mitglied der Fraktion immer wieder habe einfangen lassen. Ich habe nicht nach außen kritisiert, ich war loyal, um des Friedens willen. Aber die Illoyalen haben trotzdem gemacht und gesagt, was sie wollten,
womit man – mindestens in Teilen – an Verhältnisse rund um die Alternative für Deutschland erinnert sein dürfte.
Doch während die Basis der AfD beim Bundesparteitag im Juni in Riesa ein starkes Signal aussenden kann, indem sie die sattsam bekannten »Illoyalen« und Parteizerstörer aus ihren Ämtern wählt, scheint die Linkspartei-Basis den entgegengesetzten Weg zu gehen.
Nicht nur Sahra Wagenknecht und Fabio de Masi, auch Sören Pellmann (jener Bundestagsabgeordnete, dessen Leipziger Direktmandat half, den Fraktionsstatus zu bewahren) und andere »Linkspopulisten« bzw. »klassische Linke« werden von der Basis zunehmend angefeindet. Das liegt an der anhaltenden Verjüngung der Partei, was vor allem bedeutet, daß sie woker, »postmoderner« und dogmatisch-antifaschistischer wird.
Ein Leitwolf der jüngeren Parteiströmungen ist Benjamin-Immanuel Hoff, seit 2014 Chef der Thüringer Staatskanzlei und Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten, der Mastermind der rot-rot-grünen Koalition in Thüringen, also: der eigentliche Denker der Ramelow-Regierung.
Dieser Hoff hat nun ein »Diskussionsangebot« veröffentlicht, was man durchaus als Bewerbung um den – ebenfalls im Sommer zu wählenden – Parteivorsitz zu interpretieren ist.
Diese Prozedur erinnert erneut an die AfD: Petry geht, der inhaltlich und strategisch ähnlich ausgerichtete Meuthen folgt. Meuthen geht, ein inhaltlich und strategisch ähnlich ausgerichteter Kandidat soll (nach Ansicht der Post-Meuthenianer, die weiter über eine 2/3‑Mehrheit im Bundesvorstand verfügen) folgen.
Bei der Linken heißt das: Das postmodern-linke Lager versemmelt seine Chance mit Hennig-Wellsow und führt die Partei in den Abgrund, und als Lösung empfiehlt man dann mehr von diesem Kurs anstatt das Ruder herumzureißen und eine Abkehr von grünlinker Lifestyle-Programmatik zu forcieren.
Hoffs Text »Steh auf, wenn du am Boden liegst…« jedenfalls, erschienen in der Theoriezeitschrift Luxemburg und zusätzlich als Präsentation auf seiner Netzseite, muß man nicht zwingend gelesen haben, weil es viele altbekannte Themen aufgreift und widersprüchliche Positionen unter dem Schlagwort »plurale Linke« zusammenfassen möchte (was über linke Blendgranaten wie »Pluralität« zu sagen wäre, habe ich bereits hier gesagt).
Interessant ist der Beitrag in Teilen dennoch, weil Hoff – erstens – einige Bonmots seiner Partei-Kollegen wiedergibt. Er zitiert etwa seinen innerparteilichen Kontrahenten Fabio de Masi, der die aktuelle Linkspartei als »eine Mogadischu-Linke, in der unterschiedliche Stammesführer nur noch die eigene schmale Anhängerschaft bedienen«, definierte.
Bei aller ideologischen Gegnerschaft muß man – zweitens – anerkennen, daß Hoff die Lage seiner Partei schonungslos analysiert und das derzeitige Scheitern einräumt, ohne es, wie man es andernorts mit übertriebener Vehemenz kennt, ausnahmslos externen Kräften anzulasten:
Die Verantwortung dafür liegt ausschließlich bei uns selbst. Gestolpert sind wir über die Beine, die wir uns seit Jahren gegenseitig stellen.
Die Anrufung der »Toten Hosen«, die offen ausgelebte Selbstkritik, die Affirmation des Miteinander-Redens, das Hinzuziehen externer Experten, um Sexismus-»Skandale« einzudämmen und einen innerparteilichen Verhaltenskodex zu implementieren – das alles wird der Linkspartei in ihrem existenziellen Krisenjahr 2022 nicht nützen.
Das ostentative Scheitern dieser Partei-Linken, die sich insbesondere deshalb selbst überflüssig machte, indem sie zu einer Kopie der erfolgreicheren postmodernen Linken, der Grünen, wurde, ohne freilich an deren Wahlergebnisse heranzureichen, kann aber dem patriotischen Lager nützen.
Jedenfalls dann, wenn dieses Lager mindestens zwei notwendige Lehren aus dem Niedergang der Linkspartei zieht:
I. Zu betonen, daß man so und so viele Schnittmengen mit Konkurrenzparteien besitzt (»Wir vertreten doch dieses und jenes, was der andere da und dort auch so sagte usf.«), führt nicht dazu, daß man die eigenen Stimmenzahl maximiert, sondern daß sich der einzelne Wähler eine Konkurrenzpartei mit mehr Aussichten auf koalitionären Erfolg auswählt.
Bei Linkswählern sind das dann Grüne oder SPD, bei AfD-Wählern CDU/CSU und FDP (während sich andere Wähler wiederum ganz abwenden, weil sie bei so viel angeblicher Kongruenz von Positionen und einem Altparteien-artigem Jargon des Immergleichen das grundsätzlich Alternative vermissen).
II. Von Bundesparteitag zu Bundesparteitag immer wieder derselben Personengruppe eine Mehrheit zu verschaffen, während nur einzelne Köpfe an der Spitze – symbolisch und zur Beruhigung der jeweiligen Basis – ausgetauscht werden, greift zu kurz.
Ein Hoff, der auf Hennig-Wellsow folgt, stellt ebenso wie ein Post-Meuthenianer, der auf Meuthen folgt, keinerlei Kurskorrektur dar. Es wäre dies die Kontinuität des Falschen in der Verkleidung einer Erneuerung. Diese weitere Verzögerung einer grundsätzlichen Verbesserung der Parteispitze kann sich die AfD aber nicht leisten.
Im von Hoff aufgerufenen Toten-Hosen-»Klassiker« heißt es an einer Stelle: »Steh auf, es wird schon irgendwie weitergehn.« Ja, das geht es natürlich »irgendwie«, weiterwursteln kann man durchaus immer.
Wer sich aber mit derartiger Mittelmaß-Attitüde nicht zufrieden geben mag, muß die tatsächliche Verbesserung herbeiführen. Und dafür müßten – bei der Linkspartei wie bei der AfD – die Verhältnisse im höchsten Parteigremium vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
Bei der Linkspartei ist diese Vorstellung illusorisch. Ihre selbstgeschaffenen Probleme können nicht durch die Verantwortlichen für diese Probleme gelöst werden.
Bei der AfD werden demgegenüber erst die kommenden Wochen zeigen, ob ein entsprechendes Potential zur Überwindung vieler – ebenso selbstgeschaffener – Probleme in ihr steckt.
brueckenbauer
Beim BVerfG frage ich mich: Sind das Richter, die zum alten liberalen BVerfG urück wollen? Oder sind das die modernen Richter, die der Linken entgegenkommen wollen - aus Dummheit aber gar nicht merken, dass ihre Regeln auch für Rechte gelten? Oder wird das demnächst durch eine Generalklausel "geheilt", die uns Rechte generell von den allgemeinen Regeln ausnimmt?
Es käme schon darauf an, zu wissen, wer die Richter waren.