halte ich bestenfalls für ein ehrenwertes Wunschdenken und Bemühen, schlimmstenfalls für politischen Kitsch. Keine Frage, daß Menschen die Würde des anderen täglich vielfach verletzten – im schlecht ausgeleuchteten Raum des Privaten sowieso, selbst hierzulande.
Der Verfassungsgrundsatz der Unantastbarkeit der Würde meint jedoch zuerst eine Maßgabe für staatliches Handeln. Es darf, das scheint mit sogenanntem Ewigkeitsrecht verbrieft, keine Willkürhandlungen geben, die die Würde des Menschen verletzen, wobei philosophisch dahingestellt sei, was diese Würde nun – etwa kantisch hergleitet – ausmacht und ob sie gedanklich und praktisch handhabbar existiert. Schopenhauer jedenfalls sah den Begriff der Würde als „hohle Hyperbel“ an.
In seiner „Preisschrift über die Grundlage der Moral“ (1840) führt er aus:
„Allein dieser Ausdruck ‘Würde des Menschen’, einmal von Kant ausgesprochen, wurde nachher das Schiboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen oder wenigstens doch irgendetwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponierenden Ausdruck ‘Würde des Menschen’ versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angetan sehen und demnach damit zufrieden gestellt sein würde.”
Menschenrecht und Menschenwürde. Mag sein, beide Fiktionen schützen vorläufig. Im Beispiel: Zwar bin ich beispielsweise ohne klare Begründung mit Berufsverbot belegt und werde von Apparatschiks stumm und unter Abweisung jedes Gesprächsangebots verhindert, aber unter derzeitigen Bedingungen drohen immerhin weder Haft noch Gewalt.
Der Staat versagt mir die Ausübung meines Berufes, aber das mag sein gutes Recht sein, insofern er an öffentlichen Schulen mein Arbeitgeber wäre und gleichfalls über private Schulen die Aufsicht führt.
So sind die Regeln. Man hätte publizistisch ja stillhalten und seine Gedanken verschwiegen dem Tagebuch anvertrauen können.
Wer jenseits des enger gewordenen Meinungskorridors veröffentlicht, steht im Risiko, gilt den empfindlicher gewordenen Behörden als Gefahr und wird geblockt. Immerhin nehmen sie so einen nicht nur wahr, sondern mittlerweile sogar ernst.
Wer öffentlich artig schweigt, kann als Lehrer im Unterricht hingegen wirken, wie er es will, selbst wenn er – im Gegensatz zu meinem Verständnis – direkt staatskritisch oder gar ‑feindlich unterrichtet. Hauptsache, er schweigt öffentlich. So die Erwartung des vormundschaftlichen Staates. Genaue Kenntnis vom Unterrichtsgeschehen haben Schulaufsichtsbehörden nicht; sie verlassen das Amtsgebäude kaum. Dort werden nur Meldungen und Zahlen abgerechnet. Politisch-ideologische Aufsicht aber funktioniert wieder und ist für Denunziationen dankbar, zumal der Denunziant als „couragiert“ gilt.
Man dürfte, wenn die Notwendigkeit dringlich wäre oder man sich verletzt fühlte, selbstverständlich juristisch klagen. Immer öfter verfährt die Exekutive so: Erst selbstgerecht entscheiden, durchaus in Willkürakten (in der Corona-Phase eifrig erprobt), und es dann dem Betroffenen zynisch zugestehen, daß er ja klagen, sich also auf den Rechtsweg bemühen könne, um gerade noch Selbstverständliches jetzt kosten- und zeitintensiv zu erstreiten.
Salopp: Die Staatsmacht leistet sich Fragwürdigkeiten oder Ungerechtigkeiten, aber der Untertan darf immerhin vor das Verfassungs- oder Verwaltungsgericht ziehen. Er wird geschaßt, aber das stellt ja seine „Würde“ nicht infrage.
Hätte ich eine Familie zu versorgen und zudem keine berufliche Alternativen, geriete ich in ernste Schwierigkeiten, denn einer politisch mißliebigen Person verhindern Ministerium und Amt die berufliche Existenz, ganz selbstverständlich mit dem Ziel, die Lebensführung zu erschweren und ein halbwegs bürgerliches Leben zu verhindern. Die Exekutive wünscht keinen Diskurs; sie will, daß der Kritiker, diese Kanaille, einfach verschwindet.
Um den politischen Durchgriff auf das Privatleben zu verhindern, lebt man in einem ideologisch bestimmten Gesinnungsstaat daher am besten freiberuflich oder als Selbständiger, jedenfalls solange der Staat noch das Eigentum, die Unverletzlichkeit der Wohnung und die physische Unversehrtheit respektiert.
Interessant jedoch, daß eben dieser Staat und seine Anhangsbehörden immerfort so lautstark auf Menschenrecht und Menschenwürde insistieren, insbesondere nach außen prekäre Zustände anderswo schulmeisternd. Beide Begriffe, Menschenrecht und ‑würde, erweitert um die omnipräsenten Worthülsen Gerechtigkeit, Teilhabe, Toleranz, Diversität usw. usf., befinden sich in Dauerventilation – in einer Intensität, die an die DDR-Propaganda und die damalige Allgegenwart von Losungen und Transparenten erinnert.
Angeblich war Deutschland noch nie so demokratisch, so gerecht, so tolerant, so diskursorientiert und so frei wie gegenwärtig. Einerseits werden klientelpolitisch zur Sicherung von Wählerstimmen Geschenke wie in Form des sogenannten Bürgergeldes verteilt, andererseits gewinnt die Abwehr von Kritik eine vor zwanzig Jahren noch unvorstellbare Rigorosität.
Man darf zweierlei unterstellen – zum einen die Polit-Neurose, affektiert genau das zu überbetonen, was eigentlich so nicht Tatsache, sondern nurmehr Vorgabe ist, also propagandistisch dreist zu suggerieren, was der Realität überhaupt nicht entspricht, zum anderen offensive Manipulation zugunsten des herrschenden Establishments. Mag auch sein, dieses Establishment hat sich völlig in seiner Eigenkonstruktion verrannt, die Gesellschaft wäre tatsächlich noch diskursorientiert und Kritikern gegenüber minimal gerecht.
Die grünlinke Meinungsführerschaft in der Exekutive und ihre woken Hilfstruppen im Alltag sind erlebbar alles andere als tolerant, gerecht, divers; sie sind – ganz im Gegenteil – in beträchtlichem Maße indoktriniert, ausschließlich eigenen politischen Zielen verpflichtet und gegenüber Abweichlern geradezu allergisch, wenn nicht haßerfüllt, aber sie begründen dies in genau der Weise, wie das früher „die Partei“ oder „die Volksgemeinschaft“ tat, nämlich mit der Legitimation, selbst die einzige Kraft für die einzig gute Sache zu sein.
Keine Frage, daß die Funktionäre ihrem Zuschnitt nach früher geeignete SED-Chargen und davor bündig identifizierte NS-Bonzen gewesen wären. Anpasser, von statten Gehältern korrumpiert, braucht es immer. Man sollte darüber nicht mal klagen, denn ohne dieses willige Vollstrecker läuft es nie und nirgends.
Phänomenal nur, daß sich diese Indoktrination aus einer grundsätzlich freiheitlichen Gesellschaft und trotz gesicherter Rechtsstaatlichkeit eigendynamisch so entwickeln konnte: tendenzieller Totalitarismus, scheinbar evolutionär erwachsen, mindestens in Gestalt eines Gesinnungsstaates, der bereit ist, seinen Apparat gemäß Schmittschem Freund-Feind-Schema gegen Dissidenten einzusetzen, insbesondere in Mobilisierung des Verfassungsschutzes.
Apropos Schmitt: Die Exekutive unterscheidet längst nicht mehr zwischen dem persönlichen (inimicus) und politischen Feind (hostis). Der politische ist immer gleich ganz und gar der persönliche Gegner. Wer etwa als AfDler auf Funktionäre der Macht oder auf Vertreter der „demokratischen Parteien“ trifft, wird das spüren.
Mit Ausnahme der AfD und ein paar kritisch-renitenter Medien gibt es keine Opposition mehr, schon gar keine, die im Sinne echter Demokratie geschätzt oder auch nur akzeptiert würde. Die AfD und kritische Medien bieten so die einzigen Orte für eine innere Emigration. Daher werden sie eingehegt wie in Öffnungsrichtung abgesperrte Sackgassen: Wer als AfDler oder kritischer Publizist markiert ist, soll es schwer haben, je wieder irgendwo anders tätig sein zu können. Der Staat möchte ihn isoliert wissen.
Nicht nur der Staat. In Thüringen selektiert die Gewerkschaft Verdi AfD-Mitglieder aus. Auch Gewerkschaften gehören also wieder zur Einheitsfront.
Vom Bundespräsidenten bis zu Klima-Aktivisten folgen alle maßgeblichen politischen Kräfte der „Mitte“ längst Zielstellungen, die sich wie im Programm einer einstigen „Partei neuen Typus“ zusammenfassen ließen. Die einstigen „bürgerlichen Parteien“, CDU, CSU und FDP, sind diesen Zielen längst völlig gleichgeschaltet, und gemeinsam führt das Bündnis für sich den selbstlegitimierenden Titel „demokratische Parteien“.
Die politische Vormundschaftlichkeit wird insbesondere in den Schulen exerziert, in deren gesellschaftswissenschaftlichen Fächern genaue Erkenntnisse oder gar differenzierendes Urteilsvermögen durch angepaßte Bekenntnisse von moralistischer Grundierung ersetzt sind. Man sehe sich in diesem Zusammenhang die Abiturthemen des Geschichts- und Politikunterrichts an. Diese Fachbereiche sind längst wieder reine Staatsbürgerkunde.
Über das Pensum des Politunterrichts hinaus lassen die Bildungsministerien unterm Motto „Schule der Demokratie“ die linkspolitischen Vereine wirken, die den Segen und die Förderung der Landeszentralen für politische Bildung genießen. Schule für Demokratie bedeutet Schule für vereinheitlichtes linientreues Denken. Man betrachte insbesondere die Bildsprache der verlinkten Netzseite, also ihren Symbolgehalt.
Je weiter diese Einheitsfront-Bewegung zusammenrückt, um so konturschärfer bildet sie ein Feindbild aus, für das ihr die Attributierung „rechts“ ausreicht, zumal sich damit effektiv stigmatisieren läßt, denn von „rechts“ ist’s, so das propagandistische Narrativ, nur ein Schritt zum „Nazi“, und vom Nazi ist’s nicht weit bis zu den auf Ausschwitz zulaufenden Gleisen. Dann der Ausruf: Das kann keiner wollen! Seid wachsam!
Heißt also: Eine „grundvereinbarte“ Auffassung, die sich abstruserweise noch als Ausdruck von „Vielfalt“ versteht, eine dadurch immer mehr uniformierte und eben gerade nicht diverse Lebenskultur steht Skeptikern und Kritikern gegenüber, die über keinen anderen Ort als den „rechten“ verfügen, um sich überhaupt zu artikulieren.
Es wird ihnen dieser Ort direkt zugewiesen. Als rechts zu gelten bedarf es wenig, nämlich lediglich der Distanz zur durchgeschalteten Agitation. Jeder, der nicht zum Sommerfest des Bundespräsidenten eingeladen werden dürfte, kann mittlerweile als „gefährlicher Rechter“ gelten.
Es gibt für Skeptiker und Kritiker nurmehr zwei Möglichkeiten – entweder den rechten Standort oder den Rückzug ins Unpolitische.
Adler und Drache
Phänomenal nur, daß sich diese Indoktrination aus einer grundsätzlich freiheitlichen Gesellschaft und trotz gesicherter Rechtsstaatlichkeit eigendynamisch so entwickeln konnte: tendenzieller Totalitarismus, scheinbar evolutionär erwachsen
Phänomenal und deprimierend: Damit wäre dann auch das Hoffnungspulver der letzten politischen Großidee verschossen. Ganz gleich, von wo aus man startet und welchen Weg man wählt, man kommt offensichtlich immer an derselben Stelle an.
Vielleicht erklärt das die Lethargie, die Absenz einer erneuernden Kraft, die ausbleibende Mobilisierung eines starken, richtungsweisenden, politisch gestalterischen Willens gegen ebendiesen Totalitarismus, wenigstens zum Teil? Man hat's mit allem versucht, nun ist man irgendwie am Ende mit seinem Latein ...
Der Ideenpool ist ausgeschöpft. Der letzte deutsche Sommer vorbei. Mögen die Parzen noch einen Herbst zu reifem Gesange gönnen!