Etwa ein Fünftel aller Schüler versagt in den wichtigsten Anforderungen. Sie werden häufig ihre Ausbildung abbrechen und im Leben wie Beruf mit Herausforderungen, vor allem aber mit sich selbst erhebliche Probleme haben. Mittlerweile also eine kulturelle Konstante: Zwanzig Prozent potentielle Förderfälle für Maßnahmekarrieren in Verantwortung der Ämter und nach Sozialgesetzbüchern. Die meisten davon übrigens männlich.
Die „Bildungsforschung“ stellt die desaströsen Werte jedes Mal aufs neue konsterniert fest, empfiehlt dann nach so heftiger wie kurzer Aufregung fatalerweise aber genau jene Methoden, die mitten in das Desaster hineinführten, oder sieht das Unvermögen als primär sozial verursacht an.
Eher noch könnte man darüber nachsinnen, ob nicht Benachteiligte – mit „Handicap“ – oder Antriebsschwache relativ sogar bessere Chancen haben als Talentierte und Engagierte, gehört jenen doch die ganze Aufmerksamkeit der Schule, während diese für sich selbst sorgen müssen.
Die neuerlich im nationalen Bildungsbericht im IQB-Bildungstrend und im Schulbarometer der Robert-Bosch-Stiftung festgestellte Bildungsmisere ist zwar system‑, soll aber als pandemiebedingt dargestellt werden. Genau damit versucht sich das System selbst über sein jahrzehntelanges Versagen hinwegzutrösten. Erfordert wäre, endlich den Blinden Fleck zu bezeichnen, der nicht erkennen läßt, was ganz substantiell und wesentlich nicht stimmt:
Schule und Bildung sind Projektionsflächen sozialpolitischer Wunschvorstellungen der Berliner Republik. Sie sollen juristisch garantieren, was sie inhaltlich nicht mehr erarbeiten können.
Die derzeitige Bildungsbürokratie, allein ideologischen Vorgaben folgend, wird nicht in der Lage sein, kritische Distanz zur selbstverursachten Fehlentwicklung einnehmen zu können. Reformen, die prinzipielle Verbesserungen erwarten lassen, sind daher undenkbar; es wird bei ungelenken politischen Kampagnen und den üblichen Phrasen bleiben.
Ganz abgesehen davon, daß ein Bildungssystem zunächst mal sein Menschenbild und damit seinen genauen Begriff von Bildung klären bzw. revidieren müßte, hier jenseits bereits beschriebener Ursachen nur ein Aspekt, weil sich daran eine ganz augenfällige kulturelle Veränderung bemerken läßt:
Heranwachsenden gelingt es immer weniger, a) sich für Unterrichtsarbeit zu motivieren, b) sich darauf zu konzentrieren oder zu fokussieren und c) dabei Ausdauer zu entwickeln.
Lehrern fällt es daher immer schwerer, überhaupt einen kommunikativen Zustand herzustellen, mit dem ein wirksamer pädagogischer Prozeß beginnen könnte. Offenbar wird bereits früh zu wenig eingeübt, daß möglichst nur einer spricht, und zwar zunächst derjenige, der etwas zu sagen hat, beispielsweise die Mutter oder eben die Lehrerin.
Es wird vielfach zum Gegenteil erzogen: Du bist wichtig, äußere deine Bedürfnisse, teile dringlich mit, was du jetzt brauchst. Auf diese Weise wird Impulskontrolle gerade nicht erlernt.
Als Mentor im Internat begegneten mir vielfach neu ankommende Fünftkläßler, die es von ihren Elternhäusern her überhaupt nicht gewohnt waren, daß jemand ihr hektisch-hilfloses Geplapper überhaupt unterbrach:
„Halt, Junge. Du bist jetzt nicht dran. Bitte höre mir aufmerksam zu. Bin ich fertig, frage ich dich. So herum, nicht anders.“
Dergleichen hatten sie noch nie gehört. Sie sahen erstaunt zu mir auf. Ich tröstete: „Warte ab. So läuft es besser. Erst bin ich dran, dann höre ich dir zu.“ Wir übten das so ruhig wie konsequent ein. Die Kleinen machten die Erfahrungen, daß ihnen das Sicherheit gibt.
Der Mentor stellt klar, was er wahrnimmt und daraufhin vorhat, er setzt die Regeln, aber er hört gleichfalls sehr aufmerksam zu und steht in voller Verantwortung. Verspricht er etwas, hält er es; Verbindlichkeit ist das Wichtigste, für ein Kind wie überhaupt. Nur dirigiert der Mentor den Ablauf. Er ist nun mal der Boss. Das ist er, weil er die Übersicht hat und als Erwachsener die Mittel, jedem Kind verläßlich helfen zu können.
Mit 24 Kindern auf dem Internatsflur ging’s nicht anders. Das hat nichts mit „Yes, Sir!“-Pädagogik zu tun, wenn Erziehung von Einfühlungsvermögen geleitet ist. Sich einfühlen zu können heißt jedoch nicht, jedem Bedürfnis reflexartig zu entsprechen. Wichtiger ist‘s, Kinder helfend zu begleiten, ihre Angelegenheiten bald weitgehend selbst zu regeln – in Wahrnehmung ihres Teils der Verantwortung.
Ist eingangs nicht klar, wer spricht und wer dann zuhört, quatscht einfach jeder rein. Das wird in Klassen mit 30 Schülern zum Problem. Daher die massive Unruhe und die damit verbundene zappelnde Nervosität vieler, die Kollegen wie ruhigere Kinder am Reizfeld Schule so irre werden läßt.
Während ich in den Neunzigern mit Schülern noch kraftvolle Auseinandersetzungen zu führen hatte, es also durchaus um die Durchsetzung von Disziplin ging und diesbezüglich Sträuße auszufechten waren, fehlte den Jungen in den Nuller- und Zehnerjahren dazu bereits der Mumm. Vitale Renitenz schwand. Vielmehr fiel es schwer, die flachen Leidenschaftsamplituden zu verstärken, also Schüler selbst für interessante Angebote überhaupt zu mobilisieren und sie dann bei der Stange zu halten. Sie schienen zunehmend, nun ja, amorph und der Entropie hilflos ausgesetzt. Wiederum erwiesen sich die Mädchen als vergleichsweise energischer; eher die Jungen verloren an Form. Immer mit Ausnahmen, klar, aber die Ausnahmen stachen deutlicher heraus.
Auch deswegen galt bald jeder, der überhaupt in Gang kam, der sich interessierte und etwas leistete, als immens begabt. Und wir lobten solche Kinder, bis es denen schon peinlich war, weil sie nicht als uncool gelten wollten. Cool war man, wenn man durchchillte.
Aber selbst die ansonsten Sedierten wähnten sich mit ihren augenblicklichen Bedürfnissen vordringlich wichtig und waren oft genug mit einer Affektiertheit unterwegs, als hätten sie eine Rundumleuchte auf dem Kopf. Jeder will sofort gehört und in seinen Bedürfnissen sogleich bedient werden – selbstverständlich vor allen anderen. Ich, ich, ich ich! Das Phänomen des kindlichen Narzißmus wird im Feuilleton gerade vielfach beschrieben. Keinen Impus zurückstellen zu können erhöht in Summe enorm den Geräuschpegel an Schulen. Es stellt sich eine hektische Konkurrenz um Aufmerksamkeit ein.
Junge Kollegen wollen dann „demokratisch“ irgendwelche „Gesprächsregeln“ aushandeln, die trotz der dann geschlossenen „Vereinbarung“ nicht funktionieren, selbst wenn sie auf einem bunten Poster vorn angepinnt werden.
Solche Regeln müssen eingangs nicht ausgehandelt, sondern gesetzt werden. Eine Aussprache, die bei Kindern eine Vernunft voraussetzt, die so kaum Erwachsenen zukommt, führt unweigerlich ins Chaos. Schon dabei möchte jeder der Allerwichtigste sein, um sich dann häufig nicht an die eigenen Vorschläge zu halten.
Erst wenn die gesetzten Regeln akzeptiert und eingeübt sind, kann sogar eine freie Aussprache funktionieren. Alles bedarf der Übung, sogar die Art und Weise, in der man seine Ängste, Nöte und Wünsche klar formulieren kann.
Verhaltensauffällige Kinder, die neuerdings verniedlichend als „verhaltensoriginell“ bezeichnet und entsprechend einer vielfach attestierten Pauschaldiagnose im Sinne eines „Förderschwerpunkts emotional-soziale Entwicklung“ geführt werden, gewinnen Sicherheit über eine Klarheit der Kommunikation, für deren Gewährleistung es an sich keiner außerordentlichen Strenge bedarf.
Natürliche Autorität reicht aus, ermöglicht Orientierung und sichert Verbindlichkeit. Nur vertrüge die moderne Pädagogik nicht mal diesen einfachen Satz, sondern verstünde ihn wegen der Begriffe Autorität und Orientierung (Gar noch Führung!) vermutlich als quasifaschistisch.
Zum anderen muß der Lehrer oder Erzieher in Ergebnis eigener persönlicher Reifung seine natürliche Autorität überhaupt erst ausgebildet haben. Autorität aber ist so verpönt, daß immer weniger darüber verfügen. Ohne Autorität auch kein Charisma. Und umgekehrt. Daher sind die sogenannten Erwachsenen mitunter so hilflos wie die Kinder. Oft werden sie von ihnen dirigiert, was letztlich wiederum die Kinder im Stich läßt.
Offenbar wurden Kinder noch nie vor einem so problematischen Hintergrund groß. Sie sind sehr früh von Medien vereinnahmt, die sie – im Wortsinne – in den Bann ziehen. Starke Reize, schnelle Reize, Reizsteigerung, Reizabwechslung – und das alles in forcierter Frequenz, also als Reizüberflutung.
Galt früher das Fernsehen als kulturgefährdend, dürfte es jetzt bereits als hohe kulturelle Anforderung gelten, überhaupt Spielfilme, selbst fragwürdigen Niveaus, in voller Länge anzusehen.
Sogar Facebook und Instagram wirken gegenüber Tik Tok bereits antiquiert. Denn bei Tik Tok ist ADHS selbst zum Programm geworden. Sekundenlange Filmchen, das meiste davon wertlos und flachwitzig, aber selbst bei Videos von fünfzehn oder sechzig Sekunden Länge erscheint häufig der Untertitel: „Bitte bis zum Ende schauen!“ Den meisten reißt schneller der Faden. Aber sie können endlos weiterzappen.
Digitale Geräte sind famose Werkzeuge. Sie avancieren jedoch zu Fetischen. Und ihre Handhabung, das Klicken und Weiterklicken und Wegklicken, die schnellen Wechsel, das Aufploppen von Fenstern, die bewegten Bilder, zudem die Möglichkeit, kurzfristig dort aus- und da wieder einzusteigen, immerfort also unterbrechen zu können und hin und her zu switchen, etwas flott hinschreiben, es aber ebenso schnell versenken zu können, diese Spezifika also verstärken die innere Unruhe des kindlichen Nutzers. Ruhige Stetigkeit kann über Digitalgeräte kaum vermittelt werden, erst recht nicht, wenn neben dem Laptop, Tablet oder PC noch das Smartphone liegt und seinerseits permanent Signale gibt.
Schulunterricht hatte in den Neunzigern wohl Mühe, mit RTL II zu konkurrieren, aber gegenüber vielen Apps und Spielen hat er von vornherein verloren.
Wenn er sich nicht selbst als das heilsame Gegenprogramm zu all dem netzgestützten Mißbrauch neu zu etablieren versteht. Anstatt sich einem für kindlich und jugendlich gehaltenen Geschmack würdelos anzubiedern und damit sogar Tik Tok toppen zu wollen, sollte die Schule in antizyklischer Weise darauf setzen, echte Erfahrungen erlebbar zu machen, die durchaus heilsam sind:
Sicherung ruhiger Abläufe jenseits der Dauernervosität, Wahrnehmungen zu Vertiefung und sogar Verinnerlichung, Ausbildung von Ausdauer, Befähigung zur Gründlichkeit, zur Impulskontrolle und endlich, endlich zu einer Selbstregulation, die Kindern – zu deren eigener Frustration – häufig fehlt, ihnen aber später den Spielraum von Freiheit ermöglicht, die im Vermögen liegt, zu sich selbst und andrängenden Impulsen auf Distanz zu gehen.
Daß vermeintlich moderne Grundschulpädagogik als erstes auf die Pflege der gebundenen Handschrift verzichtete, erscheint symptomatisch, war doch das Schreibenlernen über Jahrhunderte eine Art Einweihungsakt: Das Kind übte Grapheme seiner Muttersprache als Symbole des Weltdenkens ein, mit denen es später sein Erleben, Empfinden und Denken abbilden und ihm so Dauer verleihen konnte. Die eigene Schrift wies einen aus.
Die eigenen Gedanken gingen durch die eigene urvertraute Hand, die in individueller Weise die Feder führte. Was für ein konzentrierter und kontemplativer Akt, diese Federführung, die in Gestalt der Schrift zum Ausdruck der Persönlichkeit wurde, unverwechselbar wie das eigene Gesicht.
Diese Kulturtechnik wurde mit verschiedenen Begründungen verkrüppelt, ja, sie ist weitestgehend bereits verloren. Erst lernten Kinder die handgeschriebene Druckschrift vor der gebundenen Schreibschrift, so daß sie immer ungelenker schrieben; mittlerweile wird argumentiert, die Handschrift brauche in „Tablet-Klassen“ ohnehin niemand mehr. Auch ein Federhalter ist Technik, nur verändert der nicht Rhythmus und Eigenart.
Mitunter hatte ich den Eindruck, manche Kinder müßten im Leben überhaupt erstmalig zu einem ruhigen Atem finden, sie bräuchten etwas Hilfe bei der Rhythmisierung einfacher Abläufe. Früher spielten die Mädchen Gummi-Twist. Wir Jungen auf dem Pausenplatz hatten unsere Spiele; das harmonierte uns.
Kinder mit Aufmerksamkeitsdefiziten und hyperkinetischem Syndrom sind oft im Stich gelassene Kinder. Völlig atemlos von einem Streßfaktoren-Wirrsal, zu dem durchaus die Eltern zählen können, müssen sie gewissermaßen neu und tief Luft schöpfen, auf daß sich ihr seelischer Innenraum vertieft und etwas ordnet.
Erst dem Sensorium eindrückliche sinnliche Wahrnehmungen vermitteln, dann den Intellekt entwickeln.
Statt ADHS-Kinder und Hyperkinetiker mit Psychopharmaka zu sedieren oder ihnen über „Förderpläne“ und „Nachteilsausgleiche“ Boni zuzuschieben, bedarf es einer Art Selbstfindung, für die eine gesteigert stressige Schule immer weniger der geeignete Ort ist. Sie könnte und sollte es wieder werden. Institutionalisierte Bildung begann immerhin im Kloster …
Wenn die Schule aus zweifelhaften politischen Gründen nun unbedingt eine ganztägige Schule sein will, dann hat sie vor allem darauf zu achten, nicht ganztags ihre Schüler zu triggern. Was in den übervollen Klassen und Gruppen aber unweigerlich geschieht. Soll ganztags gewirkt werden, dann bedarf es der Kontemplation, des Sportes, der Werkstatt, der Musik und der Künste weit mehr als der bloßen „Betreuung“.
Die Waldorfpädagogik etwa weiß das, dank ihres anthroposophischen Hintergrundes. Sie ist allerdings um ihr tragfähiges Konzept herum lange und dicht gewachsen, bedarf also keiner hektischen Projektinszenierungen oder gar politischen Kampagnen. Im Gegenteil, sie hält sich raus, mit Bedacht; man kann dort noch heranwachsen wie Parzival. Dessen Mutter Herzeloyde zog ihn eigens fernab vom ritterlichen Leben in der Einsamkeit von Soltane auf.
Schule war mal der letzte Entwicklungsort des Menschen, der noch nicht ganz zur zweckgebundenen Welt der Erwachsenen gehörte. Sie überschlug sich nicht dabei, das zu kopieren, was die Kinder erwartete; sie wollte sie dafür eher stärken, im Bewußtsein, daß das, was noch früh genug auf Kinder zukommt, sehr dramatisch und meist tragisch wird.
Heute politisiert, digitalisiert, ökonomisiert sich Schule mehr denn je. Sie will nicht anders sein als die Welt der Erwachsenen, sie möchte noch besser, noch demokratischer, noch gerechter sein als die. Noch erwachsener also, mithin noch fragwürdiger. Und dabei hektischer als die Gesellschaft draußen, wo man sich besser absetzen kann als im engen Schulhaus. Aber sie, die Schule, versäumt dabei eines – ein Refugium zu bieten, einen Schutzraum, in dem ein Kind sich in Ruhe ausprobieren kann, bevor es erwachsen wird.
Es geht eben nicht zuerst um „Kompetenzen“; es geht um die Schulung der Sinne und des Verstandes im Einklang mit der Entwicklung anwendungsbereiter Befähigungen, die jeder nach seiner Art und seinem Maß lebenspraktisch und lebenstauglich erlernt. Um dabei herauszufinden, was zu ihm paßt – und was gar nicht zu ihm passen will. Ein Heranwachsender sollte in der Schule nebenher lernen können, wer er überhaupt ist. Erspürt er das, findet er auch zu seinen „Kompetenzen“, die allerdings nicht allesamt nützlich oder karriere- und konjunkturfördernd sein müssen.
Bei allen Frustrationen und Verletzungen, die Schule – als Menschenwerk – ihre Schüler stets ja erleiden ließ, erinnerten sich frühere Absolventen der Schulzeit doch eher gern, weil sie ihre Schule durchaus noch als eine Art Kloster, als einen Hort, als abseitige Soltane erlebt hatten, bevor all die Fährnisse und Wirrnisse des Lebens in der Welt begannen.
Schule stärkt gegenwärtig zu wenig; sie macht kirre, indem sie immer eiliger „innovativen“ Methoden hinterherrennt und in sich das verstärkt, was schon draußen die Menschen erschöpft und krank werden läßt.
AndreasausE
Zu den Kinderspielen: Zu meiner Grundschulzeit ermahnte Konrektor und zugleich mein Klassenlehrer "Panzerspiele auf dem Schulhof sind verboten!"
Mehr oder minder hielten wir uns daran, aber das Spiel wurde natürlich weitergespielt, nur anders genannt.
Worum ging es dabei? Man rammte sich dabei mit eingezogenen Armen aus dem Weg, im Grunde so Vorsportart für Karriere bei Rugby.
Weiß gar nicht, weshalb ich das für erwähnenswert halte, fiel mir eben so ein.