In der Moderne hat sich als bestimmendes Prinzip die Autonomie durchgesetzt. Proportional zur zunehmenden technologischen Machbarkeit werden immer mehr Bindungen des Menschen in Frage gestellt und gekappt. Der Prozeß dieser vermeintlichen Selbstbefreiung und ‑bestimmung hat seinen vorläufigen Höhepunkt damit erreicht, zu glauben, man könne über Gene, Geschlecht, Ethnie und sogar über das Mensch-Sein an sich entscheiden.
Im radikalen Gegensatz zum autonomen Menschen steht der Mensch als Ebenbild Gottes (imago Dei): »Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bilde und unserer Ähnlichkeit, und er herrsche über die Fische des Meeres, und über die Vögel des Himmels, und über alles kriechende Getier, das sich auf Erden regt. Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde; nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Weib erschuf er sie« (Genesis 1,26 f.). Diese bekannten Verse aus dem biblischen Schöpfungsbericht ist die grundlegende Aussage der christlichen Anthropologie, die auch Theologie, Soziologie und Ethik ist.
Es ist offenkundig, daß der Mensch als Ebenbild Gottes mehr sein muß als biologische Verfügungsmasse oder Mittel zur hedonistischen Lustmaximierung. Im Gegenteil: Der Mensch nimmt in dem von Gott geschaffenen, hierarchisch gegliederten Kosmos eine einzigartige Stellung ein, da er eine Einheit aus sterblichem Leib und unsterblicher Seele bildet, die nach Thomas von Aquin in einer Wechselbeziehung zueinander stehen.
Während der materielle Leib den Menschen mit den Tieren verbindet, besteht die Gemeinsamkeit mit den Engeln, gar mit Gott selbst, in der immateriellen Seele, erklärt Augustinus. Am letzten Schöpfungstag formt Gott den Leib aus dem Staub der Erde und bläst ihm mit der Seele den Atem des Lebens ein (Genesis 2,7). Gott, der in seiner Dreifaltigkeit ein persönlicher Gott ist, schafft mit der Einheit von Leib und Seele den Menschen als Person und stellt von Beginn an eine wesenhafte Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf her. In Gott findet daher die inhärente Würde einer Person ihre Begründung.
Das Person-Sein des Menschen »kündet von einem Adel, der in Gottes sichtbarer Schöpfung schlechterdings einmalig ist, und von einer inneren Kraft des Handelns, die sich in all unserem Tun und Lassen auswirken soll« (Eberhard Welty). Aus diesem Adel des Menschen innerhalb der Schöpfungsordnung leiten sich nicht nur natürliche Rechte ab, sondern zuallererst natürliche Pflichten. Es verbietet sich, das Person-Sein des Menschen anzugreifen, indem man ihn etwa im Zuge einer Abtreibung auf einen wertlosen »Zellhaufen« reduziert oder ihm in einem totalitären Staat Eigenverantwortung und Selbständigkeit nimmt.
Indem seine Seele mit den Vermögen von Vernunft und Willen ausgestattet ist, erhält der Mensch Freiheit – nicht, um das Böse zu wählen, sondern um »geeignete Mittel den gottgesetzten Zielen zuzuordnen« (Welty), das heißt, um Gottes Willen zu erfüllen, der gut ist (Lukas 18,19). Durch die Vernunft kann der Mensch das Gute erkennen, durch den Willen kann er das Gute verwirklichen. Darin, daß also die wahre Freiheit in der Umsetzung des Guten besteht, besteht die gleichzeitige Unvereinbarkeit mit deterministischen und voluntaristischen Menschenbildern.
Es wird deutlich, daß der Mensch Verantwortung gegenüber Gott, dem Nächsten sowie der gesamten Schöpfung trägt. So wie die drei göttlichen Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist, in Liebe aufeinander hingeordnet sind, so ist auch der Mensch zur Liebe berufen. Die Personalität des Menschen umfaßt somit Individualität und Sozialität. Der Mensch entwickelt sich weder »evolutionär« auf eine Gemeinschaft hin, noch entscheidet er sich mittels eines Gesellschaftsvertrages dazu, sondern er ist im metaphysischen Sinne ein soziales Wesen (animal naturaliter sociale). Er strebt danach, sich hingeben und empfangen zu können.
Dies gilt sowohl hinsichtlich des Schöpfers als auch des Nächsten in Freundschaft, Ehe, Familie, Volk etc. Mehr noch, der Mensch kann ohne diese Bezogenheit nicht vollständig verstanden werden. Zwar ist er (nicht im zeitlichen Sinne) bereits »Person« vor der menschlichen Gemeinschaft, jedoch reift er erst in und durch die Gemeinschaft zur »Persönlichkeit«, also zur sittlich guten Person. Das bedeutet, der Mensch ist »kein Wesen, das geschlossen in sich stünde. Er existiert vielmehr so, daß er über sich hinausgeht. Dieser Hinausgang geschieht schon immerfort innerhalb der Welt, in den verschiedenen Beziehungen zu Dingen, Ideen und Menschen […]; eigentlicherweise geschieht er über die Welt hinaus auf Gott zu« (Romano Guardini).
Aus der christlichen Perspektive können der individuelle und der soziale Aspekt des Menschen zwar voneinander unterschieden, aber nicht voneinander getrennt und gegeneinander ausgespielt werden. Die Entscheidungen und die Handlungen des einzelnen nehmen Einfluß auf das Ganze und umgekehrt. Dadurch wird die Diskrepanz zu individualistischen und kollektivistischen Gesellschaftsordnungen verständlich, die ihrerseits einen inneren Zusammenhang besitzen: Der Individualismus zerstört nicht nur Gemeinschaft in ihrem Sein, sondern isoliert auch die Person und verhindert somit, daß sie naturgemäß in der Gemeinschaft aufgeht.
Der Kollektivismus zerstört nicht nur die Person in ihrer Würde, sondern kann auch keine echte Gemeinschaft aufbauen, da diese aus Personen besteht. Beide finden vor allem in der Masse zueinander: Dabei werden atomisierte Individuen zur egoistischen Befriedigung ihrer Triebe verführt und in der Illusion gehalten, solidarisch und verantwortungsvoll zu handeln, was man beispielsweise im Zuge der Corona-Krise beobachten konnte.
Im Gegensatz dazu steht eine Gemeinschaft aus freien, reifen Personen, die ein gemeinsames, übergeordnetes Ziel verfolgen. Worauf auch immer sich das konkrete Ziel bezieht, letztlich geht es darum, das Gute zu tun. Die treue Übung des Guten ist die Tugend, die zugleich dem einzelnen wie der Ganzheit zugute kommt. Die Tugend ist »Erfüllung menschlichen Seinkönnens – im natürlichen und im übernatürlichen Bereich. Der tugendhafte Mensch ›ist‹ so, daß er, aus innerster Wesensneigung, durch sein Tun das Gute verwirklicht« (Josef Pieper). Aristoteles und Thomas von Aquin ordnen alle natürlichen Tugenden einer der vier Kardinaltugenden – Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß – zu. Die Klugheit steht dabei an erster Stelle, da sie als sachliche, vernunftgemäße Betrachtung und Erkenntnis der Wirklichkeit als Maßstab für unser Handeln und damit für die Übung der weiteren Tugenden dient.
In der Gerechtigkeit wird das Gute am stärksten verwirklicht, da sie unmittelbar unsere Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zur Gemeinschaft betrifft: »Gerechtigkeit ist die Haltung, kraft derer einer standhaften und beständigen Willens einem jeden sein Recht zuerkennt« (Thomas von Aquin: Summa Theologiae). Durch die Beziehungshaftigkeit der Gerechtigkeit wird ihre Übung zu einer sozialen Verpflichtung, in der sich das Gemeinwohl verwirklicht, so daß diese Tugend eine »Seinsvollendung des Wir« (Pieper) bewirkt. Die Tapferkeit besteht in der Bereitschaft, sich schützend vor das Gute zu stellen und dafür zu leiden oder gar zu sterben. Das Maß bedeutet die Ordnung der sinnlichen Neigungen und Leidenschaften, die in sich gut sind, jedoch nicht lasterhaft sein dürfen, da dies zur Selbstzerstörung und zum Verlust des Realitätssinnes führen würde.
Das christliche Menschenbild wäre jedoch kein realistisches, sondern ein utopisches, wenn es nicht berücksichtigen würde, daß die Übung der Tugend alleine nicht ausreicht, um das Gute beharrlich und kontinuierlich zu tun. Denn die Natur des Menschen ist durch den Sündenfall (Genesis 3) geschwächt und neigt deshalb zum Bösen. Zwar können etwa Erziehung und Kultur entsprechende Voraussetzungen schaffen, um den Menschen im Guten zu erhalten. Zur Heilung seiner gefallenen Natur und der Gemeinschaft, in die er hineingestellt wurde, bedarf er jedoch der Gnade, die ihm der Gottmensch Jesus Christus durch seinen Erlösertod erworben hat und die ihm durch das Gebet und die Sakramente der Kirche zuteil wird.
Durch die Gnade wird der Mensch von der Sünde befreit und schließlich in den mystischen Leib Christi eingegliedert, dessen Gemeinschaft über den Tod hinaus besteht. Christus ist dem Menschen nicht nur zur Erreichung seines natürlichen Ziels notwendig, sondern vielmehr selbst das Ziel. In dieser Hinsicht ist christliche Anthropologie auch Christologie. »Jede andere Art von Anthropologie ist lediglich eine vorläufige Beschreibung des Menschen in seinem gefallenen Zustand, das bedeutet, daß so eine Anthropologie radikal ungenügend ist« (Rémi Brague).
Durch die Überwindung der Sünde in Christus wird die Natur des Menschen veredelt, findet dieser wieder zu sich selbst und damit zu seiner wesenhaften Beziehung zu Gott zurück. Diese übernatürliche Bezugnahme bedeutet keine Weltflucht oder Weltfremdheit, sondern ist letztlich die notwendige Voraussetzung für die Wiedererrichtung eines Gemeinwesens, das dem Menschen gerecht wird.