Das alles zwar oftmals aus gutem Grund, aber ebenso häufig mit falschen Mitteln und in einem falschen Ton.
Relativierer mahnen zur Umsicht, zur Ruhe, zur Vielschichtigkeit der Analyse: »Die politische Welt geht nicht auf«, »Man darf nicht schwarz-weiß malen« oder auch »Die Lage ist komplex« sind jüngere Klassiker der aktuellen parteipolitischen Diskussion – aber diesmal sind sie unangebracht.
Denn aktuell ist die Sache gar nicht so kompliziert, wie man es oftmals meinen will. Aktuell sieht es so aus: Die AfD steht, nach Angaben von Wahlkreisprognose.de, in Westdeutschland durchschnittlich bei 6,5 Prozent. Im Osten lautet die Zahl 20 Prozent.
Das blaue Herz schlägt in Thüringen und Sachsen, wo man stärkste bzw. knapp zweitstärkste Kraft im jeweiligen Freistaat ist. Das blaue Herz schlägt nicht in Schleswig-Holstein, wo sich drei Parteiblöcke gegenseitig bekämpften und der stärkste Block, jener der »Post-Meuthenianer« (= Meuthen-Gefolgsleute in Habitus und Programmatik, denen ihr Chef von Bord ging), mit 4,4 Prozent eine absehbare Bauchlandung hinlegte.
Der Austritt eines MdB, der über die Liste Ihres Verbandes in den Bundestag einzog und dort nun Bezüge und Mitarbeiterposten blockiert, die für Ihre Partei verloren gehen, Herr Nobis, ist keine Privatangelegenheit. (Dass Ihr LV bald die letzten Mandate verliert, ist konsequent.)
— Benedikt Kaiser (@benedikt_kaiser) December 31, 2021
Es ist ganz naheliegend, daß man – Einwohnerzahlen hin und her – für den kommenden AfD-Bundesparteitag in vier Wochen ein so lapidares wie gewichtiges »Mehr Osten wagen« formulieren kann.
Die Wahlerfolge bestätigen es, Umfragen bestätigen es, die Angst der politischen Gegner (von Kommunisten und Gewerkschaften bis zur Union und der bürgerlichen »Zivilgesellschaft«) vor dieser Entwicklung bestätigt es.
Und was macht die AfD in Schleswig-Holstein? Sie gratuliert der CDU recht herzlich zum Wahlerfolg, der unter anderem gewiß an Landesbesonderheiten wie einem überaus beliebten CDU-Ministerpräsidenten lag – gewiß aber nicht an der Stellung der (Ost-)AfD zum Ukraine-Konflikt, wie der blasse Jörg Nobis, endgültig gescheiterter Landespolitiker aus dem hohen Norden – freilich ohne Belege dafür vorzuweisen – spekulierte:
Nein, Herr Nobis, einfach Nein. #AfD #ltwsh22 https://t.co/AyXivHetwq pic.twitter.com/EMHpa7C82X
— Benedikt Kaiser (@benedikt_kaiser) May 8, 2022
Es mag ein Bündel von Gründen gegeben haben, wieso die AfD in Schleswig-Holstein aus dem Landtag gewählt wurde. Manche kann man nicht selbst beeinflussen. Andere sind selbst geschaffenes Leid. Einer der wichtigsten Gründe zweitgenannter Natur scheint mir jener zu sein, wonach die Unterscheidbarkeit verloren geht.
Wenn man seinen eigenen Wählern weismachen will, daß die eigenen Unterschiede zu CDU und FDP, zu einer ominösen »bürgerlichen Mitte«, nur marginal seien – der verprellt alle.
Die einen wandern direkt zu den bürgerlichen Originalen mit mehr Aussichten auf koalitionären Erfolg und weniger angebräuntem Ruf – und die anderen enthalten sich, sehen sie doch in einer Möchtegern-»CDU von 1990 (oder 1980, oder 1970 …)« bestenfalls eine Ergänzung des Altparteienspektrums, keineswegs jedoch eine Alternative zu selbigem.
Die Folge ist durchaus in schwarz-weiß zu zeichnen: Man verliert an die »Mitte« und an die Nichtwähler, kommt in der Konsequenz nicht einmal über die Fünfprozenthürde.
Das alles vollzieht sich vor dem Hintergrund einer Rückkehr sozialer Fragen mit aller Härte.
Die #SozialeFrage kehrt mit aller Härte zurück. Die Energiekrise, Corona, unfähige Politiker und der sich ausweitende Krieg setzen unserem Land zu.
Wie müssen wir Patrioten reagieren? Darüber haben wir mit dem MdB @Rene_Springer gesprochen.
Zur Folge:https://t.co/fGjsw65Cru pic.twitter.com/crZP9VZYOi
— einprozent.de (@ein_prozent) May 8, 2022
Wenn man vor diesem Hintergrund der Bedeutungszunahme sozialer Fragen (vom Kaufkraftverlust bis zu steigenden Benzin- und Dieselpreisen) fordert »Mehr Osten wagen«, dann heißt dies nicht, den Kurs der Thüringer oder Brandenburger Landesverbände eins zu eins auf Westverhältnisse übertragen zu wollen. Das würde aufgrund regionaler Unterschiede, historischer Besonderheiten und personeller Kapazitäten selbstverständlich nicht funktionieren.
»Mehr Osten wagen« heißt aber sehr wohl, daß man die Grundzüge des Alternativen, wie sie in Ostdeutschland gelebt werden, so weit wie möglich an die (in sich wieder vielfältigen) westdeutschen Verhältnisse anpaßt.
Klarer Kurs und bürgernahe Standpunkte, Unterscheidbarkeit zu allen Altparteien (nicht nur zu Grünen und SPD) und Akzentuierung von Alleinstellungsmerkmalen, ein alltägliches »Ins Volke gehen« statt dem glanzlosen Tod ob der tausendsten »herausragenden« kleinen Anfrage im Parlament zu sterben – »der Westen« kann sehr wohl von »dem Osten« lernen, was es heißt, eine Alternative für Deutschland zu sein.
In Teilen Nordrhein-Westfalens hat man dies erkannt, was die Presse aufmerksam registriert. In der Wochenzeitung Die Zeit (v. 10.5.2022) wird beispielsweise konstatiert, daß »soziale Themen« im Wahlkampf bemüht würden.
Tilman Steffen führt aus:
Arschleder, Hammer, Grubenhelm – in NRW sind die letzten Tage vor der Landtagswahl am 15. Mai angebrochen und im Ruhrgebiet will die AfD ganz nah bei den Arbeitern sein, um den Wiedereinzug ins Landesparlament zu sichern. Noch sitzen 13 Abgeordnete dort, aber zuletzt ging es bei Wahlen für die AfD vor allem bergab: in Rheinland-Pfalz, in Baden-Württemberg, im Saarland. In Schleswig-Holstein flog sie am Sonntag sogar aus dem Parlament – ein Novum in der Parteigeschichte.
Ein Novum, das sich nicht wiederholen sollte zwischen Siegen und Münster, Köln und Dortmund. Deshalb kämpfen Guido Reil (MdEP) und seine Parteifreunde um die Gunst jener Kernwählerschaft, die in Schleswig-Holstein kaum adressiert wurde und daher folgerichtig von Bord ging. Im Ruhrpott heißt es daher immer häufiger: Sozialpatriotismus statt FDP 2.0.
Steffen ordnet ein:
Zumindest im Osten der Republik verfängt der Sozialkurs durchaus, vor allem in Chrupallas Heimat Sachsen ist die AfD bei Wahlen stärker als die CDU, dort sind mehr als 40 Prozent der AfD-Wähler Arbeiter. Mittelschichtsangehörige mit Abstiegsangst setzen dort genauso ihr Kreuz bei der AfD wie prekär Beschäftigte und Geringverdiener,
wobei ich mich immer wieder frage, ob sich gewisse Strömungen der AfD in Westdeutschland für diese Kernwählerschaft, die empirisch betrachtet auch die ihre ist, schämt, so selten wie sie argumentativ und bezüglich einer professionalisierten Zielgruppenansprache in den Fokus genommen wird.
Das immerhin von einer absoluter Mehrheit der Delegierten getragene Sozialprogramm vom Bundesparteitag in Kalkar – in vielen Gegenden Westdeutschlands findet es nach wie vor nicht statt; dort scheint man nicht nur mit den vorsichtigen sozialpatriotischen Positionen, auf die man sich einigen konnte, zu fremdeln, sondern offensichtlich mit ihnen zu brechen.
Umfragen zufolge kommen bundesweit 16 bis 21 Prozent der AfD-Wählenden aus dem Arbeitermilieu, Tendenz allerdings fallend,
was naheliegend ist, wenn einige dieser Arbeiter – vom gut verdienenden Facharbeiter bis zum Leih- oder Zeitarbeiter – merken, daß in der AfD, der sie ihre Stimmen so manches mal faute de mieux gaben, mancherorts nicht für ihre Interessen gekämpft, sondern gegen diese gehandelt wird.
Es ist daher nur eine Frage der Zeit, wie lange es noch, wie in der Zeit, heißt:
In den Gewerkschaften gibt es (…) mehr AfD-Klientel als anderswo.
Die IG Metall mußte zudem zähneknirschend resümieren:
Gewerkschaftsmitglieder neigen leicht überdurchschnittlich zu rechtem Denken und Wahlverhalten (…) Analysen zu Landtags- und Bundestagswahlen kommen immer wieder zum Ergebnis, dass Gewerkschafter/innen überdurchschnittlich oft die AfD wählen.
Aber nicht nur Mitglieder der Gewerkschaften haben bisher überdurchschnittlich für die AfD gestimmt. Auch
ein Teil der Funktionäre in der IG Metall sei empfänglich für Positionen und Überzeugungen der AfD, bilanziert die IG Metall.
Das Paradoxe daran nennt Steffen sogleich:
Diese Gewerkschaftler stimmen also für die neoliberal orientierte AfD. Ihre Arbeitnehmerrechte aber verteidigen sie dagegen lieber bei ver.di oder der IG Metall.
So etwas kann und wird nicht lange gut gehen.
Schleswig-Holstein war nur ein erstes Steinchen, das aus der blauen Mauer herausbricht, wenn die Maximen von Kalkar – »Die AfD bekennt sich zum Sozialstaat, der sozialen Marktwirtschaft und zur Solidarität und gegenseitigen Hilfe innerhalb unseres Volkes« – nicht endlich auch flächendeckend in Westdeutschland mit Leben, Programmpunkten und Überzeugungen gefüllt werden.
Marine Le Pens Wahlkampf in Frankreich hat, sowohl allen Unkenrufen als auch den zum Teil berechtigten Kritikpunkten zum Trotze, gezeigt, wie ein Wahlkampf in einer materialistisch geprägten Gesellschaft aussehen muß, ob man das goutiert oder nicht: konkrete Probleme konkret benennend, sich nicht in rechter Identitätspolitik verlierend (das reicht selbst im nationalstolzen Frankreich nur für 7 Prozent, vgl. Zemmour, ist also für die nationalvergessene Bundesrepublik eher untauglich), sozial und volksnah zugleich auftretend und überall dort, wo möglich, den Kontakt mit dem Bürger suchend usw.
Ein bloßes »Dagegen« (»Merkel muß weg!«) oder ein schlechter Abklatsch einer verblichenen »CDU mit Eiern« hat derweil in Deutschland vielleicht für eine gewisse Protestkultur gesorgt, die man bespielen konnte, um sich in den Frühphasen der AfD im Parlamentspolitischen einzurichten und erste Bastionen zu errichten – längst wird dieser Faktor aber schwächer und schwächer. Für die Zukunft ist er kein stabiler Anker.
Die AfD muß, wie jüngst der Dresdner Oberbürgermeisterkandidat Maximilian Krah (MdEP) postulierte, das Positive herausstellen, einen eigenen Markenkern erarbeiten, folglich ein alternatives Programm vorlegen, das unmißverständlich klar macht, weshalb es sich (weiterhin) lohnt, AfD zu wählen.
Viele Wähler, nicht nur in Schleswig-Holstein, wissen es offenbar nicht mehr; sie sehen schon jetzt die AfD als jüngste Altpartei oder als bloßes Wannabe-Korrektiv an. Das reicht nicht mehr aus, um diese Partei zu unterstützen.
»Mehr Osten wagen« heißt folglich nicht zuletzt, sich diesem Trend der freiwilligen Domestizierung und Selbstverzwergung zu verweigern und den Vertretern dieses Kurses auf dem Bundesparteitag die rote Karte zu zeigen.
Die #AfD muss von der Partei des Nein zu einem des Ja werden: Identität, Ordnung, Solidarität. Das Konzept der Protestpartei hat uns in alle Landtage, den Bundestag und das EP gebracht, wird uns dort aber nicht halten. Das sollte nach der #ltwsh klar sein. https://t.co/D9EQsKKNTd
— Dr. Maximilian Krah MdEP (@KrahMax) May 9, 2022
brueckenbauer
"Neoliberal" heißt aber doch zunächst einmal: Arbeiterorganisationen erlauben und ihnen autonome Tarifverhandlungen ermöglichen.
Das war der Konsens nach 1945. Die IG Metall hat das evtl. vergessen. Sollten wir es auch vergessen?
Das ganze Geraunze gegen "Liberalismus" und "Neoliberalismus" ist mir einfach zu unpräzise. Ich verstehe, dass man einen klaren Gegner - und für den Gegner einen klaren Namen - braucht, die Gegenseite macht es ja auch nicht anders. Aber da geht mir doch zuviel an Inhalt verloren.