Je näher das Jahresende rückt, desto schärfer treten die Konturen hervor. Der Riß trennt „Systemgläubige“ von „Verschwörungstheoretikern“. Er verläuft zwischen denen, die davon ausgehen, daß es trotz Krisen und Kriegen im großen und ganzen politisch so weitergehen wird, und denen, die davon ausgehen, daß „das System“ am Ende ist.
Die Gläubigen und die Ungläubigen verhöhnen einander, sind wechselseitig voneinander bitter enttäuscht und reden längst nicht mehr über dasselbe. Was ist „das System“? Wie weit geht es, worauf beruht es, was passiert, wenn man in der Kategorie des „Systems“ denkt?
Hier ist es – quasi als Probierstein – interessant, in Manfred Kleine-Hartlages im vergangenen Jahr erschienenes Buch Die Systemfrage. Vom Scheitern der Republik und dem Tag danach zu schauen. Der Autor sieht im
Nationalstaat die oberste politische Ebene, die demokratischer Kontrolle gerade noch zugänglich ist. Die Verlagerung von Kompetenzen auf die supranationale Ebene ist daher zwangsläufig mit Demokratieabbau verbunden.
Er stellt die Systemfrage dergestalt, daß er sich fragt, wie nach dem erwartbaren Ende des Systems der BRD
am Tag danach der Umgang mit den Parteien, den staatlich finanzierten Medien, den Kirchen und der Zivilgesellschaft aussehen
müßte. Hier würde sich ein Abtrünniger entsetzt an den Kopf fassen. Nationalstaat? Demokratie? Parteien? Medien? Kirchen? Zivilgesellschaft? – alles Bausteine des Systems, von denen bald sowieso keiner mehr auf dem anderen liegen wird. Für ihn wäre Kleine-Hartlage eindeutig dem Lager der „Systemlinge“ zuzuordnen. Dessen Überlegungen zur Rettung der Demokratie und des Staates (vor Globalismus, ideologischen Sackgassen und totalitären Tendenzen) beruhen auf voraussetzungsreichen Annahmen, die der Systemabtrünnige nicht teilt.
Sie beruhen, und hier verlassen wir Kleine-Hartlages Buch und greifen ins grundsätzliche Fach, auf einer ebenso voraussetzungsreichen Unterscheidung von Wahrheit und Lüge.
Dem System als solchem kommt (meist irreversibel) abhanden, wer annimmt, daß dieses auf einer Lüge bzw. mehreren fundamentalen Großlügen beruhe. „Das System“ umfaßt, wenn man so herangeht, weit mehr als nur den Nationalstaat namens „Bundesrepublik Deutschland“ mit seinen Parteien, Bildungsinstitutionen, Medien, Sprachregelungen, Wirtschaftsstrukturen und seinem historischen Selbstverständnis. Es bringt aus dieser Sicht die aufgezählten manifesten Erscheinungsformen der Lüge nur hervor, ist also gewissermaßen das Prinzip der Lüge.
Wenn Marxisten früher „die Systemfrage“ stellen wollten, waren sie diagnostisch nahe dran an dem Problem, das derzeit auf dem Spiel steht und den beschriebenen Riß erzeugt. Sie nahmen an, daß der Kapitalismus als ökonomisch-ideologisches System überwunden werden müsse, damit man die durch ihn generierten Widersprüche überwinden könne – bleibe man innerhalb des Systems, sei die Überwindung der Widersprüche unmöglich. Dementsprechend radikal, fundamentalistisch, politisch-gnostizistisch formulierten Marxisten die Systemfrage.
Lassen Sie mich die charakteristische Enttäuschung eines Systemabtrünnigen beschreiben. Er las sich seit Jahr und Tag durch die Weiten des Netzes, dockte irgendwann bei der politischen Rechten an, weil er respektive in der Migrationsfrage Wortmeldungen vorfand, die ihm anzeigten: „Die haben es begriffen, die spielen das Spiel der Migrationsagenda nicht mit und analysieren genau, welche verlogenen Narrative dahinterstehen“.
Von da aus fand der Wahrheitssucher meistens (in Mit Linken leben hatten wir von „Clustern“ gesprochen) noch weitere Themenkomplexe, die ihn hellhörig werden ließen: Zeitgeschichte, Souveränität der BRD, Klima/Depopulation, Gender/Transhumanismus, Propaganda und Gehirnwäsche, Satanismus, schließlich „Corona“/Medizin. Diese Themenkomplexe erscheinen ihm als die Bausteinchen eines großen Lügenpuzzles, auf denen „das System“ fußt.
Und dann tritt folgendes ein: Leute, denen er vertraut, lassen hie und da durchblicken oder erklären gar geradeheraus, daß sie Teile des von ihm erkannten Lügenpuzzles für wahr halten, daß sie es absurd finden, an bestimmten Punkten oder überhaupt von „Lüge“ zu sprechen. Vielmehr käme es auf eine vernünftige Beurteilung komplexer Zusammenhänge an, vieles könnten wir (“Wir sind ja keine Virologen”) gar nicht abschließend beurteilen. Moderne soziale Systeme (wie Politik, Wirtschaft, Gesundheit usw.) seien nun einmal hochdifferenziert und ihre Probleme nicht mit der manichäischen Schablone „Wahrheit und Lüge“ zu lösen.
Nun sieht sich der Systemabtrünnige doppelt düpiert: Erstens erklärt man ihn für unvernünftig und – rasch sind auch bei rechten Zeitgenossen die Vokabeln griffbereit – einen „Schwurbler“ und „Verschwörungstheoretiker“. Zweitens stecken die ehedem Vertrauenswürdigen offensichtlich tief im Sumpf des Systems. Sie spielen es mit, verwenden seine Sprache („menschengemachter Klimawandel“, „Viruserkrankung“, „Transpersonen“ etc.), merken dies entweder selber nicht oder spielen sogar die Rolle von Torwächtern: mit gemäßigt kritischen, im System anschlußfähigen Antworten das Weiterfragen potentieller Systemabtrünniger zu unterbinden.
Wie reagiert er? Sein Mißtrauen in „das System“ wird noch größer, was völlig verständlich ist, da nun nicht nur Erkenntnisfragen (Wahrheit und Lüge), sondern auch moralische Fragen berührt sind (Wem kann ich noch vertrauen? Wer ist auf der Seite der Guten?), und ihm das System die Freunde zu nehmen droht, die er noch hat.
Wie in einem Vexierbild finde ich das korrespondierende Problem auf der anderen Seite des Risses: derjenige, der am „System“ (oft kann und mag er mit diesem Begriff gar nichts anfangen und würde eher von „Gesellschaft“ reden) zwar fundamentale Fehlentwicklungen erkennt, aber weder Demokratie, noch Staat, noch Politik in Bausch und Bogen verdammt, sieht sich in die Rolle des illusionsblinden Mitläufers mit mangelndem Durchblick oder des nützlichen Idioten („kontrollierte Opposition“) eingewickelt. Aus diesem Paket kommt er durch kluge Argumente, die bisher sein politisches Rüstzeug waren, nicht mehr heraus, weil der Systemabtrünnige noch jede seiner Rechtfertigungen als umso deutlicheres Zugeständnis an die Systemlügen zu deuten imstande ist.
Nun stehen sich die zwei feindlich gegenüber, dabei liegen sie objektiv von ihren politischen Einstellungen her nahe beieinander. Beide saugen ihr Manna aus erkenntnistheoretischer Überlegenheit: gegenüber dem „im vernünftigen Diskurs nicht mehr anschlußfähigen irrationalen Schwarzweißdenker mit seinem alle Differenzierung killenden ‚System‘“ beziehungsweise spiegelbildlich gegenüber „dem treudoofen Staatsgläubigen, der lauter leckere Lügenhäppchen schluckt, weil er sich nicht einfach vorstellen kann, daß wir absichtlich in einer Matrix gehalten werden, und vom System profitiert“.
Machen wir die Probe aufs Exempel und nehmen an, daß einer der beiden bald von der Realität Lügen gestraft werden wird.
Die politischen und wirtschaftlichen Zeichen stehen auf Sturm (manch ein Abtrünniger spricht sogar von einem spirituellen „perfekten Sturm“, in dem alles auf einen Kulminationspunkt zusteuert), und entweder knallt das System noch in diesem Herbst und Winter an die Wand – dann braucht sich auch die Oppositionspartei keine Gedanken über den Verfassungsschutz mehr zu machen, wird die Geschlechterfrage unter den Hungernden und Frierenden nicht mehr der Erwähnung wert sein und Frau Baerbock muß sich auch nicht mehr vor „Volksaufständen“ fürchten, denn der neue Hegemon braucht diese kaum, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems steht und fällt „das System“.
Oder aber es passiert wie in den letzten dreißig Jahren vergeblichen Wartens auf den „Tag X“ einfach gar nichts, jedenfalls nichts, das die „Systemfrage“ berührt. Mit „Verwerfungen“ (Yasha Mounk) aller Art kommt das System erwiesenermaßen zurecht. Allenfalls etabliert sich langsam und keinesfalls disruptiv die „Neue Weltordnung“. Der große Neustart kommt nicht mit großer Geste und Gewalt, sondern ergibt sich wie von selbst aus allerlei bereits vorgebahnten Alternativlosigkeiten, getreu der auf viele Großstadtmauern gesprühten Devise „System Change not Climate Change“. Einigen politischen Akteuren kommt freilich selbst dieses Szenario so vor, als entstamme es dem handlungslähmenden Giftkasten der „Verschwörungstheoretiker“, setzen sie doch gerade auf den „heißen Herbst“ der Volksaufstände und kippenden Mehrheiten.
Das Verhältnis zwischen politischen Oppositionellen und post-politischen Systemabtrünnigen ist im Moment kaum anders denn als tragisch zu bezeichnen. Sie kommen nicht zueinander und nicht voneinander los. Ob die äußeren Entwicklungen die Spannung lösen werden, steht dahin. Eher ist meines Erachtens zu erwarten, daß der Riß noch tiefer wird. Vergehende Zeit heilt alle Wunden, aber verdichtete Zeit reißt sie.
Die Gestalt dieser Tragik habe ich unlängst in einem Aphorismus kondensiert gefunden, den Louis-Ferdinand Céline in seiner Schrift über den Arzt Ignaz Philipp Semmelweis formuliert hat:
Keine andere Phantasie ist gestattet, als die, welche sich auf den imaginären Granit des gesunden Menschenverstandes stützt. Zu weit von dieser Konvention gibt es keine Vernunft und keinen Geist mehr, der dich verstehen kann.
Ob man diesen Satz mit Betonung auf „imaginär“ und „Konvention“ liest, oder mit Betonung auf „gesunder Menschenverstand“ und „Vernunft“, markiert, wes Geistes Kind man in der hier von mir aufgerissenen Frage ist.
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Caroline Sommerfeld: Versuch über den Riß, 2. Auflage, 10 € – hier bestellen.
Manfred Kleine-Hartlage: Systemfrage. Vom Scheitern der Republik und dem Tag danach, 2. Auflage, 18 € – hier bestellen.
Laurenz
@CS (1)
Ihr Artikel, wie der Bezug auf Kleine-Hartlages Buch, befleißigt sich einiger Ungenauigkeiten der Definition, die bei diesem Thema (in meinen Augen) schon eine Rolle spielen.
Er stellt die Systemfrage dergestalt, daß er sich fragt, wie nach dem erwartbaren Ende des Systems der BRD.
Das System BRD ist doch schon weitestgehend beendet. Im einzigen Segment, wo keine Internationalisierung stattgefunden hatte, dem Energiesektor, zeigt sich jetzt ganz deutlich, daß sich alle anderen im Zweifelsfalle für den Nationalstaat entschieden haben. Obwohl wir quasi selbst nicht genug Gas haben, liefern wir welches an Frankreich, Spanien & Marokko, weil unsere NomenKlatura der Meinung ist, wir müßten die Fallenden stabilisieren. Dieses Helfersyndrom betrifft ja nicht nur die genannten 3 Staaten. Wir geben zB Indien 10 Milliarden um dessen Klimaziele zu unterstützen. Damit mögen zwar Aufträge an deutsche Unternehmen verbunden sein, aber da können wir das Geld diesen Unternehmen auch gleich so schenken (Subvention). Mancher in der Sozialdemokratie mag verstanden haben, daß wir das viele, für irgendeinen Scheiß projektierte Geld lieber in unsere Armee stecken sollten. Aber, wie sagt man im Kapitalmarkt, never catch a falling knife.