Nicht das Sachbuch, sondern Prosa und Gedicht sind der Ort, an dem Präzision durch Unschärfe hergestellt und vorgelegt wird. Das erfordert eine Lesefähigkeit und inneren Resonanzraum. Je weiter die geistige Konformität durch das Zusammenspiel von Lesefaulheit, mangelhafter Bildung und Stromlinienzufriedenheit fortschreitet, desto kleiner wird der Kreis derer, die den Text hinter dem Text noch verstehen.
Ein Teil der Literatur, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland von nicht emigrierten Autoren verfaßt wurde, hat es zu einer eigenen Epochenbezeichnung gebracht. Über diese “Innere Emigration”, deren Spielarten heute nicht genauso, aber abgewandelt in der Erprobungsphase sind, habe ich mit Professor Günter Scholdt gesprochen. Er ist einer der besten Kenner dieser kurzen literarischen Periode, deren Autoren noch wissen konnten, daß sie für kluge Leser schrieben. Es war ein Wechselspiel.
Scholdt und ich halten die Beschäftigung mit solchen Erscheinungsformen literarischer Konspiration zwischen Autor und Leser für eine der notwendigen geistigen Zurüstungen in unserer Zeit. Scholdts Buch Schlaglichter auf die “Innere Emigration” ist bei Lepanto erschienen und kann hier bestellt werden.
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KUBITSCHEK: Herr Professor Scholdt, Sie werfen in Ihrem Buch grelle und erhellende Schlaglichter auf die „Innere Emigration“, schreiben also – so der Untertitel – über „Nichtnationalsozialistische Belletristik in Deutschland 1933–1945“. Bevor ich tief einsteigen und Bezüge zu unserer Lage heute herstellen werde, möchte ich nach dem Entstehungsprozeß und dem Arbeitszeitraum fragen, denn das Lesepensum, das Sie absolvierten, ist immens. Als studierter Germanist und fleißiger Leser gerade auch dieser Epoche muß ich dennoch gestehen: Ich las vielleicht ein Drittel der Bücher und habe von drei Vierteln gehört. Aber es ist mir völlig Unbekanntes darunter.
SCHOLDT: Das ist völlig normal. Literaturgeschichte vollzieht sich in einem unauslotbaren Bücherozean. Selbst Vielleser machen daher, mehr oder weniger ausgeprägt, ständig Defizit-Erfahrungen. Immerhin sind Sie mit dem beschriebenen Lesequantum für diese Epoche gewiß besser informiert als ein durchschnittlicher Germanistikdozent. Wenn ich noch etwas mehr weiß, liegt dies vor allem daran, daß die Innere Emigration schon seit Beginn der 1990er zu einem meiner Forschungsschwerpunkte zählt. Und worüber man publiziert, urteilt und sich so harsch von Mainstream-Positionen absetzt, sollte man im Kern Bescheid wissen.
KUBITSCHEK: Wie entstand Ihr Buch ud woher rührt Ihre so ausdauernde Beschäftigung mit dieser Epoche?
SCHOLDT: 1993 erschien meine Habilschrift über das Hitler-Bild deutschsprachiger Schriftsteller 1919–1945. Ich habe 13 Jahre an ihr gearbeitet und Hunderte von Autoren nach entsprechenden Äußerungen durchforstet. Das Werk stellt vornehmlich historische Fragen. Aber natürlich las ich dabei auch vieles, was literarisch von Interesse ist. Nach Abschluß des 1000-Seiten-Buchs empfand ich den Mangel, daß angesichts der politisch-zeitgeschichtlichen Akzentsetzung von Belletristik nur randlich gesprochen werden konnte. Ich plante also einen Ergänzungsband, der schon bald in das Projekt einer Literaturgeschichte der Inneren Emigration mündete, die ich im „Ruhestand“ angehen wollte. Die Recherche dafür lief (neben anderen Tagesaufgaben) also ständig weiter, wobei sich das Forschungsinteresse an der innerdeutschen Literatur jener Zeit mit zwei weiteren Schwerpunkten verband: „Literarische Wertung“ und „Regionalliteratur“.
Inzwischen war (neben systematischen antiquarischen Bücherkäufen) der Bestand an kopiertem Textmaterial auf ca. 100 Aktenordner angewachsen, eine 18-seitige Gliederung stand, und als Emeritierter hätte ich nun mit der Arbeit beginnen können. Doch die hautnahen Erfahrungen mit unserer Denunzianten-Republik und real existierenden (Post-)Demokratie inklusive ihrer freiheitlich-rechtsstaatlichen Verwerfungen nötigten mich zunächst zu einem halben Dutzend tagespolitischer Bücher.
Danach mehrten sich Zweifel, ob sich ein Verlag eine Literaturgeschichte im geplanten Umfang überhaupt leisten könne. Denn (öffentliche Subventionen abgreifende) Mainstream-Verlage kamen seit meinem alternativen Engagement natürlich nicht mehr in Frage. Schließlich hatte ich die ganzen Sammel-Anstrengungen ja auch nicht unternommen, um gängige kulturpolitische Simplifikationen zu bestätigen. Was blieb, war ein kleiner Ausschnitt aus dem geplanten „ultimativen“ Literaturpanorama, waren „Schlaglichter“, die zumindest eine Ahnung davon vermitteln mögen, welches Forschungsfeld hier systematisch vergessen bzw. kleingeredet wurde.
KUBITSCHEK: Lassen Sie uns kurz das Feld abstecken. Was ist unter „nichtnationalsozialistischer Belletristik“ zu verstehen, die im 3. Reich erschien und einer „Inneren Emigration“ zugerechnet wird? Meines Wissens nach mußte einem Werk widerständiges Potential innewohnen, damit wir es heute dieser literarischen Richtung zuschreiben dürfen. Außerdem mußte dieses Potential sozusagen verborgen zutage liegen, damit der wache Leser es entdecken und als wahrscheinliche Lesart deuten konnte. Und dies beides führt zu einem Problem: dem nämlich, daß jene auch von der Germanistik angestrebte Klarheit recht vernebelt ist und mit Zuordnungen Politik betrieben werden kann.
SCHOLDT: Politik spielt immer hinein, besonders bei der Abwertung des Begriffs „Innere Emigration“, der bald nur noch als (kalligraphische) Zeitflucht oder Verzicht auf Widerstand gedeutet wurde. Natürlich kann er wie jede literaturwissenschaftliche Kategorisierung, Epochen- oder Stilbezeichnung – es geht ja um komplexe Werke und Menschen – nicht chemisch rein definiert werden. Er bleibt dennoch sinnvoll, da er trotz gelegentlicher Unschärfe historisch gewachsen und zudem anschaulich ist.
Wenn jemand einer Diktatur wegen sein Vaterland nicht verlassen möchte, bleibt immerhin noch die (sich der Anpassung verweigernde) „Emigration nach innen“, als Rückzug auf einen eng begrenzten geistigen Raum Gleichgesinnter, der von totalitären Einflüssen nicht zerstört wird: private Zirkel, Nischen-Verlage, eine verdeckt oppositionelle Szene oder gänzliche Abkapslung. Konkret realisiert sich diese Existenz- und Schreibform auf einer Verhaltensskala. Sie reicht vom gänzlichen Verstummen über das Meiden heikler Themen bis zur verschlüsselten oder gar halboffenen Manifestation von Widerstand.
KUBITSCHEK: Ich will an dieser Stelle präzisierend nachfragen. Macht der eine Text aus einem Autor bereits einen Angehörigen der Inneren Emigration oder sollte man strenger sein und die Lebensführung des Autors zwischen Anpassung und Nichtbeteiligung in die Zuordnung einfließen lassen?
SCHOLDT: Man kann die innerdeutsche Literatur jener Jahre aus zwei Perspektiven mustern: die der Personen – dann zählt vor allem Mut und Konsequenz – und die der Texte, die ja manchmal klüger und tapferer erscheinen als ihre Verfasser. Meine Sympathie gilt (nicht zuletzt aus aktueller Warte) zwar jeder damaligen trotzig-nonkonformistischen Geste, der ehrend zu gedenken ist. Aber angesichts der heutigen Tendenz moralistischer Unterhosenschnüffelei vom sicheren Schreibtisch her schien es mir zunehmend fruchtbarer, Texte ins Zentrum der Betrachtung zu stellen. Wo vornehmlich Personen beurteilt werden, bestätigt sich ja meist nur, daß Menschen unter Druck eben mehrheitlich Schwäche zeigen oder Kompromisse eingehen.
KUBITSCHEK: Zu den Texten also – Fragebogenstil: Welche der Texte, die Sie lasen, sind die wohl wesentlichen des von Ihnen umrissenen Epochenphänomens?
SCHOLDT: Um den Begriff „Innere Emigration“ mit Leben zu füllen, taugen folgende Werke besonders: Unter den heute noch leicht zugänglichen etwa Bergengruens Der Großtyrann und das Gericht, Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen, Wiecherts Das einfache Leben, Gerhart Hauptmanns Iphigenie in Aulis, Meisternovellen von Stefan Andres sowie Horst Langes Erzählband Die Leuchtkugeln. Dazu gehören weithin vergessene Namen wie Reinhold Schneider und Friedrich Georg Jünger mit etlichen Widerstandsgedichten (Der Mohn, Gebet, Abschiedslied, Schneckenmärchen, Neuere Denker, Der Assassine), die diese Bezeichnung zu Recht tragen. Ricarda Huchs populäre Geschichtsbände (z.B. Römisches Reich Deutscher Nation) bieten phasenweise praktisch Klartext. Auf der anderen Seite der Begriffsskala darf man aber auch das leichte Genre nicht ganz unterschlagen: Eugen Roth (Ein Mensch, Der Wunderdoktor), Hans Hömberg (Kirschen für Rom), Erich Kästner (Drei Männer im Schnee) oder Heinrich Spoerl mit Der Maulkorb oder Man kann ruhig darüber sprechen, einem Feuilletonband mit satirischen Nadelstichen. In knappster Form umreißen die Schreib- und Existenzform „Innere Emigration“ Loerkes Der Wald der Welt oder Benns Weinhaus Wolf.
KUBITSCHEK: Sind das dann auch Ihre persönlichen Favoriten?
SCHOLDT: Die meisten schon. Auf meiner Hitparade ganz oben steht Andres‘ El Greco malt den Großinquisitor, den ich seit Jugendtagen wohl ein Dutzend Mal gelesen habe, nicht zuletzt wegen seiner überzeitlichen Botschaft. Inquisition und Zensur sind schließlich ewige Phänomene, wie wir aktuell schmerzvoll erfahren. Auch bietet die Deutung einige Widerhaken, stellt immer wieder neue Fragen. Das Gegenteil von bloßer Gesinnungs- oder Agitationsliteratur. Sodann mag ich Klassiker der (Natur-)Lyrik, von Britting, Bergengruen und Lehmann bis Langgässer, Kolmar, Benn, Huchel, Borchert oder von der Vring. Jahnns kafkaeskes Holzschiff oder die im Dritten Reich geschriebenen Kapitel von Kasacks Die Stadt hinter dem Strom faszinieren mich als Exempel des Magischen Realismus. Den Seekriegsroman Tsushima las ich wiederholt mit nie versiegender Spannung. Siegfried von Vegesacks Baltische Tragödie oder Felix Hartlaubs Im Dickicht des Südostens schätze ich sehr, desgleichen Erzähltexte von Fallada, Brunngraber oder Schaper. Ganz zu schweigen von Ernst Jüngers 1938 neu gefaßtem Band Das abenteuerliche Herz, mit Glanzlichtern wie “Violette Endivien” oder “Der verlorene Posten”.
KUBITSCHEK: Bleiben wir noch beim Lesepensum: Wieviel Literatur sichteten Sie denn? Und ich will gleich fragen: Sichteten Sie wissenschaftlich und mit Genuß – oder fiel die Freude der Pflicht zum Opfer?
SCHOLDT: Die jahrzehntelange Musterung von Literatur in vierstelliger Zahl gewährt lustvolle Leseerlebnisse nur ausnahmsweise. Zuviel Konjunkturware, abstoßend Klischeehaftes oder – böse formuliert – überflüssiger Schrott drängt Jahr für Jahr auf den Buchmarkt, übrigens in allen Literaturepochen. Insofern beschleunigte manche enervierende Recherche die Praxis, Bücher schnellstens auszusondern, wo ein bestimmtes Maß an Unzuträglichem überschritten war.
Andererseits bleibt bei gutem Lektürebeginn ein stetiges Kribbeln im Bauch, ob’s der Verfasser nicht noch verpatzt. Und wahrhaft frustrierend war‘s, wenn man über Hunderte von Seiten bereits glaubte, editionswürdige Geheimtips entdeckt zu haben. Und dann folgten Passagen, in denen doch wieder einschlägig dem Zeitgeist geopfert wurde. So ging’s mir etwa bei Gertrud von den Brincken, der wohl bedeutendsten deutschbaltischen Erzählerin.
Ein wenig spornte mich – gerade im Hinblick auf heute – der Mut der Minderheit an, auch unter schwierigsten Bedingungen gegen den Stachel zu löcken. Hinzu kam der Erfahrungssatz: Auch Diamanten findet man nicht sofort in jedem Sandhügel. Und schon bald war ich mir sicher, daß auch in dieser Epoche, abseits der Autobahn, Bücherschätze zu heben sind, die andere links liegen ließen.
Eine gute Hundertschaft lesenswerter Texte bzw. Autoren, die ich bereits kannte, bestätigen mich zusätzlich. Ich nenne stellvertretend, ohne Systematik nur wenige Autoren wie Hermann-Georg Rexroth, Ilse Molzahn, Hans Leip, Marianne Langewiesche, Kurt Kusenberg, Werner Helwig, August Scholtis, Peter Bamm, Paul Gurk, Sigismund von Radecki, Martin Beheim-Schwarzbach, Emil Belzner, Karl Friedrich Borée, Bruno Goetz oder den vom Mainstream völlig ignorierten hochkarätigen Dramatiker Walter Gilbricht. An solcher positiven Kanonbildung mitzuwirken, statt den kulturpolitisch erwünschten „Nachweis“ zu erbringen, daß und warum es damals nichts Nennenswertes gab, schien mir stets die lohnendere germanistische Aufgabe zu sein.
KUBITSCHEK: Ich denke, es steht außer Frage, daß es damals Nennenswertes gab, und mehr als das. Es gibt doch die Phrase, daß in Zeiten, in denen das Wort den Machthabern allein schon aufgrund seiner freien Verfügbarkeit verdächtig ist, der Stil sich zugleich vergröbere (in den Elogen) und zwischen den Zeilen verfeinere. Ist das so?
SCHOLDT: Für Stilverfeinerung und Schreiben zwischen den Zeilen gibt es fraglos zahlreiche Beispiele, deren Erläuterung Bände füllte: Raffiniert versteckte Kritik in Parabeln oder Allegorien, darunter etwa Dolf Sternbergers Essays Hohe See und Schiffbruch oder Figuren der Fabel, F. G. Jüngers Schneckenmärchen, Vegesacks Rassismus-Spott in Hundeschau, Ernst Jüngers Marmorklippen und etliche Capriccios in Das Abenteuerliche Herz. Zweiter Fassung.
Scheinbar unverfänglich liest sich Andres‘ Trockendock als Freiheitsplädoyer selbst bei tödlicher Gefahr. Nebels Auf dem Fliegerhorst enthielt Systemkritik vom Feinsten. Es fehlt nicht an Warngedichten über Themen wie Atlantis, die Sintflut oder den Magnetberg. Bücherbesprechungen und Klassiker-Zitate boten Anlaß zur aktuellen Lagemusterung.
Ein spektakuläres Beispiel bietet Rudolf Pechels Bei Dr. Leete. Der Artikel beschäftigte sich mit der verhängnisvollen Tendenz von Utopien und schildert als Konsequenz mit drastischen Anspielungen aufs Dritte Reich einen totalitären Verbrecherstaat der Gegenwart. Wo der sich befindet, verrät Pechel erst im letzten Satz, noch dazu verzögert durch den wohl provokativsten Gedankenstrich jener Epoche: „1941 – in Sowjetrußland“.
Hinzu kamen historische Parallelisierungen in Hülle und Fülle, von Reinhold Schneiders Las Casas vor Karl V. über Fritz Reck-Malleczewens Bockelson und Charlotte Corday, Marianne Langewiesches Königin der Meere, Frank Thiess‘ Das Reich der Dämonen bis Norbert Jacques‘ Schillerroman Leidenschaft, der gar das Verschlüsselungsverfahren historischer Verfremdung für zeitgenössische Kritik bloßlegt. Das Genre des historischen Romans haben die Zensurinstanzen nie in den Griff bekommen, wie etliche ihrer drohenden Kommentare belegen. Denn dieselben Geschichtsereignisse (Inquisition, Hexenjagd, Terror der Französischen wie der Russischen Revolution oder Cäsarenwahn in Rom) ließen sich kontrovers adressieren bzw. als Bekenntnisse für oder gegen das Regime auslegen.
KUBITSCHEK: Diese Mehrdeutigkeit war ein Schutz und ist ein Problem. Nach dem Krieg spotteten Verächter der Inneren Emigranten, hier hätten wohl einige mit so feiner Tinte geschrieben, daß ihre Texte nur von ihnen selbst als widerständig zu entziffern waren. Gab es solche nachträgliche Erschleichung von Widerstandslorbeer?
SCHOLDT: Auch das. Daher sollten Forscher entsprechende Verdienste nicht blauäugig bescheinigen. Konfliktbereitschaft und wirklicher Mut sind schließlich zu allen Zeiten Ausnahmehaltungen. Und auch für wirkliche Gegner lief dissidentes Schreiben auf eine Gratwanderung hinaus. Eine gewisse Ambivalenz war schlicht Voraussetzung dafür, daß ihre Texte überhaupt erscheinen konnten. Das hieß aber in praxi, daß je subtiler und anspruchsvoller dies praktiziert wurde, umso schwieriger war es für Leser außerhalb der spezifischen Autor-„Gemeinde“ zu dechiffrieren.
Andererseits dürfen wir uns die NS-Kulturlenkungsorgane auch nicht durchweg als plumpe Ahnungslose vorstellen. Etliche dieser raffiniert gefertigten Beiträge wurden von ihnen durchaus verstanden, was die Reaktionen in Sachen Pechel, Finck, Wiechert, Nebel, Sternberger, Ernst und F.G. Jünger plastisch belegen. Wenn man nicht immer mit aller Konsequenz einschritt, lang das einerseits daran, daß man ein Politikum vermeiden wollte. Andererseits war die Kulturszene in Deutschland – so paradox dies manchem Nachgeborenen scheinen mag – nie so gänzlich totalitär wie in allen sozialistischen Staaten.
KUBITSCHEK: Diese Frage nach den Lücken und Uneinheitlichkeiten im In- und Durcheinander von Staat, Partei, Ideologie und Statthaltervorliebe könnte ausufernd erörtert werden. Ich will zum Schluß aber auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen: Sehen Sie vor dem Hintergrund einer heraufdämmernden „Totalitären Demokratie“, vor der beispielsweise Jacob Talmon früh warnte, in der Gegenwartsliteratur auch Anzeichen eines Schreibens zwischen den Zeilen?
SCHOLDT: Absolut. Seit längerem schon herrschen für Autoren jenseits des Mainstreams auch bei uns prekäre Rahmenbedingungen. Damit wächst die Neigung, sich bestimmter Schreibtechniken zu bedienen, wie sie vor ca. neun Jahrzehnten in Mode kamen: überzeitliche literarische Verfremdungen, Allegorien sowie modellhafte Verdichtungen. Das Ganze übrigens keineswegs zu Lasten der Qualität.
Ich nenne stellvertretend Munin oder Chaos im Kopf von Monika Maron, Anders von Jörg Bernig, Uwe Tellkamps Der Schlaf in den Uhren oder Die letzte Fahrt und Das Riesenrad von Volker Mohr. Es gibt nämlich damals wie heute neben den hell beleuchteten Tummelplätzen der Offizialkultur stets auch die Literaturszene bereichernde Geheimtips bzw. Autoren, die dem verblödenden Zeitgeist trotzen und ihren jeweiligen Futterherrn nicht täglich Pfötchen geben. Weil sie das Opfer des Außenseitertums nicht scheuen, verdienen sie unsere besondere Aufmerksamkeit.
Und wer ihre Literaturgeschichte schriebe, müßte zunächst einmal einen ähnlich großen Rechercheaufwand treiben wie jenen für einen seriösen Überblick über die Belletristik 1933–1945. Schließlich werden die Unangepaßten in unseren „Qualitäts“-Feuilletons meist verschwiegen – es sei denn, es läßt sich aus ihren Äußerungen zumindest ein Skandälchen destillieren.
KUBITSCHEK: Werden Sie sich also nun der Inneren Emigration und des verdeckten Scheibens in der BRD unserer Tage annehmen?
SCHOLDT: Kaum. Nicht, weil mich die Gegenwartsliteratur generell so wenig interessierte. Man hat mir ja sogar vorgehalten, daß ich solche Lektüre geradezu verweigerte. Dabei war oder bin ich mit einem knappen Dutzend Autoren persönlich gut bekannt. Zudem bleibt nicht aus, daß man durch Buchgeschenke und Empfehlungen jährlich mit etlichen neuen Literaturprodukten konfrontiert wird.
Ich gestehe allerdings, daß ich mit den meisten Texten, sobald sie sich als Mainstreamfabrikate erwiesen, so meine Probleme hatte, die in (leider vielfach erhärtete) Vor-Urteile mündeten. Doch der Hauptgrund liegt schlicht darin, daß ich mir einen zweiten so umfangreichen Forschungsschwerpunkt nicht mehr zutraue. Von Zeit zu Zeit ein paar Einblicke in überraschend Originelles will ich gerne nehmen und dafür werben. Auch freue ich mich über jeden Text, der die Uniformität einer trist gewordenen Kulturszene verläßt.
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Scholdts Buch Schlaglichter auf die “Innere Emigration” ist bei Lepanto erschienen und kann hier bestellt werden.
brueckenbauer
Wenn es aber darum geht, sich auf eine neue innere Emigration vorzubereiten: Da finde ich z.B. Bergengruens "Rittmeister" lehrreicher als seinen "Großtyrann". Der "Großtyrann" ist sicher lehrreich für die Technik der Unterdrückung und ihre psychologischen Folgen, gerade auch wie wir sie jetzt schon haben - z.B. wie die Polizei unter politischen Druck gesetzt wird, mit allen Mitteln einen Täter herbeizuschaffen. Aber wie unsere Technik der inneren Abstandsgewinnung und Abstandshaltung funktionert, das beschreibt Bergengruen nuanciert erst nach dem Krieg, vor allem in "Dawson und Mary" sowie im "Karnevalsbild".