Der Text entstammt dem einschlägigen Wikipediaartikel. Die alte Definition aus dem Wörterbuch der Soziologie (Hartfiel/Hillmann 1972³) sollte in der Gegenwart der Standard sein, an die akut grassierende Verwendung des Begriffs zu messen ist. Es läßt sich beobachten, daß der in Frage stehende Begriff in diesen Wochen exakt so verwendet wird: politische Autoritäten fahren alle medialen Geschütze auf gegen die „wirre Welt der Verschwörungstheoretiker“.
Der Begriff ist deswegen besonders hinterlistig, weil das Ablenkungsmanöver selber nur unter Rückgriff auf das, was der Begriff eben inkriminiert, beschreibbar ist. Wer also glaubt, die politischen Eliten rubrizierten Kritik an ihrem weltweit abgestimmten „Corona-Management“ als „Verschwörungstheorie“, bedient sich innerhalb des Deutungsrahmens dieses Begriffs natürlich selber einer „Verschwörungstheorie“.
Wenn wir den Begriff weiterhin so verwenden wie im Lexikonartikel, ist nichts dagegen einzuwenden: „Verschwörungstheorien“ sind eine Sündenbocksuche der Eliten (hier in der direkten Projektionsversion: “Die Verschwörungstheorie sucht einen Sündenbock” – Michael Butter). Man sollte sich jedoch auf keinen Fall auf die Ebene der Solidarität mit oder der Distanzierung von den „Verschwörungstheoretikern“ da draußen auf den Straßendemonstrationen oder in den alternativen Medien begeben, weil man damit diesen herrschaftsstabilisierenden Begriff akzeptiert.
„Verschwörungstheorie“ ist das neue „rechts“, und dies nicht nur, weil das „neue Normal“ (dieses Unwort ist die Fußvolkvokabel für das, was Kritiker seit langem die „NWO“ nennen) einen Sündenbock braucht, sondern auch in der inneren Struktur jener Gedanken. Martin Sellner hat einige dieser heterogenen Spielarten der Herrschaftskritik aufgezählt, die beim einzelnen Vertreter meist cluster-förmig angeordnet vorliegen.
Kein Mensch kennt oder teilt alle diese Ideenkonglomerate. Wie Lichtmesz und ich in Mit Linken leben gesagt haben, vertritt jemand, der sich als „rechts“ versteht oder entsprechend eingeordnet wird, meist mehrere rechte Einzelthesen oder ‑theorien (zum Beispiel wird, wer „Gender“ als ein Problem betrachtet, oft auch „Klima“ oder „Migration“ ähnlich kritisch sehen), aber – oft aus schierer Unkenntnis des gegenständlichen Themas – niemals alle.
Gegenwärtig ist jemand womöglich zugleich Impfskeptiker, BRD-GmbH-Durchblicker, Merkelgegner und Anhänger der Vorstellung, ein satanistischer Kult beherrsche den tiefen Staat dieses Planeten. Wie kommen diese cluster zustande? Solcherart Positionen teilen, so diffus sie untereinander und oft auch innerhalb der Weltanschauung eines individuellen Vertreters sind, meines Erachtens drei Elemente, die aufeinander verweisen.
- ihr radikaler Wissenschaftszweifel und damit verbunden
- ihr politischer Gnostizismus und damit verbunden
- ihre (Er)lösungsorientierung
1. Möglicherweise war der Moment, als vom „wissenschaftlichen Konsens“ jener „97%“ der Wissenschaftler die Rede ging, die den „menschengemachten Klimawandel“ für eine Tatsache halten, der Kippunkt. Möglicherweise lag er auch früher, nämlich in der Wahlkampfphase Donald Trumps, als man von der post truth era (auf Deutsch mit „postfaktisch“ nur unzulänglich wiedergegeben) zu sprechen begann. Möglicherweise lag er auch noch früher, nämlich in den 2000er Jahren, als sich nach 9/11 die truther zu formieren begannen und im Weltnetz aus mannigfaltigen Quellen, alten okkulten Hintergrundgeschichten und aktuellen Ereignissen relativ plötzlich komplette Großerzählungen gestrickt wurden – das beste und einflußreichste Beispiel im deutschsprachigen Raum ist sicherlich der Film Zeitgeist (2007).
Was bis dahin nur weltanschaulichen Sondergruppen vorbehalten war, nämlich die moderne Wissenschaft als solche anzuzuweifeln, wurde durch unzählige YouTube-Videos nicht nur denkmöglich und argumentierbar, sondern auch jedermann zugänglich. Wenn sich der berüchtigte Yascha Mounk angelegentlich fragte, ob vielleicht die Erziehung zur Mündigkeit (Adorno 1971), die der Jugend beibringen wollte, alle Autoritäten kritisch zu hinterfragen, am Ende vermittelt durch das Internet offensichtlich die falschen Systemkritiker (nämlich rechte statt linke) hervorgebracht hätte, könnte man diese Diagnose auch auf die Wissenschaftsungläubigen und die „Postmoderne“ übertragen.
Verhält es sich hier entsprechend Mounks Beschreibung, dann ist der theoretische Auslöser Paul Feyerabends Wider den Methodenzwang (1970) und der Katalysator ebenfalls das Internet. Das wissenschaftsheoretische Axiom der Falsifizierbarkeit läßt sich nämlich auch auf die Wissenschaft als solche beziehen: man kann ihre Richtigkeit niemals positiv beweisen.
Es könnte also – hier hakt der Grundgedanke aller sogenannt „esoterischen“ Wissenschaftskritik ein – jederzeit der Fall sein, daß etwas, das uns beschränkten Geistern für wahr zu halten gelehrt worden ist, nur die halbe Wahrheit oder aus einer anderen Perspektive gar ein großer Irrtum ist. Dieser Grundgedanke ist so elastisch, daß man mit ihm sowohl infragestellen kann, daß die Erde eine Kugel ist, als auch, daß die Koch’sche Virentheorie wahr ist.
Radikale Wissenschaftsskepsis ist überaus anstrengend. Denn nicht die akademisch normierten wissenschaftlichen Fakten und Theorien eines Gebietes sind zu lernen, sondern auch alle Alternativen dazu. Der Zweifler muß nämlich seinen grundsätzlichen Verdacht, daß hinter dem jeweiligen Leitparadigma mächtige Herrschaftsstrukturen stehen, andernfalls es nicht leitend wäre, begründen, während der Vertreter des Leitparadigmas dies nicht tun muß. Der Trennstrich zwischen „Wissenschaft“ und „verschwörungstheoretischem Humbug“ wird in zunehmendem Maße nur noch politisch gezogen. Wahr ist, was die „Mehrheit der Experten“ vertritt oder was der Regierung bestimmte Handlungen ermöglicht.
In dem Maße wie Wissenschaft politisch verteidigt wird, gewinnt der Machtverdacht des Wissenschaftskritikers an Überzeugungskraft, denn eine nicht „systemrelevante“ (sondern sich selbst genügende weil rein falsifikationistische) Wissenschaft hätte diese Manöver nicht nötig.
2. Das Attribut „gnostisch“ ist kein theologisches Schimpfwort. Außer einigem wenigem Erhaltenen ist die spätantike Gnosis der Nachwelt nur durch die anti-häretischen Gegnerschriften bekannt geworden. Hugo Ball (der „Dadaist“, der aber auch 1923 ein vortreffliches spätes Werk mit dem Titel Byzantinisches Christentum verfaßt hat) resümiert, Gnosis sei „die geheime Einsicht in das geheime Verhältnis Gottes zur Welt“.
Einsichtsvoll (nichts anderes bedeutet das griechische Wort gnōstikós), also durch Denken ist Einsicht in die verborgenen Mittel möglich, derer sich der „Übervernünftige“ bedient, um die Menschen mit sich zu verbinden. Zu diesen Mitteln gehört zuvörderst das Wirken des Bösen (die spätantike Gnosis kennt hier ganze Heerscharen und Ordnungssysteme von Dämonen und „Satansengeln“) in der verruchten Welt.
Doch der Logos wird ausgesandt, um die „gefallene Weisheit“ zu erlösen. Politischer Gnostizismus (ich verwende den Ausdruck analog zu Carl Schmitts Politischer Theologie und Eric Voegelins Politischen Religionen) wäre also eine Sicht auf Politik als die Sphäre der Macht, in der die Hierarchien des Bösen walten. Ein gegenwärtiger politischer Gnostiker ist also ein Erkennender, der das Wirken des Bösen in den Machtstrukturen dieser Welt verstehen will (und zwar prinzipiell unabhängig davon, ob ihm dieses Erkennen gelingt, ob er es nur behauptet, oder ob diese Erkenntnis überhaupt möglich ist).
Manchmal befleißige ich mich auch dieser schwierigen Scheidekunst, da den unsichtbaren Ebenen des Politischen sonst begrifflich kaum beizukommen ist. Wenn nun Leute vom Schlage eines Oliver Janich ständig mehrere Ebenen gleichzeitig im Blick haben, auf denen von der Spitze der Pyramide das Böse hinuntergereicht wird bis in die Niederungen der Untertanenmasken- und Impfverordnungen, dann sind sie politische Gnostiker, aber nicht notwendigerweise Spinner.
Wer die Symptome des Bösen in der Politik diagnostiziert, ist zunächst einmal ein Herrschaftskritiker. Es ist allerdings in dieser heiklen (und nicht umsonst in früheren Zeiten nur Eingeweihten zugänglichen) Kunst ungeheuer leicht möglich, aus Erkanntem oder vermeintlich Erkanntem voreilige politische Schlüsse zu ziehen oder seine Anhänger in irrsinnige Abgründe blicken zu lassen, aus denen diese nicht mehr herausfinden. Wenn Oliver Janich auf seinem telegram-Kanal schreibt:
Ich werde mir die Satanisten-Leugner demnächst vornehmen. Einen nach dem anderen, damit ein für alle mal klar ist, wer auf unserer Seite ist und wer auf deren. Wir sind im Endkampf gut gegen böse. Wenn sie die zweite Welle und den Bioterrorangriff inszenieren und damit durchkommen, ist es vorbei,
dann ist das politischer Gnostizismus auf Speed.
3. Mit der Leugnerei hat es eine spezielle Bewandtnis. Ich hatte es hier bereits erklärt: Daß der Begriff „Virusleugner“ (Spiegel im März über Trump) sich zu den bekannten Wörtern „Holocaustleugner“ und „Klimaleugner“ gesellt, spricht für seinen politreligiösen Bannfluchcharakter. Solche Bannflüche sind dazu da, bestimmte Kommunikationen fürderhin unmöglich zu machen, indem behauptet wird, der Gegenstand dieser Kommunikation sei schlechthin unbestreitbar. Das Wort „leugnen“ bedeutet das wissentliche Verneinen einer Tatsache.
„Satanistenleugner“ wären also Leute, die die Erkenntnis in die Machenschaften der „Kabale“ (deren Angehörige überproportional oft satanistische Symbole exponieren, entsprechenden Praktiken frönen und seit halben Ewigkeiten familiär erblich in Geheimgesellschaften verkehren) abstreiten, oder sie zwar zur Kenntnis nehmen (und z.B. jene „Pizzagate“-Affaire um Hillary Clinton als Trump-Fans damals goutiert haben), aber politisch keine Schlüsse daraus ziehen.
Martin Sellner wäre, folgt man seinem letzten Beitrag, eindeutig ein solcher, da seine Lösung darin besteht, eine vage Elitenkritik in politische Bahnen zu lenken. In den „Verschwörungsgegnern“ könnte „ein ‘revolutionäres Potential’ liegen, das Masse, Wut und ökonomischen Leidensdruck mitbringe“, notierte er auf Twitter, und fährt ebendort fort:
Die Frage ist, ob aus der rechten Intelligenz alternative Ideen, neue politische Theorien und mobilisierende Mythen entstehen, die diesem ungestalten Protestpotential die Lage jenseits von VT deuten, ihm moralische Legitimation, inhaltliche Schärfe, einen klaren Gegner und eine treibende Vision geben.
Wer so politstrategisch denkt, ist für Janich Teil der Kabale, controlled opposition. Für Martin Sellner dürfte seinerseits Janich rettungslos verloren sein in einer hermetisch abgeriegelten Weltenplantheorie, in der jeder nicht ganz so viel „Erkennende“ wahlweise gekauft oder ein verblendetes Schlafschaf ist.
Diese Pattsituation hat möglicherweise grundsätzlich damit zu tun, aus einer geistigen Notlage heraus die Befreiung der Massen zu suchen. Die gegenseitige Unterstellung konterrevolutionärer Ideologien erinnert den historisch interessierten Betrachter an die K‑Gruppen der 70er Jahre: Besonders die Q‑gläubigen Verschwörungsgegner betrachten die “Satanistenleugner” als Feinde im eigenen Lager, und manche Rechte die „Verschwörungstheoretiker“ ebenso, solange diese nicht über ihre politischen Möglichkeiten aufgeklärt würden.
Beide Ideologien gehen von der Macht der Masse, von „Revolution“ oder dem Sieg des Guten im “Endkampf” aus, vor allem aber von der Machbarkeit der Geschichte. Bei denjenigen Verschwörungsgegnern, die überhaupt soweit denken, liegt dies offensichtlich an ihrem politischen Gnostizismus: das Böse durchsetzt nicht nur die Politik, sondern ist drauf und dran, sich endgültig durchzusetzen. Das Schlimme ist: sie könnten recht haben mit der Befürchtung, daß „Corona“ nur die Übung für die Neue Weltordnung ist.
Daß jedoch ein „revolutionäres Subjekt“, das auf das Kürzel Q hört, doch noch alles zum Guten wendet, wenn nur alle Menschen „erwachen“, beinhaltet den Fehler aller, die das Gute für politisch-historisch implementierbar halten. Hermann Lübbe konstatierte schon 1970 in seinem Aufsatz Geschichtsphilosophie und politische Praxis:
Indem die Mittel und Wege, den Endzweck der Geschichte zu erreichen, im Plan der göttlichen Vorsehung verwaltet sind, ist philosophisch die politisch-ideologische Möglichkeit dementiert, daß irgend jemand mit dem Anspruch auftreten könnte, selbst der Geschichtsplanverwalter zu sein.
Dieser Blick auf Politik als illusorische Geschichtsplanverwaltung läßt einen auch in Hinblick auf die patriotische oder konservative Revolution ernüchtert aufseufzen. Sieht man Politik als das Schlachtfeld, auf dem über Macht und Ohnmacht entschieden wird, ist das Streben nach Mehrung der eigenen Macht für jeden politischen Akteur notwendig.
Dadurch gerät er aber ebenso notwendig in den Herrschaftsbereich des Bösen. Noch der pragmatischste Bezirkspolitiker, Gewerkschafter oder Aktivist muß dessen eingedenk sein. Man kann versuchen, den Tiger zu reiten, doch von der trügerischen Hoffnung, den historischen Prozeß zu kontrollieren, ist man immer korrumpierbar, solange man einen klaren Gegner findet, ob im heilsgeschichtlichen „Endkampf“ oder im metapolitischen Kampf der Ideologien.
Wenn man hingegen mit Lübbe festhält, daß „die Mittel und Wege, den Endzweck der Geschichte zu erreichen, im Plan der göttlichen Vorsehung verwaltet sind“, ist die politische Ohnmacht, in der wir uns derzeit befinden, womöglich genau richtig bemessen. Widerstandsenergie nimmt in dem Maße ab, wie sie auf ein innerweltliches Ziel hin abgelenkt wird, und in dem Maße zu, wie sie aus tiefer Ohnmacht kommt.
Ich habe keine mobilisierenden Mythen und keine neue politische Theorie parat. Es gibt keine Lösung hinieden. Wer Lösungen herbeiführen will, will – freilich in abgestuften Zugriffsgraden – Geschichte machen. Insofern bin ich nur ein unvollständiger politischer Gnostiker, weil ich gegen jede auch nur leise Tendenz zur Geschichtsplanverwaltung meinerseits mit Machtverdacht reagiere.
Gracchus
Spontan: Bravo!
Interessant, wie durch Sommerfelds Brillanz doch etwas Glanz auf den armen Janich abfällt - ich musste den einzigen von mir angesehenen Vlog von Janich nach 5 Minuten abstellen. Der Ehrentitel "Gnostiker" wäre mir nie eingefallen, und ich fasse es als Sommerfeld'sche Ironie auf, wenn sie Janich so bezeichnet. (Gut, nach ihrer Definition zählt der Wille zur Erkenntnis, die Definition hat aber den Nachteil, dass ein Gnostiker, der mit Paulus sagt, hienieden sei alles Erkennen Stückwerk, weniger Gnostiker wäre als derjenige, der alles durchschaut haben will.)
Einer meiner Gewährsmänner, nämlich Valentin Tomberg, hat dringlich davon abgeraten, sich aktiv mit dem Bösen zu befassen, und das auch an der damaligen Anthroposphen-Szene kritisiert. Mir leuchtet das mehr und mehr ein.
Kommentar Sommerfeld: Mir auch. Und: Sie haben einen wunderbaren Gewährsmann, dessen Lektüre ich, wenn ich mich recht erinnere, Ihnen verdanke.