Schlaglichter auf die “Innere Emigration” – ein Gespräch

Wir Verleger hoffen, daß luzide Leser nachwachsen, solche also, die zwischen den Zeilen zu lesen vermögen und nicht nur an der Oberfläche entlang.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Nicht das Sach­buch, son­dern Pro­sa und Gedicht sind der Ort, an dem Prä­zi­si­on durch Unschär­fe her­ge­stellt und vor­ge­legt wird. Das erfor­dert eine Lese­fä­hig­keit und inne­ren Reso­nanz­raum. Je wei­ter die geis­ti­ge Kon­for­mi­tät durch das Zusam­men­spiel von Lese­faul­heit, man­gel­haf­ter Bil­dung und Strom­li­nien­zu­frie­den­heit fort­schrei­tet, des­to klei­ner wird der Kreis derer, die den Text hin­ter dem Text noch verstehen.

Ein Teil der Lite­ra­tur, die zwi­schen 1933 und 1945 in Deutsch­land von nicht emi­grier­ten Autoren ver­faßt wur­de, hat es zu einer eige­nen Epo­chen­be­zeich­nung gebracht. Über die­se “Inne­re Emi­gra­ti­on”, deren Spiel­ar­ten heu­te nicht genau­so, aber abge­wan­delt in der Erpro­bungs­pha­se sind, habe ich mit Pro­fes­sor Gün­ter Scholdt gespro­chen. Er ist einer der bes­ten Ken­ner die­ser kur­zen lite­ra­ri­schen Peri­ode, deren Autoren noch wis­sen konn­ten, daß sie für klu­ge Leser schrie­ben. Es war ein Wechselspiel.

Scholdt und ich hal­ten die Beschäf­ti­gung mit sol­chen Erschei­nungs­for­men lite­ra­ri­scher Kon­spi­ra­ti­on zwi­schen Autor und Leser für eine der not­wen­di­gen geis­ti­gen Zurüs­tun­gen in unse­rer Zeit. Scholdts Buch Schlag­lich­ter auf die “Inne­re Emi­gra­ti­on” ist bei Lepan­to erschie­nen und kann hier bestellt wer­den.

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KUBITSCHEK: Herr Pro­fes­sor Scholdt, Sie wer­fen in Ihrem Buch grel­le und erhel­len­de Schlag­lich­ter auf die „Inne­re Emi­gra­ti­on“, schrei­ben also – so der Unter­ti­tel – über „Nicht­na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Bel­le­tris­tik in Deutsch­land 1933–1945“. Bevor ich tief ein­stei­gen und Bezü­ge zu unse­rer Lage heu­te her­stel­len wer­de, möch­te ich nach dem Ent­ste­hungs­pro­zeß und dem Arbeits­zeit­raum fra­gen, denn das Lesepen­sum, das Sie absol­vier­ten, ist immens. Als stu­dier­ter Ger­ma­nist und flei­ßi­ger Leser gera­de auch die­ser Epo­che muß ich den­noch geste­hen: Ich las viel­leicht ein Drit­tel der Bücher und habe von drei Vier­teln gehört. Aber es ist mir völ­lig Unbe­kann­tes darunter.

SCHOLDT: Das ist völ­lig nor­mal. Lite­ra­tur­ge­schich­te voll­zieht sich in einem unaus­lot­ba­ren Bücher­oze­an. Selbst Viel­le­ser machen daher, mehr oder weni­ger aus­ge­prägt, stän­dig Defi­zit-Erfah­run­gen. Immer­hin sind Sie mit dem beschrie­be­nen Lese­quan­tum für die­se Epo­che gewiß bes­ser infor­miert als ein durch­schnitt­li­cher Ger­ma­nis­tik­do­zent. Wenn ich noch etwas mehr weiß, liegt dies vor allem dar­an, daß die Inne­re Emi­gra­ti­on schon seit Beginn der 1990er zu einem mei­ner For­schungs­schwer­punk­te zählt. Und wor­über man publi­ziert, urteilt und sich so harsch von Main­stream-Posi­tio­nen absetzt, soll­te man im Kern Bescheid wissen.

KUBITSCHEK: Wie ent­stand Ihr Buch ud woher rührt Ihre so aus­dau­ern­de Beschäf­ti­gung mit die­ser Epoche?

SCHOLDT: 1993 erschien mei­ne Habil­schrift über das Hit­ler-Bild deutsch­spra­chi­ger Schrift­stel­ler 1919–1945. Ich habe 13 Jah­re an ihr gear­bei­tet und Hun­der­te von Autoren nach ent­spre­chen­den Äuße­run­gen durch­fors­tet. Das Werk stellt vor­nehm­lich his­to­ri­sche Fra­gen. Aber natür­lich las ich dabei auch vie­les, was lite­ra­risch von Inter­es­se ist. Nach Abschluß des 1000-Sei­ten-Buchs emp­fand ich den Man­gel, daß ange­sichts der poli­tisch-zeit­ge­schicht­li­chen Akzent­set­zung von Bel­le­tris­tik nur rand­lich gespro­chen wer­den konn­te. Ich plan­te also einen Ergän­zungs­band, der schon bald in das Pro­jekt einer Lite­ra­tur­ge­schich­te der Inne­ren Emi­gra­ti­on mün­de­te, die ich im „Ruhe­stand“ ange­hen woll­te. Die Recher­che dafür lief (neben ande­ren Tages­auf­ga­ben) also stän­dig wei­ter, wobei sich das For­schungs­in­ter­es­se an der inner­deut­schen Lite­ra­tur jener Zeit mit zwei wei­te­ren Schwer­punk­ten ver­band: „Lite­ra­ri­sche Wer­tung“ und „Regio­nal­li­te­ra­tur“.

Inzwi­schen war (neben sys­te­ma­ti­schen anti­qua­ri­schen Bücher­käu­fen) der Bestand an kopier­tem Text­ma­te­ri­al auf ca. 100 Akten­ord­ner ange­wach­sen, eine 18-sei­ti­ge Glie­de­rung stand, und als Eme­ri­tier­ter hät­te ich nun mit der Arbeit begin­nen kön­nen. Doch die haut­na­hen Erfah­run­gen mit unse­rer Denun­zi­an­ten-Repu­blik und real exis­tie­ren­den (Post-)Demokratie inklu­si­ve ihrer frei­heit­lich-rechts­staat­li­chen Ver­wer­fun­gen nötig­ten mich zunächst zu einem hal­ben Dut­zend tages­po­li­ti­scher Bücher.

Danach mehr­ten sich Zwei­fel, ob sich ein Ver­lag eine Lite­ra­tur­ge­schich­te im geplan­ten Umfang über­haupt leis­ten kön­ne. Denn (öffent­li­che Sub­ven­tio­nen abgrei­fen­de) Main­stream-Ver­la­ge kamen seit mei­nem alter­na­ti­ven Enga­ge­ment natür­lich nicht mehr in Fra­ge. Schließ­lich hat­te ich die gan­zen Sam­mel-Anstren­gun­gen ja auch nicht unter­nom­men, um gän­gi­ge kul­tur­po­li­ti­sche Sim­pli­fi­ka­tio­nen zu bestä­ti­gen. Was blieb, war ein klei­ner Aus­schnitt aus dem geplan­ten „ulti­ma­ti­ven“ Lite­ra­tur­pan­ora­ma, waren „Schlag­lich­ter“, die zumin­dest eine Ahnung davon ver­mit­teln mögen, wel­ches For­schungs­feld hier sys­te­ma­tisch ver­ges­sen bzw. klein­ge­re­det wurde.

KUBITSCHEK: Las­sen Sie uns kurz das Feld abste­cken. Was ist unter „nicht­na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher Bel­le­tris­tik“ zu ver­ste­hen, die im 3. Reich erschien und einer „Inne­ren Emi­gra­ti­on“ zuge­rech­net wird? Mei­nes Wis­sens nach muß­te einem Werk wider­stän­di­ges Poten­ti­al inne­woh­nen, damit wir es heu­te die­ser lite­ra­ri­schen Rich­tung zuschrei­ben dür­fen. Außer­dem muß­te die­ses Poten­ti­al sozu­sa­gen ver­bor­gen zuta­ge lie­gen, damit der wache Leser es ent­de­cken und als wahr­schein­li­che Les­art deu­ten konn­te. Und dies bei­des führt zu einem Pro­blem: dem näm­lich, daß jene auch von der Ger­ma­nis­tik ange­streb­te Klar­heit recht ver­ne­belt ist und mit Zuord­nun­gen Poli­tik betrie­ben wer­den kann.

SCHOLDT: Poli­tik spielt immer hin­ein, beson­ders bei der Abwer­tung des Begriffs „Inne­re Emi­gra­ti­on“, der bald nur noch als (kal­li­gra­phi­sche) Zeit­flucht oder Ver­zicht auf Wider­stand gedeu­tet wur­de. Natür­lich kann er wie jede lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Kate­go­ri­sie­rung, Epo­chen- oder Stil­be­zeich­nung – es geht ja um kom­ple­xe Wer­ke und Men­schen – nicht che­misch rein defi­niert wer­den. Er bleibt den­noch sinn­voll, da er trotz gele­gent­li­cher Unschär­fe his­to­risch gewach­sen und zudem anschau­lich ist.

Wenn jemand einer Dik­ta­tur wegen sein Vater­land nicht ver­las­sen möch­te, bleibt immer­hin noch die (sich der Anpas­sung ver­wei­gern­de) „Emi­gra­ti­on nach innen“, als Rück­zug auf einen eng begrenz­ten geis­ti­gen Raum Gleich­ge­sinn­ter, der von tota­li­tä­ren Ein­flüs­sen nicht zer­stört wird: pri­va­te Zir­kel, Nischen-Ver­la­ge, eine ver­deckt oppo­si­tio­nel­le Sze­ne oder gänz­li­che Abkaps­lung. Kon­kret rea­li­siert sich die­se Exis­tenz- und Schreib­form auf einer Ver­hal­tens­ska­la. Sie reicht vom gänz­li­chen Ver­stum­men über das Mei­den heik­ler The­men bis zur ver­schlüs­sel­ten oder gar halb­of­fe­nen Mani­fes­ta­ti­on von Widerstand.

KUBITSCHEK: Ich will an die­ser Stel­le prä­zi­sie­rend nach­fra­gen. Macht der eine Text aus einem Autor bereits einen Ange­hö­ri­gen der Inne­ren Emi­gra­ti­on oder soll­te man stren­ger sein und die Lebens­füh­rung des Autors zwi­schen Anpas­sung und Nicht­be­tei­li­gung in die Zuord­nung ein­flie­ßen lassen?

SCHOLDT: Man kann die inner­deut­sche Lite­ra­tur jener Jah­re aus zwei Per­spek­ti­ven mus­tern: die der Per­so­nen – dann zählt vor allem Mut und Kon­se­quenz – und die der Tex­te, die ja manch­mal klü­ger und tap­fe­rer erschei­nen als ihre Ver­fas­ser. Mei­ne Sym­pa­thie gilt (nicht zuletzt aus aktu­el­ler War­te) zwar jeder dama­li­gen trot­zig-non­kon­for­mis­ti­schen Ges­te, der ehrend zu geden­ken ist. Aber ange­sichts der heu­ti­gen Ten­denz mora­lis­ti­scher Unter­ho­sen­schnüf­fe­lei vom siche­ren Schreib­tisch her schien es mir zuneh­mend frucht­ba­rer, Tex­te ins Zen­trum der Betrach­tung zu stel­len. Wo vor­nehm­lich Per­so­nen beur­teilt wer­den, bestä­tigt sich ja meist nur, daß Men­schen unter Druck eben mehr­heit­lich Schwä­che zei­gen oder Kom­pro­mis­se eingehen.

KUBITSCHEK: Zu den Tex­ten also – Fra­ge­bo­gen­stil: Wel­che der Tex­te, die Sie lasen, sind die wohl wesent­li­chen des von Ihnen umris­se­nen Epochenphänomens?

SCHOLDT: Um den Begriff „Inne­re Emi­gra­ti­on“ mit Leben zu fül­len, tau­gen fol­gen­de Wer­ke beson­ders: Unter den heu­te noch leicht zugäng­li­chen etwa Ber­gen­gruens Der Groß­ty­rann und das Gericht, Ernst Jün­gers Auf den Mar­mor­klip­pen, Wie­cherts Das ein­fa­che Leben, Ger­hart Haupt­manns Iphi­ge­nie in Aulis, Meis­ter­no­vel­len von Ste­fan And­res sowie Horst Lan­ges Erzähl­band Die Leucht­ku­geln. Dazu gehö­ren weit­hin ver­ges­se­ne Namen wie Rein­hold Schnei­der und Fried­rich Georg Jün­ger mit etli­chen Wider­stands­ge­dich­ten (Der Mohn, Gebet, Abschieds­lied, Schne­cken­mär­chen, Neue­re Den­ker, Der Ass­as­si­ne), die die­se Bezeich­nung zu Recht tra­gen. Ricar­da Huchs popu­lä­re Geschichts­bän­de (z.B. Römi­sches Reich Deut­scher Nati­on) bie­ten pha­sen­wei­se prak­tisch Klar­text. Auf der ande­ren Sei­te der Begriffs­ska­la darf man aber auch das leich­te Gen­re nicht ganz unter­schla­gen: Eugen Roth (Ein Mensch, Der Wun­der­dok­tor), Hans Höm­berg (Kir­schen für Rom), Erich Käst­ner (Drei Män­ner im Schnee) oder Hein­rich Spoerl mit Der Maul­korb oder Man kann ruhig dar­über spre­chen, einem Feuil­le­ton­band mit sati­ri­schen Nadel­sti­chen. In knapps­ter Form umrei­ßen die Schreib- und Exis­tenz­form „Inne­re Emi­gra­ti­on“ Loer­kes Der Wald der Welt oder Ben­ns Wein­haus Wolf.

KUBITSCHEK: Sind das dann auch Ihre per­sön­li­chen Favoriten?

SCHOLDT: Die meis­ten schon. Auf mei­ner Hit­pa­ra­de ganz oben steht And­res‘ El Gre­co malt den Groß­in­qui­si­tor, den ich seit Jugend­ta­gen wohl ein Dut­zend Mal gele­sen habe, nicht zuletzt wegen sei­ner über­zeit­li­chen Bot­schaft. Inqui­si­ti­on und Zen­sur sind schließ­lich ewi­ge Phä­no­me­ne, wie wir aktu­ell schmerz­voll erfah­ren. Auch bie­tet die Deu­tung eini­ge Wider­ha­ken, stellt immer wie­der neue Fra­gen. Das Gegen­teil von blo­ßer Gesin­nungs- oder Agi­ta­ti­ons­li­te­ra­tur. Sodann mag ich Klas­si­ker der (Natur-)Lyrik, von Brit­ting, Ber­gen­gruen und Leh­mann bis Lang­gäs­ser, Kol­mar, Benn, Huchel, Bor­chert oder von der Vring. Jahnns kaf­ka­es­kes Holz­schiff oder die im Drit­ten Reich geschrie­be­nen Kapi­tel von Kasacks Die Stadt hin­ter dem Strom fas­zi­nie­ren mich als Exem­pel des Magi­schen Rea­lis­mus. Den See­kriegs­ro­man Tsu­shi­ma las ich wie­der­holt mit nie ver­sie­gen­der Span­nung. Sieg­fried von Vege­sacks Bal­ti­sche Tra­gö­die oder Felix Hart­laubs Im Dickicht des Süd­os­tens schät­ze ich sehr, des­glei­chen Erzähl­tex­te von Fal­la­da, Brunn­gra­ber oder Scha­per. Ganz zu schwei­gen von Ernst Jün­gers 1938 neu gefaß­tem Band Das aben­teu­er­li­che Herz, mit Glanz­lich­tern wie “Vio­let­te Endi­vi­en” oder “Der ver­lo­re­ne Posten”.

KUBITSCHEK: Blei­ben wir noch beim Lesepen­sum: Wie­viel Lite­ra­tur sich­te­ten Sie denn? Und ich will gleich fra­gen: Sich­te­ten Sie wis­sen­schaft­lich und mit Genuß – oder fiel die Freu­de der Pflicht zum Opfer?

SCHOLDT: Die jahr­zehn­te­lan­ge Mus­te­rung von Lite­ra­tur in vier­stel­li­ger Zahl gewährt lust­vol­le Lese­er­leb­nis­se nur aus­nahms­wei­se. Zuviel Kon­junk­tur­wa­re, absto­ßend Kli­schee­haf­tes oder – böse for­mu­liert – über­flüs­si­ger Schrott drängt Jahr für Jahr auf den Buch­markt, übri­gens in allen Lite­ra­tur­epo­chen. Inso­fern beschleu­nig­te man­che ener­vie­ren­de Recher­che die Pra­xis, Bücher schnells­tens aus­zu­son­dern, wo ein bestimm­tes Maß an Unzu­träg­li­chem über­schrit­ten war.

Ande­rer­seits bleibt bei gutem Lek­tü­re­be­ginn ein ste­ti­ges Krib­beln im Bauch, ob’s der Ver­fas­ser nicht noch ver­patzt. Und wahr­haft  frus­trie­rend war‘s, wenn man über Hun­der­te von Sei­ten bereits glaub­te, edi­ti­ons­wür­di­ge Geheim­tips ent­deckt zu haben. Und dann folg­ten Pas­sa­gen, in denen doch wie­der ein­schlä­gig dem Zeit­geist geop­fert wur­de. So ging’s mir etwa bei Ger­trud von den Brin­cken, der wohl bedeu­tends­ten deutsch­bal­ti­schen Erzählerin.

Ein wenig sporn­te mich – gera­de im Hin­blick auf heu­te – der Mut der Min­der­heit an, auch unter schwie­rigs­ten Bedin­gun­gen gegen den Sta­chel zu löcken. Hin­zu kam der Erfah­rungs­satz: Auch Dia­man­ten fin­det man nicht sofort in jedem Sand­hü­gel. Und schon bald war ich mir sicher, daß auch in die­ser Epo­che, abseits der Auto­bahn, Bücher­schät­ze zu heben sind, die ande­re links lie­gen ließen.

Eine gute Hun­dert­schaft lesens­wer­ter Tex­te bzw. Autoren, die ich bereits kann­te, bestä­ti­gen mich zusätz­lich. Ich nen­ne stell­ver­tre­tend, ohne Sys­te­ma­tik nur weni­ge Autoren wie Her­mann-Georg Rex­roth, Ilse Mol­zahn, Hans Leip, Mari­an­ne Lan­ge­wie­sche, Kurt Kusen­berg, Wer­ner Hel­wig, August Schol­tis, Peter Bamm, Paul Gurk, Sigis­mund von Rade­cki, Mar­tin Beheim-Schwarz­bach, Emil Belz­ner, Karl Fried­rich Borée, Bru­no Goetz oder den vom Main­stream völ­lig igno­rier­ten hoch­ka­rä­ti­gen Dra­ma­ti­ker Wal­ter Gil­bricht. An sol­cher posi­ti­ven Kanon­bil­dung mit­zu­wir­ken, statt den kul­tur­po­li­tisch erwünsch­ten „Nach­weis“ zu erbrin­gen, daß und war­um es damals nichts Nen­nens­wer­tes gab, schien mir stets die loh­nen­de­re ger­ma­nis­ti­sche Auf­ga­be zu sein.

KUBITSCHEK: Ich den­ke, es steht außer Fra­ge, daß es damals Nen­nens­wer­tes gab, und mehr als das. Es gibt doch die Phra­se, daß in Zei­ten, in denen das Wort den Macht­ha­bern allein schon auf­grund sei­ner frei­en Ver­füg­bar­keit ver­däch­tig ist, der Stil sich zugleich ver­grö­be­re (in den Elo­gen) und zwi­schen den Zei­len ver­fei­ne­re. Ist das so?

SCHOLDT: Für Stil­ver­fei­ne­rung und Schrei­ben zwi­schen den Zei­len gibt es frag­los zahl­rei­che Bei­spie­le, deren Erläu­te­rung Bän­de füll­te: Raf­fi­niert ver­steck­te Kri­tik in Para­beln oder Alle­go­rien, dar­un­ter etwa Dolf Stern­ber­gers Essays Hohe See und Schiff­bruch oder Figu­ren der Fabel, F. G. Jün­gers Schne­cken­mär­chen, Vege­sacks Ras­sis­mus-Spott in Hun­de­schau, Ernst Jün­gers Mar­mor­klip­pen und etli­che Capric­ci­os in Das Aben­teu­er­li­che Herz. Zwei­ter Fas­sung.

Schein­bar unver­fäng­lich liest sich And­res‘ Tro­cken­dock als Frei­heits­plä­doy­er selbst bei töd­li­cher Gefahr. Nebels Auf dem Flie­ger­horst ent­hielt Sys­tem­kri­tik vom Feins­ten. Es fehlt nicht an Warn­ge­dich­ten über The­men wie Atlan­tis, die Sint­flut oder den Magnet­berg. Bücher­be­spre­chun­gen und Klas­si­ker-Zita­te boten Anlaß zur aktu­el­len Lagemusterung.

Ein spek­ta­ku­lä­res Bei­spiel bie­tet Rudolf Pech­els Bei Dr. Lee­te. Der Arti­kel beschäf­tig­te sich mit der ver­häng­nis­vol­len Ten­denz von Uto­pien und schil­dert als Kon­se­quenz mit dras­ti­schen Anspie­lun­gen aufs Drit­te Reich einen tota­li­tä­ren Ver­bre­cher­staat der Gegen­wart. Wo der sich befin­det, ver­rät Pech­el erst im letz­ten Satz, noch dazu ver­zö­gert durch den wohl pro­vo­ka­tivs­ten Gedan­ken­strich jener Epo­che: „1941 – in Sowjetrußland“.

Hin­zu kamen his­to­ri­sche Par­al­le­li­sie­run­gen in Hül­le und Fül­le, von Rein­hold Schnei­ders Las Casas vor Karl V. über Fritz Reck-Mallec­ze­wens Bockel­son und Char­lot­te Corday, Mari­an­ne Lan­ge­wie­sches Köni­gin der Mee­re, Frank Thiess‘ Das Reich der Dämo­nen bis Nor­bert Jac­ques‘ Schil­ler­ro­man Lei­den­schaft, der gar das Ver­schlüs­se­lungs­ver­fah­ren his­to­ri­scher Ver­frem­dung für zeit­ge­nös­si­sche Kri­tik bloß­legt. Das Gen­re des his­to­ri­schen Romans haben die Zen­sur­in­stan­zen nie in den Griff bekom­men, wie etli­che ihrer dro­hen­den Kom­men­ta­re bele­gen. Denn die­sel­ben Geschichts­er­eig­nis­se (Inqui­si­ti­on, Hexen­jagd, Ter­ror der Fran­zö­si­schen wie der Rus­si­schen Revo­lu­ti­on oder Cäsa­ren­wahn in Rom) lie­ßen sich kon­tro­vers adres­sie­ren bzw. als Bekennt­nis­se für oder gegen das Regime auslegen.

KUBITSCHEK: Die­se Mehr­deu­tig­keit war ein Schutz und ist ein Pro­blem. Nach dem Krieg spot­te­ten Ver­äch­ter der Inne­ren Emi­gran­ten, hier hät­ten wohl eini­ge mit so fei­ner Tin­te geschrie­ben, daß ihre Tex­te nur von ihnen selbst als wider­stän­dig zu ent­zif­fern waren. Gab es sol­che nach­träg­li­che Erschlei­chung von Widerstandslorbeer?

SCHOLDT: Auch das. Daher soll­ten For­scher ent­spre­chen­de Ver­diens­te nicht blau­äu­gig beschei­ni­gen. Kon­flikt­be­reit­schaft und wirk­li­cher Mut sind schließ­lich zu allen Zei­ten Aus­nah­me­hal­tun­gen. Und auch für wirk­li­che Geg­ner lief dis­si­den­tes Schrei­ben auf eine Grat­wan­de­rung hin­aus. Eine gewis­se Ambi­va­lenz war schlicht Vor­aus­set­zung dafür, daß ihre Tex­te über­haupt erschei­nen konn­ten. Das hieß aber in pra­xi, daß je sub­ti­ler und anspruchs­vol­ler dies prak­ti­ziert wur­de, umso schwie­ri­ger war es für Leser außer­halb der spe­zi­fi­schen Autor-„Gemeinde“ zu dechiffrieren.

Ande­rer­seits dür­fen wir uns die NS-Kul­tur­len­kungs­or­ga­ne auch nicht durch­weg als plum­pe Ahnungs­lo­se vor­stel­len. Etli­che die­ser raf­fi­niert gefer­tig­ten Bei­trä­ge wur­den von ihnen durch­aus ver­stan­den, was die Reak­tio­nen in Sachen Pech­el, Finck, Wie­chert, Nebel, Stern­ber­ger, Ernst und F.G. Jün­ger plas­tisch bele­gen. Wenn man nicht immer mit aller Kon­se­quenz ein­schritt, lang das einer­seits dar­an, daß man ein Poli­ti­kum ver­mei­den woll­te. Ande­rer­seits war die Kul­tur­sze­ne in Deutsch­land – so para­dox dies man­chem Nach­ge­bo­re­nen schei­nen mag – nie so gänz­lich tota­li­tär wie in allen sozia­lis­ti­schen Staaten.

KUBITSCHEK: Die­se Fra­ge nach den Lücken und Unein­heit­lich­kei­ten im In- und Durch­ein­an­der von Staat, Par­tei, Ideo­lo­gie und Statt­hal­ter­vor­lie­be könn­te aus­ufernd erör­tert wer­den. Ich will zum Schluß aber auf einen ande­ren Aspekt zu spre­chen kom­men: Sehen Sie vor dem Hin­ter­grund einer her­auf­däm­mern­den „Tota­li­tä­ren Demo­kra­tie“, vor der bei­spiels­wei­se Jacob Tal­mon früh warn­te, in der Gegen­warts­li­te­ra­tur auch Anzei­chen eines Schrei­bens zwi­schen den Zeilen?

SCHOLDT: Abso­lut. Seit län­ge­rem schon herr­schen für Autoren jen­seits des Main­streams auch bei uns pre­kä­re Rah­men­be­din­gun­gen. Damit wächst die Nei­gung, sich bestimm­ter Schreib­tech­ni­ken zu bedie­nen, wie sie vor ca. neun Jahr­zehn­ten in Mode kamen: über­zeit­li­che lite­ra­ri­sche Ver­frem­dun­gen, Alle­go­rien sowie modell­haf­te Ver­dich­tun­gen. Das Gan­ze übri­gens kei­nes­wegs zu Las­ten der Qualität.

Ich nen­ne stell­ver­tre­tend Munin oder Cha­os im Kopf von Moni­ka Maron, Anders von Jörg Ber­nig, Uwe Tell­kamps Der Schlaf in den Uhren oder Die letz­te Fahrt und Das Rie­sen­rad von Vol­ker Mohr. Es gibt näm­lich damals wie heu­te neben den hell beleuch­te­ten Tum­mel­plät­zen der Offi­zi­al­kul­tur stets auch die Lite­ra­tur­sze­ne berei­chern­de Geheim­tips bzw. Autoren, die dem ver­blö­den­den Zeit­geist trot­zen und ihren jewei­li­gen Fut­ter­herrn nicht täg­lich Pföt­chen geben. Weil sie das Opfer des Außen­sei­ter­tums nicht scheu­en, ver­die­nen sie unse­re beson­de­re Aufmerksamkeit.

Und wer ihre Lite­ra­tur­ge­schich­te schrie­be, müß­te zunächst ein­mal einen ähn­lich gro­ßen Recher­che­auf­wand trei­ben wie jenen für einen seriö­sen Über­blick über die Bel­le­tris­tik 1933–1945. Schließ­lich wer­den die Unan­ge­paß­ten in unse­ren „Qualitäts“-Feuilletons meist ver­schwie­gen – es sei denn, es läßt sich aus ihren Äuße­run­gen zumin­dest ein Skan­däl­chen destillieren.

KUBITSCHEK: Wer­den Sie sich also nun der Inne­ren Emi­gra­ti­on und des ver­deck­ten Schei­bens in der BRD unse­rer Tage annehmen?

SCHOLDT: Kaum. Nicht, weil mich die Gegen­warts­li­te­ra­tur gene­rell so wenig inter­es­sier­te. Man hat mir ja sogar vor­ge­hal­ten, daß ich sol­che Lek­tü­re gera­de­zu ver­wei­ger­te. Dabei war oder bin ich mit einem knap­pen Dut­zend Autoren per­sön­lich gut bekannt. Zudem bleibt nicht aus, daß man durch Buch­ge­schen­ke und Emp­feh­lun­gen jähr­lich mit etli­chen neu­en Lite­ra­tur­pro­duk­ten kon­fron­tiert wird.

Ich geste­he aller­dings, daß ich mit den meis­ten Tex­ten, sobald sie sich als Main­stream­fa­bri­ka­te erwie­sen, so mei­ne Pro­ble­me hat­te, die in (lei­der viel­fach erhär­te­te) Vor-Urtei­le mün­de­ten. Doch der Haupt­grund liegt schlicht dar­in, daß ich mir einen zwei­ten so umfang­rei­chen For­schungs­schwer­punkt nicht mehr zutraue. Von Zeit zu Zeit ein paar Ein­bli­cke in über­ra­schend Ori­gi­nel­les will ich ger­ne neh­men und dafür wer­ben. Auch freue ich mich über jeden Text, der die Uni­for­mi­tät einer trist gewor­de­nen Kul­tur­sze­ne verläßt.

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Scholdts Buch Schlag­lich­ter auf die “Inne­re Emi­gra­ti­on” ist bei Lepan­to erschie­nen und kann hier bestellt wer­den.

Götz Kubitschek

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Kommentare (14)

brueckenbauer

15. Januar 2023 15:03

Wenn es aber darum geht, sich auf eine neue innere Emigration vorzubereiten: Da finde ich z.B. Bergengruens "Rittmeister" lehrreicher als seinen "Großtyrann". Der "Großtyrann" ist sicher lehrreich für die Technik der Unterdrückung und ihre psychologischen Folgen, gerade auch wie wir sie jetzt schon haben - z.B. wie die Polizei unter politischen Druck gesetzt wird, mit allen Mitteln einen Täter herbeizuschaffen. Aber wie unsere Technik der inneren Abstandsgewinnung und Abstandshaltung funktionert, das beschreibt Bergengruen nuanciert erst nach dem Krieg, vor allem in "Dawson und Mary" sowie im "Karnevalsbild".

Niekisch

15. Januar 2023 17:38

Von dem erwähnten Peter Bamm -eigentlich Curt Emmrich - besitze ich nur das Nachkriegswerk "Die unsichtbare Flagge". Das Buch - ein Erlebnisbericht - schildert seinen Weg als Chirurg im Rußlandfeldzug auch auf dem Gebiet der heutigen Kämpfe in der Ukraine. In einem Zitat fällt Prof. Scholdts Arbeit zur Hitlerkritik mit der Frage der inneren Emigration zusammen: "Mit einem gewissen pathetischen Aplomb hatte der primitive Mann das Oberkommando des Heeres übernommen. Das schien zunächst ein geschickter Zug zu sein. Es machte den Eindruck, als übernähme er persönlich die Verantwortung für das Desaster. Nur hatte er nicht bedacht, daß der Soldat ein kalter Realist ist. Durch diese Maßnahme wurde das Mißtrauen des Soldaten gegen die bisherigen Fachleute in den obersten Kommandostellen geweckt. Nichts konnte schlimmer sein." ( S. 112 )

Das ist schon deutlich und wurde, wie ich aus Zeugenberichten weiß, sogar unter Frontkämpfern und Offizieren geäußert. 

Ein Fremder aus Elea

15. Januar 2023 17:44

"Und er tötet inmitten von Trauer, Hunger und Tod und durch die Tiere des Landes."

"Und die Hure, welche die Macht hat über die Könige auf Erden, reitet das Tier, welches übers Meer kommt, wie ein Löwe brüllt, das Fell eines Leoparden trägt und dessen Füße jenen eines Bären gleichen, und welches sie haßt und ihr Fleisch essen wird, und die große Stadt verbrennen, da sie sitzt, an vielen Wassern, in einer Stunde, wo sich die Könige treffen und die Kaufleute reich werden am Handel ihrer Waren, daß sie, an deren Stirn Babylon geschrieben steht, am Ende in drei Teile zerfalle, nachdem auch eine Flutwelle über sie hinweggegangen ist, und einen siebten Engel sah ich, sein Gesicht wie die leuchtende Sonne, in Wolken gekleidet, mit drei Regenbögen über seinem Haupt und Beinen wie Feuersäulen, stehend mit einem auf dem Land und mit dem anderen im Meer, und als er posaunte, war keine Zeit mehr, und auf einem weißen Pferd aus den Wolken..."

Ja, ich sag ja nur, so im Vergleich zu "Auf den Marmorklippen"...  den Oberförster erkennt natürlich jeder.

Laurenz

15. Januar 2023 18:07

(1)

In diesem Interview geht es nur vordergründig um die Innere Emigration in der Literatur zur Zeit des III. Reichs. Hintergründig geht es vor allem um das eigene Selbstverständnis 2er großer (lebender) Leseprofis in unserem konservativen Milieu. Dieses Selbstverständnis wird auch zum Thema im neuen Video des Kanal Schnellroda "Am Rande der Gesellschaft"  mit EK, GK, EL & Dr. Krah https://youtu.be/mG6uBFWdx1w gemacht. Ich denke, man darf Zweifel an diesem Selbstverständnis haben & auch Kritik üben. Im III. Reich, wie in der DDR, im Trend auch in der heutigen BRD gab es nur subventionierte Kunst. Alles außerhalb der Subvention muß sich finanziell selbst tragen & für Reichweite Leistung bringen. Nur war die Unterhaltung im III. Reich, wie auch in der DDR technisch medial, nur begrenzt vorhanden & ob der Subvention, auch in der BRD, nicht immer auf hohem Niveau, oft grottenschlecht, wie der ÖRR. Früher blieb nur das Lesen. Das galt für uns alle bis zur digitalen Revolution. Für mich persönlich verändert sich das Medium. & es verändert auch Schnellroda. (Ich würde öfters mal einen kleinen Download kaufen, will aber keine neuen Staubfänger in meiner kleinen Klause stehen haben.)

Laurenz

15. Januar 2023 18:10

(2)

EK nutzt das neue Medium als Werbung für das alte, des Lesens & zwar deswegen, weil das Lesen, das Schreiben, die Theoriebildung, überschätzt wird. Man sollte das nicht falsch verstehen, ich will es niemandem (weg)nehmen. Aber eine Lichtgestalt, wie Herr Prof. Scholdt, gepaart mit 2 Grazien, EK & Frau Dagen, reicht vielen, zumindest mir, als Unterhaltung, als Format, siehe hier. https://youtu.be/UIky93JvJ0c Normalerweise müßte ich für diesen Konsum bezahlen.

Hatte die große Ehre, Herrn Prof. Scholdt persönlich im Burghof Franz Bettingers kennenlernen zu dürfen. Wir sind aber durch die äußere Emigration Franz Bettingers seines größten Talents, der Veranstaltung, nun beraubt worden. So mangelhaft historische Sichtweisen Herrn Dr. Krahs auch sein mögen, so überragend sind Seine Einschätzungen der Gegenwart zum Lesen & der Theoriebildung. Die Wirkung eines Herrn Prof. Scholdt im Dialog ist frappant. Wir sollten vielleicht viel mehr intuitive Gespräche zukünftig aufzeichnen, als Bücher schreiben. Weiß ich aber nicht abschließend.

ede

15. Januar 2023 23:44

@Laurenz: gab es im 3. tatsächlich nur subventionierte Kunst? Ab Kriegsbeginn bzw. Papierzuteilung sicherlich. Mein Eindruck ist, es gab sehr wohl eine "Szene".

Man darf auch nicht vergessen, dass das 3. gerade mal 5 Jahre nicht im Kriegszustand war. Die DDR, mit Zonenvorlauf, gab es immhin 44 Jahre.

RMH

16. Januar 2023 05:47

1. Prof. Scholdt gebührt Dank und Anerkennung dafür, dass er den Schriftstellern der inneren Emigration noch einmal ein zusammenfassendes Werk gibt - denn neben all den mittlerweile mehr oder weniger etablierten "verschollenen" oder "verlorenen" Generationen erscheinen die Autoren, denen sich Scholdt widmet, seit einiger Zeit dem Vergessen anheim gegeben worden zu sein (dieses Schicksal haben aber auch andere Künstlergenerationen, da eben die die Literatur generell von der großen Bühne der gesellschaftlichen Relevanz abtritt - darin liegt mehr "Zensur", als bei jeder echten Zensur. Beseitige das Interesse an etwas, leite die Interessen auf anderes und dieses erste etwas kann noch so treffend sein, es ist ohne Belang, ohne Durchschlag).

RMH

16. Januar 2023 05:52

2. Schwer tue ich mich persönlich immer mit den Vergleichen gestern - heute. Die NS Zeit dauerte nur 12 Jahre, fast 6 Jahre davon waren Krieg und in den letzten Jahren fehlte zumeist dann auch noch schlicht das Papier, um größere Veröffentlichungen machen zu können. Zudem war die Zensur, die u.a. auch nach E. Jünger den Stil angeblich verfeinert haben soll, doch zu Beginn recht grob gestrickt. Das erste grobe Sieb war nicht der Inhalt, sondern die vermeintliche "Rasse", wenn man Jude war, war es egal, was man schrieb, es war schlicht recht schnell Schluss. Vor Weihnachten wurde zurecht noch einmal an Klepper erinnert, der für mich klar zur widerständigen Literatur zählt.

Wiedervorlage (13): Klepper, 11. Dezember 1942 (sezession.de)

Welch ein Schicksal! Er wollte sich nicht von seiner jüdischen Familie trennen und wählte die Selbsttötung als Ausweg. In seiner derart agressiv-kämpferischen, extinktorischen Ausrichtung war der deutsche NS dann doch etwas Besonderes. Ein jüdischer Autor hätte noch so sehr an seinem Stil feilen können oder aber sogar Lobhudeleien auf das Regime verfassen können (wer weiß, evtl. waren ja einige anfangs auch als Ghostwriter tätig - Bühnen- und Drehbuchautoren unter Pseudonym sind m.W.n. belegt), er war schlicht draußen und war gut beraten, soweit es ihm möglich war, das Land zu verlassen. Diese Fakten kann man am Ende jeder Debatte dann doch nicht einfach ausblenden.

RMH

16. Januar 2023 06:05

3. Die heutige Zeit ist m. M. anders. Noch kann man in vielfach Klartext reden und schreiben und auch ein Tellkamp schreibt doch Klartext (Mich würde einmal die Meinung von Tellkamp selber interessieren, ob er sich bereits mit der "inneren Emigration" vergleichen würde). Klartext in irgendwelche Pappdeckel gepresst interessiert nur keinen mehr groß - der dafür erforderliche Kahlschlag kam auch nicht über Nacht. Die letzten 30 Jahre taten ihre Wirkung. Sobald Klartext zwischen 2 Deckeln aber aus irgendeinem Grund größere Beachtung über einen kleineren Kreis hinaus zukommt (Internet-Hype oder was auch immer), dann erkennt man schon eine Dünnhäutigkeit und zunehmende Zensur oder den Ruf nach "canceln". Aber wenn Liberalismus der Feind der Rechten ist (siehe anderer Strang und viele mehr), dann fallen mir jetzt keine schlagenden Argumente ein, wie man dagegen halten sollte. Das ist eben das Ergebnis, wenn man Freiheitsrechte (liberale Kerne) in das Belieben der Macht stellt, dann braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn andere, die gerade die Macht haben, gerne von ihrer Machtfülle Gebrauch machen und nach ihrem Gusto den Daumen heben oder senken. Also verfeinern wie eben mal wieder den Stil ... (wird nicht viel helfen, da heute die Überwachungsverdichtung so groß u. technisiert ist, dass man die schwarzen Schafe dennoch herausfiltern wird).

Auf Sehrohrtiefe

16. Januar 2023 09:09

Als jemand, der für seine Doktorarbeit und nachfolgende Forschung Jahre in Archiven verbracht hat, vermag ich die Arbeitsleistung von Prof. Scholdt einzuschätzen. Ihm gebührt tiefer Respekt und Dank. Ich bin literaturhistorisch nicht ganz unbedarft, doch tut sich hier für mich größtenteils eine neue Welt auf. Selbstverständlich werde ich sein Buch lesen, und ein Dutzend der genannten Werke werden es auf meine Leseliste für dieses Jahr schaffen. Dank gebührt natürlich auch Kubitschek für das stets bedeutsame Aufspüren und Hervorheben solcher Themen.

Wichtiger noch als das nun publizierte Werk finde ich das angesammelte Archiv des Prof. Scholdt, und ich kann nur hoffen, daß dieses eines Tages in gute Hände gelangt. Mir sind einige Privatpersonen bekannt, meist Lehrer, Beamte o.ä., die in ehrenvoller Kleinarbeit, heimlich, still und leise, heute "unerwünschte" Literatur (und allgemeiner Kulturobjekte) ansammeln und bewahren, um sie eines Tages der Nachwelt zugänglich zu machen. Wenig hiervon ist miteinander verbunden und vernetzt, aus guten Gründen, wenngleich es neue Technologien gibt, die diese Vernetzung in absehbarer Zeit vereinfachen werden. Das Archiv des Prof. Scholdt ist noch einmal eine andere Größenordnung und sollte ein Fundus für weitere Forschungen bleiben können.

Laurenz

16. Januar 2023 09:24

@RMH

Wenn Sie Sich schon über die künstlerische Situation und das Judentum im III. Reich relativ genau auslassen, es auch noch spezifizieren, wäre das bekannte Zitat Hermann Görings angebracht gewesen. Wer hier Jude ist, bestimme ich. Es gab bis zum Ende des Krieges einige Juden, die in der Wehrmacht dienten. Weggelassen werden bei diesem Thema meist die ambivalenten Beziehungen der Nationalsozialisten zu den Zionisten bis 1939. Und natürlich hört die Kultur, wie die Politik nicht am 08.05.1945 auf. Was unsere jüdischen Freunde in Deutschland angeht, so leben wir seit 1945 bis heute in einem diametral gespiegelten III. Reich.

@Ede @Laurenz 

gab es im 3. tatsächlich nur subventionierte Kunst? Ab Kriegsbeginn bzw. Papierzuteilung sicherlich. Mein Eindruck ist, es gab sehr wohl eine "Szene".

Ja klar. Auch ein Ernst Röhm besuchte einschlägige Schwulenkneipen in Berlin, in denen nicht subventionierte Unterhaltung angeboten wurde.

Man darf auch nicht vergessen, dass das III. gerade mal 5 Jahre nicht im Kriegszustand war. Die DDR, mit Zonenvorlauf, gab es immerhin 44 Jahre.

Mathe ist zwar auch nicht meins. Aber vielleicht rechnen Sie nochmal nach. Muß man aber auch nicht so eng sehen.

MARCEL

16. Januar 2023 09:25

Eine Lanze für Ernst Glaeser (1902-1963)!

Erst bewundert, dann verachtet - von links bis rechts, von Weimar bis zur BRD, von der Weltbühne bis zur Luftwaffen-Zeitschrift "Der Adler im Süden". Eine schillernde Figur, der die Welt vornehmlich mit den Augen Jugendlicher gesehen hat und dies mit Stil erzählen konnte. Man ekelte sich vor ihm, ein verlorener Sohn, der nirgendwo ankam und sich doch mit Deutschland und den Deutschen verbunden wusste.

Franz Bettinger

16. Januar 2023 09:28

Lieber Günter, immer wieder finde ich Gelegenheit, in deinem letzten Buch zu stöbern und recht interessante Dinge daraus zu erfahren. Ich benutze es als Nachschlage-werk und sehe daneben, dass es mich zu weiteren Trips in die Welt der Literatur und auch des Films anregt. Ich will Dir hier ganz offiziell einmal Dankeschön sagen. Ich bin ziemlich sicher: Wir sehen uns wieder. 

t.gygax

16. Januar 2023 14:04

"Der Großtyrann und das Gericht " ist kein systemkritisches Buch, sondern in der Grundaussage herrschaftsstabilisierend. Im letzten Kapitel werden die berechtigten Vorwürfe des Priesters Don Luca, der einmal in seinem Leben etwas riskiert, gegen den Großtyrann ausgesprochen, aber was folgt dann ? Der Großtyrann bittet für seine Anmaßung und Hybris , die ja eine Menge  zerstört hat, "um Vergebung", die ihm sofort dann von den Untertanen gewährt wird.

Alles bleibt beim Alten,  er herrscht weiter, und damit bleibt auch sein System der absoluten Machtausübung erhalten. Das Volk wehrte sich kurz...und unterwarf sich sofort wieder dem Willen  des Herrschers, dessen hochmütige Abschiedsworte deutlich eines zeigen: er ist der Herr, er befiehlt.

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